Die Glücksritter von Palermo

Quelle: Bestattungskultur, Okt. 2020, Seiten 42—45

Interview mit dem berühmten Kriminalbiologen Mark Benecke, der mit seiner Mitarbeiterin Insekten auf den Mumien der Kapuzinergruft in Palermo untersucht hat. Auf Spurensuche bei den Mumien von Palermo: der Kriminalbiologe Mark Benecke

Fragen: Gerti Keller, Fotos: Mark Benecke

Die Jungfrauen haben Krönchen auf. Diese Sitte gab es früher in mehreren Teilen Europas.

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Sie ist eine „skurrile“ Touristenattraktion: die Kapuzinergruft in der sizilianischen Hauptstadt. Mehr als 2000 Mumien warten dort auf den Jüngsten Tag. Viele stehen in Nischen gekleidet wie zu Lebzeiten, in Anzügen, Rüschenkleidern oder Uniformen. Der Älteste ist Silvestro da Gubbio, der 1599 verschied und den Auftakt machte. Damals entdeckten die Mönche nach dem Bau einer neuen Gruft, dass einige ihrer verstorbenen Brüder kaum verwest waren – und stellten sie als Memento Mori an den Wänden auf.

Später wurde diese Art der Bestattung auch bei den höheren Kreisen en vogue, bis sie 1837 verboten wurde. Die kleine Rosalia, die vor 100 Jahren an der Spanischen Grippe verstarb, wurde hier trotzdem noch zur ewigen Ruhe gebettet – und sieht bis heute aus, als würde sie nur schlafen.

Vor einiger Zeit begab sich der Kriminal­biologe Mark Benecke mit seiner Mitar­beiterin Kristina Baumjohann dort auf Spurensuche. Nun haben die beiden forensischen Insektenkundler ihre Ergebnisse in einer wissenschaftlichen Studie veröffentlicht. Wir sprachen mit Mark Benecke in seinem Labor.

Was können Käfer & Co. auf uralten Mumien noch erzählen?

Durch ihre Reste finden wir heraus, wann welche Besiedelung stattgefunden hat. Denn auch wenn eine Leiche komplett vertrocknet oder zerfallen ist, verraten die Überbleibsel von Insekten, die zum Beispiel noch in den Augenhöhlen liegen, welche Fäulnisstadien der Leichnam durchlief. Und das wiederum erzählt uns etwas darüber, wie die Mönche sie früher gelagert haben, was sie über Mumifizierung wussten.

Welche Überraschungen gab es?

Wir fanden sehr wenig Schmeißfliegen. Die sind normalerweise immer früh auf Leichen. Wahrscheinlich haben die Mönche die Toten schnell austrocknen lassen. In diesem Fall legen die Schmeißfliegen auch Eier ab, aber die vertrocknen dann mit.

Danach haben die Mönche vermutlich nicht mehr so gut aufgepasst. So sind teilweise die Unterkiefer der Verstorbenen herausgefallen. Vielleicht haben sie diese zu früh aufgestellt, sodass das Gewebe noch mal erweichen und sich faulend langziehen konnte. Dafür spricht auch, dass wir Reste vom Rotbeinigen Schinkenkäfer fanden, die nur an gerade noch feuchte Leichen gehen. Man kann Tote in diesem Zustand manchmal auch noch erhalten – das sieht dann mit Bekleidung vielleicht sogar lebensecht aus – doch dafür braucht man keimhemmende Substanzen. Und die kannten die Mönche zumindest in den ersten Jahrhunderten noch nicht.

In welchem Zustand sind die Mumien?

Mode von anno dazumal: Durch die echte, alte Kleidung wirken die Skelette lebensechter.

Im Colatoio wurden die Leichen vorbereitet. Bis heute sieht der Raum aus wie auf alten Fotos

Überwiegend schlecht. Die meisten sind streng genommen gar keine Mumien, sondern skelettiert. Vieles ist nur verdeckt, etwa durch Handschuhe und Hüte. Teilweise wurden sie unter der Kleidung mit Strohsäcken ausgestopft. Andere sind wiederum ganz gut in Schuss, wie einige Jungfrauen.

Warum sind sie so unterschiedlich erhalten?

Da waren einfach viele Leute zu verschiedenen Zeiten am Werk. Ich denke, irgendwie haben die Mönche gemerkt, wenn du die Leiche da und da hinlegst, dann erhält sie sich halt manchmal. Trotzdem können manche ihr Handwerk beherrscht haben, ohne zu wissen warum. Das war im alten Ägypten auch schon so. Der Mechanismus ist immer nur Vertrocknung. Der ganze Rest ist nicht so geheimnisvoll, wie man meint. So sollen die Mönche die Leichen mit Essig abgewaschen ha-ben. Das mache ich heute noch mit meinen Regalen. Ein Spezialist wie Alfredo Salafia, der Rosalia erst vor 100 Jahren einbalsamierte, war natürlich schon viel weiter.

Ich glaube, dass die Mönche einfach nur Glücksritter waren. Zudem ist im Keller immer genügend Luft durchgezogen. Dort stehen die Fenster ja immer noch offen, wie in jeder normalen Wohnung. Vielleicht ist hinterher einiges schiefgegangen. Es hat auch mal gebrannt, sie mussten löschen und danach die Leichen umkleiden, wobei vieles kaputtgegangen sein kann. Es sind auch Haken durchgerostet, weil die Wände feucht wurden und dann sind die Mumien runtergefallen. Außerdem gab es nach dem Krieg Souvenirjäger. So haben Soldaten fast alle Glasaugen mitgenommen.

Warum haben die Sizilianer ihre Toten überhaupt so zur Schau gestellt?

