Quelle: Kriminalistik 2/2019, Seiten 89 – 95; der Artikel als .pdf
Von Kristina Baumjohann & Mark Benecke
Tote Körper verändern sich. Mit welcher Geschwindigkeit dies geschieht, ist von verschiedenen Faktoren abhängig. Typische Umwelteinflüsse wie Temperatur, Feuchtigkeit, Luftzug usw. beeinflussen Verwesungsvorgänge ebenso wie Tiere, die am Leichenfund vorkommen oder Zugang zur Leiche haben. Nicht immer werden diese Faktoren bei der Beurteilung von Leichenerscheinungen berücksichtigt. Fehlinterpretationen und damit nicht beachtete Einflussfaktoren können kriminalistische Ermittlungen auf die falsche Fährte führen und Sachbeweise unberücksichtigt lassen.
A. Wirbellose
Haus- und Wildtiere hinterlassen in manchen Fällen Fraßspuren an totem Gewebe; diese Wundartefakte können – sofern sie unbemerkt bleiben – zu kriminalistischen Missinterpretationen führen (Haglund 1992, Patel 1994, Ropohl et al. 1995, Steadman & Worne 2007, Tsokos & Schulz 1999, Willey & Snyder 1989). Tierbesitzer, die alleinstehend sind und zunächst unbemerkt in ihren Wohnräumen versterben, können nach Todeseintritt Gewebsdefekte durch Tierfraß aufweisen (Ropohl et al. 1995, Rossi et al. 1994, Rothschild & Schneider 1997, Steadman & Worne 2007, Tsokos & Schulz 1999).
Fraßspuren von beispielsweise Vögeln, Ameisen und Hundeartigen an Leichen im Freiland sind in der Literatur bisher weniger oft berichtet worden (Asamura et al. 2004, Campobasso et al. 2009, Willey & Snyder 1989). Wirbellose Tiere wie Insekten nutzen totes Gewebe als Futter, Brutstätte oder ernähren sich räuberisch von weiteren Leichenbesiedlern. Nur wenige Berichte greifen durch Insekten bedingte postmortale Gewebeveränderungen an toten Körpern auf, die einer Verletzung so sehr ähneln, dass sie als solche fehlinterpretiert werden könnten (Haskell et al. 2006, Ortloff et al. 2016, Pollak & Reiter 1988). Bei Leichenfunden ist von Bedeutung, diese Fraßdefekte und Gewebeveränderungen bei der Bearbeitung von kriminalistisch-biologischen Fragestellungen zu berücksichtigen, da Gewebezerstörungen durch Tierfraß vitale Verletzungen, aber auch Verbringungs-Artefakte imitieren können (Abb. 1). Aus diesem Grund ist es wichtig, den Ursprung solcher Spuren aufzuklären. Dazu gehört auch die Untersuchung des Leichenfundorts und dessen Umgebung nach möglichen Spurenverursachern, da biologisch bedeutsame Informationen beispielsweise im Sektionssaal verloren gehen und dann dort Ameisen, Käfer usw. nicht mehr als Spurenverursacher auszumachen und zu finden sind. Im Folgenden werden auszugsweise einige Tiergruppen vorgestellt, die bei der Fallbearbeitung übersehen werden können (Abb. 1).
Ameisen
Fraßspuren von Ameisen können Hautabschürfungen, Würgemalen oder auch Verätzungen ähneln und mit Verletzungen zu Lebzeiten verwechselt werden (Bonacci et al. 2019, Campobasso et al. 2009, Benecke 2008, Benecke & Seifert 1999, Weimann & Prokop 1963). Die Rote Feuer-Ameise Solenopsis invicta stammt ursprünglich aus Südamerika und ernährt sich von menschlichem Gewebe und menschlicher Haut (Byrd & Castner 2009). Diese Art hinterlässt an Leichengewebe Verletzungen, die Verbrennungen ähneln können (Abb. 2). Da sich aufgrund des globalen Handels, der Erderwärmung und möglicher Dürren nicht auch in unseren Breiten diese Ameisenart nebst schon vorhandenen Arten zunehmend Verbreitung findet, sollten derartige „Verbrennungsmuster" bei Leichenfunden im Freiland und in Wohnungen unter Vorbehalt interpretiert werden (Ameisen einsammeln!).
