Neue Forensik mit KI: Wie Bakterien Verbrecher überführen können

Quelle: RedaktionsNetzwerkDeutschland,
4. Dezember 2024

Von Lucie Wittenberg

Die DNA-Analyse hat die Kriminalarbeit revolutioniert. Eine andere Art von Fingerabdruck könnte die Jagd nach Verbrechern künftig noch beschleunigen: Das Mikrobiom. Denn jeder Mensch auf der Welt hat sein ganz eigenes Bakterienmuster. Ein Gespräch über neue Arten der Forensik.

Egal, wie sehr wir putzen oder desinfizieren: Bakterien und Viren besiedeln jeden Menschen und jedes Lebewesen. Das sogenannte Mikrobiom, also die Gesamtheit aller Mikroorganismen, ist so individuell wie ein Fingerabdruck. Das ist besonders für die Ermittlungsarbeit interessant.

Ein Forschungsteam an der schwedischen Universität Lund hat sich diese Einzigartigkeit zunutze gemacht und ein neues System zur Strafverfolgung entwickelt. Mit dem „Microbiome Geographic Population Structure“ (mGPS) können mikrobiologische Proben genau zugeordnet werden. Das funktioniert auch mit der Hilfe einer KI, die eine Probe mit hoher Genauigkeit zuordnen kann. Was die Forschungsarbeit für die Polizeiarbeit und die Forensik bedeutet, erklärt Mark Benecke. Er ist Sachverständiger für biologische Spuren und Forensiker.

Herr Benecke, was ist ein Mikrobiom eigentlich?

Mikrobiome sind die auf alle möglichen Umgebungen fein angepassten Lebensgruppen von zumeist Bakterien. Es gibt sie überall, auch auf und in Menschen. Wir bestehen sogar aus mehr Bakterien- als Menschenzellen. Aber natürlich leben sie auch in der Erde, im Wasser, als Schmierfilme auf Oberflächen aller Art und auch sonst überall.

Die Universität Lund hat ein neues KI-gestütztes Mikrobiom-Werkzeug für Polizei und Forensik entwickelt. Was steckt dahinter?

Die Zusammensetzung von superkleinen Gemeinschaften von Lebewesen, dem Mikrobiom, verrät — wenn zuvor eine Datenbank dafür aufgebaut wurde — wo sie herkommen. Es gibt ultraviele Bakterien und noch mehr Zusammensetzungen. Das kann kein Mensch und auch kein normaler Rechenweg mehr zuordnen und zusammenführen. So kam die Künstliche Intelligenz zum Zuge. Mit ihr lässt sich aus der Zusammensetzung eines „Bakterienhaufens“ bestimmen, wo er lebte und herkam.

Wie können Mikrobiome bei Ermittlungen helfen?

Sie enthalten besonders vielfältige und darum aussagekräftige Informationen. Beispiel: Wenn ich das Blatt einer Erle in einem Sack mit einer Leiche finde, nützt das nicht so viel, denn es gibt viele Erlen. Habe ich aber Blätter von zehn verschiedenen Bäumen im Sack mit der Leiche, dann gibt es vielleicht nur noch wenige Orte, wo diese Bäume gemeinsam leben. Dort kann ich dann nach Spuren der Tötung oder des Verpackens der Leiche schauen.

Das Werkzeug soll es möglich machen, den Weg eines Verdächtigen (nach-)verfolgen zu können. Wie soll das gehen?

Die verschiedenen „Bakterien-Knubbel“ bleiben in Reifen, an Taschen, Schuhen, Händen, in der Lüftung und so weiter hängen. Dort kann ich sie abnehmen und dann im Labor zuordnen, woher sie stammen, also wo jemand sich aufgehalten und die Spur aufgepickt hat. Verschiedene Orte sind durch verschieden zusammengesetzte Bakteriengruppen gekennzeichnet: Unterschiedliche Bakterien fühlen sich an verschiedenen Orten wohl.

Die Zusammenstellung der Bakterien und ihre Arten sind wie ein Fingerabdruck der örtlichen Lebensbedingungen. Es ist wie mit dem Foto einer Stadt: Häuser gibt es überall. Aber die Zusammenstellung der Gebäude gibt es nur einmal. So lässt sich eine Stadt auf einem Foto anhand der Zusammenstellung der Gebäude eindeutig erkennen. Im Kleinen geht das stattdessen mit der Zusammensetzung und der Art der Bakterien.