Dass die Körper nicht verwest sind, galt als Zeichen für göttliche Zuwendung, erzeugte Ehre und eine hohe soziale Stellung. Wie bei den Heiligen, die angeblich auch nicht zerfallen. In Palermo ruhen in erster Linie Priester, Mönche, Rechtsanwälte und Jungfrauen reicher Familien. Bei Rosalia kommt hinzu: Wenn ein kleines unschuldiges Kind stirbt, das auch noch nach dem Namen der Stadtpatronin getauft ist, war das für die Katholiken ein ganz schlechtes Zeichen. Und so konnte das wieder ein bisschen wettgemacht werden.

Die Mönche wiederum könnten auch gesagt haben, das ist für unser Kloster gut, das ist für den Zusammenhalt in der Stadt gut, alle profitieren davon, niemandem schadet es. Eine Tipptopp-Sache, die bieten wir jetzt einfach an, gegen eine Spende natürlich. Und wenn‘s mit der Erhaltung nicht so gut klappt, sorgen wir durch Kleidung und alles Mögliche dafür, dass wir das hinkriegen. Die Leute sehen sowieso immer nur das, was sie sehen wollen.

Erzähl doch mal von besonders spannenden Momenten...

Solche Käfer beziehungsweise deren Überreste fand der britische Chirurg Thomas Pettigrew im 19. Jahrhundert in Mumien. Die Abbildung stammt aus seinem Buch „A History of Egyptian mummies“ (1834; Archiv Benecke).

Einer war die Entdeckung des „Colatoio“, eine Kammer, in der die frischen Leichen früher wohl auf Röhren „abtropfen“ sollten. Ein Kollege von uns, der vor Ort alles organisierte, hat mit den Jungs vom Ticketverkauf geschwatzt und plötzlich war dieser sonst abgesperrte Raum offen. Da fiel wie bei Indiana Jones ein Sonnenstrahl rein, auch die Wände leuchteten grünlich. Auf alten Fotos haben wir gesehen, dass sich alles noch genauso an Ort und Stelle befand, inklusive zweier „liegen gebliebener“ Mumien.

Vielleicht hat man den Laden schlichtweg dichtgemacht, weil das Wissen ausgestorben war. Die Überlebenszeit von Wissen beträgt oft nur 25 Jahre und wir reden hier über mehrere Jahrhunderte. Da muss nur mal einer krank geworden sein und schon sind die Kenntnisse verloren gegangen.

Es war auch spannend, dass wir wahrscheinlich als erste Särge öffnen durften. Darin fanden wir die vertrockneten Reste von Pseudoskorpionen. In der Gruft können sich also verschiedene Zonen gebildet haben. So wie in einem wilden Garten mit unterschiedlichen Pflanzen und Lebewesen. Dabei sind die Pseudoskorpione eher ein Zeichen für Stillstand, wie eine alte Bibliothek, die sich sehr langsam zersetzt – gerechnet auf 50, nicht auf 300 Jahre – und damit an einem guten Punkt angekommen ist. Somit haben die Mönche es im Rahmen ihrer Möglichkeiten eigentlich ganz gut gemacht.

Welche Erkenntnisse gab es noch?

Nebenbei schauten wir uns auch die Zähne an und entdeckten, dass die Mönche die gesündesten von allen waren. Die haben die Regeln für ein glückliches langes Leben befolgt, die auch uns seit mindestens 150 Jahren bekannt sind: Pflanzliche Ernährung, so wenig tierische Produkte wie möglich und kaum Zucker. Deswegen hatten sie keine Karies.

Sie besaßen auch einen Garten und sogar ein Krankenhaus. Die Kapuziner sind ja der Orden, der sich wirklich um Menschen in Not kümmert, auch um Lepra- oder heute um Aids- und Drogen-Kranke. Heißt: Sie hatten nicht nur einen hochgradig geregelten Arbeitsablauf, sondern waren sozial angebunden. Es nutzt nichts, im Altersheim nur einen perfekten Bingo-Abend zu machen. Menschen brauchen auch eine Aufgabe.

Wie lange wird es diesen Ort wohl so noch geben?

Meiner Meinung nach ist das ohne Restaurierung komplett dem Untergang geweiht. Man sollte nur den Teil öffnen, der schon mit EU-Geldern mit Glasböden und Geländern ausgestattet wurde. Der sieht super aus, ist zeitlos und könnte die nächsten 500 Jahre so bleiben. Und den Rest nur für Forschungszwecke öffnen und basta.

Fandest Du diesen Ort traurig?

Das ist jenseits von traurig. Es ist ein Friedhof und ich finde Friedhöfe auch nicht traurig. Ich denke, die Toten hatten früher viel Besuch und wahrscheinlich ging es recht fröhlich und entspannt zu. Auch weil die Familien in Italien groß und munter waren. Da kann ein Namenstag schon gereicht haben, um den Laden voll zu machen. Das ist aber nur meine Meinung.

Allerdings habe ich Blumen gekauft, um sie vor den zerfallenden Kleinkindern abzulegen. Der Mann vom Eintritt sagte, dass ich der erste Mensch bin, der das je getan hat.

Für die Touristen scheint das eher eine Art Geisterbahn zu sein. Wir haben sogar gehört, wie die Eltern zu den Kindern sagen, das sind nur Puppen... Ich finde: Man darf nie den Respekt verlieren.

Das Interview führte Gerti Keller.

Buchtipp

Mark Benecke: Mumien in Palermo: Als Kriminalbiologe an den dunkelsten Orten der Welt, Lübbe, 3. Aufl. (2019) ISBN-10: 9783785725726, 19,90 Euro


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