Ameisen können auch als Sachbeweis dienen. Der Fund von Ameisen an einem Stiefel eines Verdächtigen und der Bluse der Verstorbenen führte zur Verurteilung des Verdächtigen: In unmittelbarer Nähe zum Tatort wurde ein Nest dieser flugunfähigen Ameisenart gefunden, die sich nur wenige Meter vom Nest entfernt. Auf Bildern vom Tatort waren auf dem Leichnam Tiere dieser Art zu sehen, die dort Fraßspuren hinterlassen hatten. Ein zufälliges Zusammentreffen kam nicht in Frage, da sich die untersuchten Ameisen nicht weit vom Nest entfernen (Benecke & Seifert 1999). Ameisen sind an toten Körper zudem als Räuber zu finden, die sich von Fliegeneiern und -maden ernähren (Payne & King 1968, 1971) (Abb. 3). Hierdurch kann die Liegezeit-Bestimmung beeinflusst werden.
Wespen
Es gibt nur wenige Berichte über Wespen an Leichen. Eine Studie aus Brasilien von Simoes et al. (2013) untersuchte Wespen an toten Schweinen und deren Einfluss auf die Verwesungsgeschwindigkeit und die forensische Bedeutung einer bestimmten Wespenart aufgrund ihrer Bevorzugung eines bestimmten Verwesungsstadiums. Wespen können Eier von Schmeißfliegen fressen und verstellen so eventuell die „Uhr" der Leichenliegenzeit. Sie hinterlassen zudem Spuren, die Hautabschürfungen und Kratzern ähneln (Abb. 4). An dünneren Hautschichten legen sie durch ihre Fraßaktivität mitunter Knochen frei (Abb. 5). Diese Fraßspuren sollten von tatursächlichen Spuren an toten menschlichen Körpern abgegrenzt werden. Barbosa et al. (2015) weisen ebenfalls auf diese Notwendigkeit hin. In ihrer Studie präsentieren sie postmortale Verletzungen, die durch die südamerikanische Wespenart Agelaia fulvofasciata an Schweinekadavern verursacht wurden. Die Wespen fraßen bevorzugt an den Lippen, aber auch an der Schnauze und dem Anus der Schweine. Gleichzeitig lebten die Wespen räuberisch von Maden einer Fliegenart, die als Leichenbesiedler auch zur Berechnung der Besiedlungszeit des Leichnams heran-gezogen werden. Werden Leichenbesiedler von Räubern gefressen, kann dies die Berechnung beeinflußen.
Fliegenmaden
Fliegenmaden hinterlassen Fraßlöcher an Leichen, die ebenfalls mit prä- oder postmortalen Verletzungsmustern verwechselt werden können (Abb. 6, 7). Pollak und Reiter berichten 1988 von einem Fall, in dem Madenfraßlöcher irrtümlich für Schrot-Einschüsse gehalten würden könnten: Ein hochgradig fäulnisveränderter Leichnam wies zwei Knochenlücken im linken Augenhöhlendach (Orbitaldach) auf. Diese „Löcher" wurden zunächst als Schusslöcher interpretiert. Es konnten jedoch weder eine Schusswaffe gefunden noch der Nachweis metalldichter Fremdkörper und Bleiabriebspuren erbracht werden.
Käfer
Einige Käferarten können kreisrunde Löcher in totes Gewebe fressen, die mit Schussverletzungen verwechselt werden können (Baumjohann et al. 2014) (Abb. 8, 9). Andere Käferarten ernähren sich sekundär von auf der Leiche lebenden Fliegenmaden oder Pilzgeflechten (Benecke 2003a) (Abb. 10). Das Auftreten von Käfern und Käferlarven wird häufig mit späteren Verwesungsstadium assoziiert (Kulshrestha & Satpathy 2001). Eigene Beobachtungen zeigten, dass Speckkäferlarven auch an frischtotem Gewebe fressen (Abb. 11). In diesem Fall ähnelten die Fraßspuren Stichverletzungen (Abb. 12). Diese Beobachtung wird durch Caballero & Lean-Cortes (2014) bestätigt; sie konnten verschiedene Käferarten während des gesamten Verwesungsvorgangs nachweisen. Postmortal zugefügte Fraßspuren von Käfern – wie ortsgebundene Insekten generell – können einen Hinweis auf eine Leichenverbringung geben, sofern die vom Täter mit der Leiche verschleppten Käferarten in begrenzten Biotopen leben (Benecke 2003a, Fiedler et al. 2008).