Hat die Methode einen Vorteil im Vergleich zur DNA oder anderen forensischen Auswertungsmöglichkeiten?

Foto: Mark Benecke

Es ist ein zusätzliches, unabhängiges Verfahren. Das ist immer gut: Wenn eins der anderen Verfahren nicht so aussagekräftig ist, dann habe ich eine weitere, sachliche, nicht von Gefühlen oder Missverständnissen oder der Erinnerung abhängige Informationsquelle.

Was sind die Nachteile?

Nachteil würde ich es nicht nennen, aber die Genauigkeit ist nicht hundertprozentig. Aus welcher Stadt eine Probe stammte, konnte in der Studie mit immerhin 92-prozentiger Genauigkeit erkannt werden. Das ist schon sehr gut. Woher innerhalb einer Stadt die Probe stammte, konnte in mehr als vier Fünftel der untersuchten Fälle festgelegt werden. Das ist wirklich eindrucksvoll. Teils lagen die Probe-Orte weniger als einen Kilometer auseinander.

Wann könnte die Technik zum Einsatz kommen?

Jederzeit. Ich wende mit meinem Team manche Verfahren nur einmal an, andere dauernd. Das ist ganz fließend: Wenn sich eine Technik polizeilich bewährt, dann wird sie öfter eingesetzt. Wenn nicht, dann seltener oder nur in sehr schwierigen oder von irgendjemandem als wichtig wahrgenommenen Fällen.

Wieso sprechen die Entwickler aber davon, dass es noch einige Jahre dauern könnte?

Weil es für gerichtliche Fälle oft wichtig ist, dass die Spuren aus sich heraus beweiskräftig sind. Dazu müssen sie getestet werden. Außerdem sind für die Bakterienabgleiche auch viele Proben, also Datenbankeinträge nötig. Und die Umwelt und damit die Bakterien ändert sich. Das Gericht muss aber sicher sagen können: Die Bakterien unter ihren Schuhen stammen sicher vom Ort, an dem die Leiche gefunden wurde.

Anders sieht es aber mit ersten Untersuchungen bei der Polizei aus, da können schon Hinweise statt Beweise die Ermittlungen in eine vernünftige Richtung oder weg von einer weniger vernünftigen lenken. Daher sickern neue Verfahren immer langsam ein: Erst in der Wissenschaft und im Labor, dann bei der Polizei in der Ermittlungsarbeit und schließlich vor Gericht als harte Spurenbeweise.

Welches Potenzial bietet KI generell für Ermittlungsbehörden und wo wird sie bereits eingesetzt?

K.I.-Anwendungen schleichen sich überall in die Arbeit, sei es bei der Bearbeitung und Verbesserung von Fotos bis hin zur Untersuchung von Texten. Beispiele sind klassisches Zusammentragen von Informationen, wie es jetzt schon viele Schülerinnen und Schüler mit Chat-GPT machen — das geht natürlich auch bei der Polizei und Geheimdiensten. Es können aber auch persönliche Eigenarten bei Schreiben erkannt werden, etwa von Erpressernachrichten.

Die beiden ersten großen KI-Anwendungen in der Kriminalistik waren Handydaten und die Verbrechensvorhersage. Aus den Hunderttausenden von Handyverbindungen und „Gesprächsknoten“ wird sichtbar, wer mit wem wann, wo und wie lange in Kontakt stand. Diese selbst mir anfangs wie Science-Fiction erscheinende Technik wurde allerdings schon im Comic vorhergesagt: Batman, der ja auch Verbrechensjäger ist, führte solche Massendatenauswertungen von Handys als erster durch.

Die zweite Anwendung, also die Vorhersage von möglichen Verbrechen, stammt aus der klassischen Science-Fiction-Literatur, der Geschichte ‚Minority Report‘ von Philip K. Dick aus den 1950er Jahren. Mittlerweile versuchen einige Kolleginnen und Kollegen, die Häufigkeit und Wahrscheinlichkeit vorwiegend von Einbrüchen in gewissen Gegenden oder zu bestimmten Zeiten zu berechnen. Beides — Handy-Massendaten und „Pre Crime“ — klappt allerdings auch ohne echte Künstliche Intelligenz, dafür reichen Gehirn- und Muskelschmalz und viel Rechnerleistung. Ob diese Verfahren eingesetzt werden oder nicht, ist eine soziale und kulturelle Frage.