Schnecken
Auch Nacktschnecken verändern Leichengewebe (Abb. 13). An toten Ferkeln haben wir beobachtet, dass die Tiere mit ihrer Hornzunge zunächst Defekte in weiches Gewebe raspeln. Diese Abrieb-Stellen weiten sie dann durch Vordringen ihres Körpers und mit ihrer Raspelzunge zu mitunter großen Gewebe-Löchern aus (Abb. 14). Mehrfach wurden diese Spuren im Bereich der Zunge vorgefunden. Andere Körperteile bleiben jedoch nicht verschont; die Ausprägung dieser Spuren kann durchaus unterschiedlich aussehen (Abb. 15). Betreffs möglicher Gewalteinwirkung oder Aufklärung von Tatabläufen sind Fehldeutungen hier nicht auszuschließen.
B. Unterscheidung zwischen Blut- und Fliegenartefakten
Zunächst als durch Beschleunigung entstandene Blutspuren erscheinende Spritzer an einem Tatort können auch durch Fliegen verursacht worden sein (Abb. 16). Es ist daher wichtig, diese Spuren zu erkennen und zu dokumentieren (Maßstab!). DNA ist hier kein zwingend wirksames Hilfsmittel, da Fliegen auch echtes Tatort-Blut aufnehmen und dann verteilen können (auswürgen, Kot). Fliegen-Artefakte und Blutspritzer-Muster von Menschen (Maßstab!) können durch die nachfolgenden Handlungsempfehlungen und Hinweise voneinander unterschieden werden (Benecke & Barksdale 2003b): 1.
Dokumentation der Fliegenaktivität und toter Fliegen am Tatort bzw. Fundort. Werden (tote) Fliegen vorgefunden, können immer auch Fliegen-Artefakte vorliegen.
Dokumentation der Reichweite der Spuren bzw. Spritzer. Fliegenaktivität wird häufig in der Nähe von Lichtquellen, an hellen Wänden, Fenstern und Spiegeln beobachtet. Vergleich der Spuren nahe der Leiche mit solchen, die von dieser entfernt vorzufinden sind; Fliegen halten sich häufig später in Räumen auf, in denen die Leiche nicht liegt.
Vergleich der Spurenmuster mit be-kannten Fliegenartefaktmustern.
Identifizierung angenommener menschlicher Blutspuren, die punkt- oder tränenförmig erscheinen und potentiell zu Rekonstruktionen herangezogen werden können; Ausschluß folgender Spuren:
a. Spuren mit einem Schwanz/Körper-Verhältnis größer 1 (Abb. 16);
b. Spuren mit einer spermien- oder kaulquappenartigen Struktur;
c. Spuren, die einer Spermienzelle ähneln und nicht in einem kleinen Punkt enden;
d. Alle Spuren ohne unterscheidbaren Körper und Schwanz;
e. Alle Spuren mit einer wellenförmigen oder ungleichmäßigen Struk-tur und
f. Alle Spuren, deren Ausrichtung nicht mit anderen Spritzern übereinstimmen, die wiederum auf einen Entstehungspunkt hindeuten. Größere Fliegenartefakte in einer Gruppe weisen in verschiedene Richtungen; gruppierte angeordnete menschliche Blutspritzer werden auf einen Entstehungspunkt hinweisen.
Beachtung der Abwesenheit bekannter menschlicher Blutspuren-Charakteristika.
Blutspuren mit Papier abdecken, insbesondere auf dem Boden, damit sie — so gut als möglich — erhalten und nicht durch Ermittler, Rettungspersonal usw. zerstört werden.
Nutzung einer hochauflösenden Kamera mit Makrofunktion und einer Skala auf jedem (!) Bild. Die Bedeutung der Unterscheidung zwischen menschlichen Blutspritzern und von Fliegen verursachten Artefakten wird bei Benecke und Barksdale (2003b) durch drei Fallbespiele ausführlich geschildert und dargestellt.
C. Umwelteinflüsse im engeren und weiteren Sinne
Licht und Temperatur sind wohl die bedeutsamsten Einflußfaktoren bei Verwesungsvorgängen und in der Welt der Insekten. Die Geschwindigkeit und Ausprägung von Abbauprozessen ist zu einem großen Teil von Umweltfaktoren abhängig. Dazu zählen Temperatur, Feuchtigkeit, Licht, Regenfall, Bodenparameter, Lage und Zustand der Leiche usw. (Aturaliya & Luka-sewyz 1999, Dautartas 2009, Dent et al. 2004., Mann et al. 1990). Das Auftreten verschiedener Insekten, deren Lebensräume und -gewohnheiten sind ebenfalls u. a. von diesen Faktoren abhängig. Der Zugang leichenbesuchender Insek-ten zu toten Körpern ist wiederum von Umgebungsbedingungen abhängig. Zu berücksichtigen sind nicht nur der Fundort einer Leiche (Wald, Stadt, Feldrand, vergraben, sonnig, schattig, Innenraum, Freiland usw.), sondern auch die dort vorkommenden Tiere (Insekten, Wirbeltiere wie Haustiere, Wildtiere, Vögel etc.). Deren Lebensgewohnheiten wiederum spielen eine bedeutsame Rolle bei der späteren Interpretation von Fraßspuren und der Differenzierung dieser von „echten" Verletzungsmustern.
Die folgenden Fälle illustrieren die Bedeutung von Licht und Temperatur bei der Insektenbesiedlung von Leichen in Innenräumen.
Fall 1: Lichteinfluss
Am 11. Juli 2017 wird in einer Kreisstadt im östlichen Ruhrgebiet der Leichnam eines 39jährigen in seiner Wohnung gefunden. Ein letztes Lebenszeichen gab es am 24. Juni 2017. Der junge Mann litt an einer Persönlichkeitsstörung und war in seiner Vergangenheit drogen- und alkoholabhängig. In den letzten Jahren überwog die Abhängigkeit vom Alkohol.
Der Leichenfundort liegt nahe des Stadtzentrums. In der Straße gibt es städtische Begrünung; es befinden sich keine Parks oder größeren Grünflächen in der Nähe zum Leichenfundort. Die Wohnung ist verschmutzt und unordentlich. Der Leichnam liegt auf dem Boden des Wohnzimmers und ist mit einer Jogginghose und einem Pullover bekleidet.
Auf den Bildern der Kriminalpolizei sind bräunlich-schmierige Antragungen an der linken vorderen Außenkante des Sofas wie am oberen Rand eines „Kot-Brech-Eimers" links neben dem Sofa zu sehen (Abb. 17). Auch das Bettlaken im Schlafzimmer zeigt ähnliche bräunliche Antragungen.
Der Leichnam befindet sich in fortgeschrittener Fäulnis: Die Haut an Rumpf, Rücken und den Extremitäten ist rötlich, grün bis grau-grün verfärbt. Die Oberhaut am Bauch ist stellenweise fetzig gelöst. Die gesamte Oberhaut des Rumpfes ist gelöst. Während die Oberkörpervorderseite vertrocknete Partien erkennen lässt, ist auf den Bildern der Polizei deutlich zu erkennen, dass die Rückenpartie feucht-faulig erscheint. Laut Obduktionsprotokoll fanden sich am Leichnam wie auch in der Kleidung des Toten zahlreiche Maden und Fliegenpuppen.
Die Bilder zeigen zahlreiche Eigelege am Körper und an der Kleidung des Toten. Madenfraßdefekte sind laut Obduktionsprotokoll am linken unteren seitlichen Brustkorb- und Flankenbereich und oberhalb der Seitenbereiche der rechten Augenbraue zu sehen. Fliegenmaden befanden sich am und teils auch im Körper des Leichnams; auch am Damm und After. Der linke Arm steckt in der Oberbekleidung, die ansonsten bis zum Hals hochgeschoben wirkt; der rechte Arm und der gesamte Oberkörper sind bis zum Hals von der Kleidung unbedeckt. Hände und Füße zeigen auffällige Vertrocknungen, die am restlichen Körper nicht beobachtet werden.