Was sind die Gefahren von Künstlicher Intelligenz?

Wie bei jeder Datensammlung und -auswertung: Die Gefahren liegen darin, dass die Informationen ungefragt zusammengeführt werden und so ein allzu genaues Bild über persönliche Gewohnheiten geben. Das hat das Bundesverfassungsgericht schon 1983 im Volkszählungsurteil gut dargelegt: Menschen sollen im Kern selbst entscheiden, was über sie bekannt wird und was nicht.

Wetter und Temperatur spielen eine große Rolle

Quelle: t-online.de, 26. Juni 2024

Von Simone Bischof

Kriminalbiologe zum Fall Arian

In Niedersachsen wurde eine Kinderleiche gefunden. Möglicherweise ist es der vermisste Arian. Wie die Ermittler das herausfinden, erklärt der Kriminalbiologe Mark Benecke.

Am Montagnachmittag entdeckte ein Landwirt auf einer Wiese im Landkreis Stade eine Kinderleiche. Die Ermittler schließen einen Zusammenhang zu dem seit mehr als zwei Monaten vermissten sechsjährigen Arian aus Bremervörde nicht aus. Der Leichnam wurde zur Obduktion in die Gerichtsmedizin gebracht, Ergebnisse der Untersuchung sollen noch in dieser Woche bekannt gegeben werden.

Der Forensik-Experte Dr. Mark Benecke hat die Polizei schon in vielen Fällen unterstützt. Im Gespräch mit t-online erklärt er, wie die Ermittler, die mit der Aufklärung des Falls befasst sind, im Weiteren vorgehen.

t-online: Herr Benecke, Arian ist vor etwas mehr als zwei Monaten verschwunden. Vorausgesetzt, bei der gefundenen Kinderleiche handelt es sich um den Sechsjährigen: In welchem Zustand ist die Leiche nach so langer Zeit?

Mark Benecke: Das hängt von mehreren Faktoren ab. Wetter und Temperatur spielen eine große Rolle. Wenn es warm und feucht ist, zersetzen sich Leichen im Freien schnell. Weiterhin spielt eine Rolle, wie die Leiche gelagert ist – beispielsweise in einer Kiste oder in der Erde. Außerdem, ob es Tierfraß gibt. Etwa durch Ameisen, Maden oder Wildschweine.

Welche Wetterbedingungen spielen beim Zustand einer Leiche eine Rolle? Zum Zeitpunkt von Arians Verschwinden war es noch kalt. Inzwischen gab es Unwetter mit viel Regen, außerdem Hitze.

Solange es kalt ist, wachsen die Bakterien und Insekten langsam. Wenn es wärmer wird, wachsen sie schneller und lösen die Leichen dann auch schneller auf.

Wie erschwert der Zustand einer Leiche ihre Identifizierung?

Das spielt seit der Erfindung beziehungsweise Entdeckung genetischer Fingerabdrücke in Vermissten-Fällen keine Rolle mehr. In den Knochen und Zähnen ist immer genug Erbgut, um zu bestimmen, ob die Leiche die vermisste Person ist oder nicht.

Gibt es einen leichteren Weg?

Wenn es um den "ersten Blick" geht: Meist über die Bekleidung.

Wie wird eine Leiche untersucht und wonach wird gesucht?

Gesucht wird nach Verletzungen, die an Knochen sichtbar sind, beispielsweise "Scharten", also Ritzer, die von einem Messer stammen könnten. Außerdem nach Giften, die im sogenannten "Weichgewebe" sind, aber auch in harten Körper-Teilen. Und nach Spuren von Brand, Ersticken, Knochenbrüchen und natürlich allem, was von einem Täter oder einer Täterin stammen könnte: Haut-Zellen, Haare, Kleidungs-Fasern, Blut, Sperma oder Speichel.

Nach welchen "typischen" Merkmalen wird zuerst gesucht, um die Todesursache festzustellen?

Die Kolleginnen und Kollegen aus der Rechtsmedizin schauen unter anderem danach, ob es bestimmte Flecken auf Organen gibt, sofern diese noch erhalten sind, ob es Brüche beispielsweise am Kehlkopf gibt oder ob der Schädel gebrochen oder durchlöchert ist. Blut-Unterlaufungen können interessant sein oder Löcher in der Haut, eigentlich alle "Veränderungen" gegenüber dem Grundzustand.

Literaturseiten München: Ganz tief unten

Quelle: Literaturseiten München, Februar 2012

Von Michael Berwanger

Wir haben das an dieser Stelle ja schon oft erörtert. Es gibt nichts Schlimmeres als die Realität. Kein Autor kann sich ausdenken, was in Wirklichkeit an Brutalität oder bestialischem Verhalten von Menschen in ihrem krankhaften Wahn verbrochen wird. Und so hat Mark Benecke [...] mal wieder zur Feder oder doch eher zur Tastatur seines Rechners gegriffen und in elf Kapiteln schier unglaubliche Fälle von Verbrechen zusammengetragen, im wahrsten Sinne seziert, durchleuchtet und bewertet.

Mark Benecke ist nicht einfach nur Autor, sondern einer der bekanntesten und gefragtesten forensischen Biologen, die es in Deutschland gibt. Nach eigener Angabe versessen auf alles, was uns „Normalos“ eher den Ekel die Kehle hochtreibt: Käfer, Gewürm, Schimmel und Bakterien. [...] 

Normalerweise sollte das Aussehen von Autoren, die hier besprochen werden, keine Rolle spielen, aber diesmal sei explizit eine Ausnahme gemacht: Mark Benecke, ein großer schlanker Anfangsvierziger ist flächendeckend tätowiert (nebenbei bemerkt auch Vorsitzender des Vereins ProTattoo), trägt diverse Piercings, meist einen Walrossschnauzbart und schwarze Mäntel. Umgangssprachlich würde man ihn als Gruftie bezeichnen. Seine Frau steht ihm da nur wenig nach: mit rot gefärbten Haaren, Piercings und ebenfalls schwarzen Klamotten ist sie ein wunderbares Pendant zu ihrem Mann Mark. Lassen Sie sich vom Schein nicht trügen.

Mark Benecke ist Spezialist für forensische Entomologie, studierte Biologie, Zoologie und Psychologie, er promovierte über den genetischen Fingerabdruck und absolvierte diverse polizeitechnische Ausbildungen im Bereich der Rechtsmedizin in den USA. Benecke wird als öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger herangezogen, um biologische Spuren bei vermuteten Gewaltverbrechen mit Todesfolgen auszuwerten. Dazu ist er Autor mehrerer populärwissenschaftlicher Bücher, Gastherausgeber für die Forensic Science International und Mitglied im Wissenschaftsrat der Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften. Dass er darüber hinaus noch die Punkband Die Blonden Burschen gegründet hat und NRW-Vorsitzender der Partei Die PARTEI ist, komplettiert das Bild aufs Schönste. 

Jetzt hat er also nach „Mordspuren“, „Mordmethoden“ und „So arbeitet die moderne Kriminalbiologie“ seinen neuesten Band „Aus der Dunkelkammer des Bösen“ bei Lübbe veröffentlicht. Diesmal geht er mehr auf die psychologischen Gründe und Verwerfungen der Täter ein. [...]

So schreibt er als erster umfassend über den Kolumbianer Luis Alfredo Garavito Cubillos, der zwischen 1992 und 1997 etwa 300 (in Worten: dreihundert) Jungen gefoltert und danach getötet hat (nicht haben soll). Dabei beleuchtet er sowohl die Psyche des Täters als auch die einer Gesellschaft, die solche Szenarien nicht rechtzeitig erkennen will. Im Eingangskapitel berichtet er von seinen Untersuchungen, die er beim FSB (ehemals KGB) in den Räumen des Moskauer Archivs unternommen hat. Forschungsgegenstand waren die Zähne und die Schädeldecke Adolf Hitlers. Zum Leidwesen der Russen konnte er beweisen, dass die archivierte Schädeldecke nicht Hitler gehört haben kann. [...] Der Fall Josef Fritzl sei – nach Aussage der Beneckes – kein Einzelfall. Sie arbeiten exakt heraus, welche psychischen Störungen zu solchen Untaten führen und belegen mit weiteren Fällen, wie etwa dem der Täter Wolfgang Priklopil (der Peiniger von Natascha Kampusch) oder Viktor Mokhov, dass solche Störungen häufiger vorkommen, als uns recht sein kann. In den anderen Kapiteln werden u. a. Lustmord, Nekrophilie und tödliche Zwiste unter Nachbarn beleuchtet, das ganze Grausen also, das der Mensch in der Realität für seinen Mitmenschen bereit hält auf 430 Seiten. Nichts für schlechte Nerven.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Agentur