Insbesondere die Hände sind am Handgelenk scharf zur helleren Haut am Oberarm abgegrenzt (Abb. 18). Die rötlich-braunen Vertrocknungen der Hände grenzen sich scharf gegen die hellen Unterarme ab.
Möglicherweise wurde die Kleidung durch den Notarzt hochgeschoben, so dass über den Zeitraum seit Todeseintritt die Kleidung den darunterliegenden Körper vor Austrocknung geschützt hat. Grund hierfür scheint die Sonneneinstrahlung zu sein, die sowohl seitlich von links als auch von „oben" auf den Leichnam scheint (Abb. 19).
Die dem linken Fenster zugewandte linke Fußunterseite ist ebenfalls vertrocknet; der in Richtung des oberen Fensters gewandte Kopf zeigt an der Stirn-, Nasen- und Augenbereich ebenfalls Vertrocknungen.
Dass Kleidung vor Austrocknung schützt und zu einer unterschiedlich starken bzw. teilweisen Verwesung führt konnte auch an eigenen Versuchen an Ferkeln beobachtet werden. Im Rahmen von Freilandversuchen wurden u. a. bekleidete Ferkel zur Insektenbesiedlung ausgelegt.
Bei einigen Durchgängen konnte beobachtet werden, dass der Kopf deutlich schneller verwest als der restliche – überwiegend durch die Kleidung bedeckte – Körper (Abb. 20, 21). Sicherlich spielt hier neben der Schutzfunktion der Kleidung auch die höhere Attraktivität des Gesichts als Eiablageort und die damit verbundene stärkere Madenfraßaktivität in dieser Körperregion eine Rolle. Auch die warm-feuchten Temperaturen während der Versuchsdurchführung erhöhen die Verwesungsgeschwindigkeit. Die ver-gleichsweise langsamere Verwesung der geschützten Körperpartie ist jedoch der Kleidung als Schutz vor Umwelteinflüssen und Tierfraß zuzuschreiben. Zu beachten bleibt, dass diese Verwesungserscheinungen überwiegend fundortabhängig sind und ungleichmäßig auftreten.
Fall 2: Augen-Verletzung?
Im August 2001 wird in einer Großstadt im Rheinland die teilmumifizierte Leiche eines Mannes auf seinem Bett gefunden (Benecke 2001). Die Augenhöhlen sind durch Fliegenmaden ausgefressen. Auch die Lippen und der linke Bereich seiner Hüfte zeigen Madenfraßspuren. Der Leichnam liegt von der Lichteinstrahlung durch einen Raumteiler abgetrennt. Auf der rechten Seite des Bettes ist eine Lampe angebracht, die jedoch mit der Glühbirne vom Bett weg weist. Der Leichnam zeigt eine ungewöhnliche Besiedlung der der Lichtquelle zugewandten Augenhöhle durch Schmeiß-fliegenmaden, da die Jugendstadien der Fliegen Licht meiden (Abb. 22). Offensichtlich fraßen sie zunächst die dem Licht abgewandte Augenhöhle und wechselten dann aufgrund des Nahrungsmangels zur lichtzugewandten Augenhöhle. Dieser Befund hätte Abseits des Fundorts zu einer Fehlinterpretation der Besiedlungsfolge des Gesichts sowie ggf. vorhandener Madenfraßspuren in Abgrenzung zu potenziellen Verletzungsspuren führen können. Da Maden Verletzungen gegenüber natürlichen Körperöffnungen zur Eiablage und Besiedlung bevorzugen, wäre es auch denkbar gewesen, dass z. B. etwa eine Einstichstelle im oder am Auge zu der ungewöhnlichen Madenbesiedlung geführt haben könnte oder ein entferntes Glasauge vorlag (Identifzierung!).
Fazit
Bei Leichenfunden sollte das Gesamtbild betrachtet und Details sauber dokumentiert werden. Auffälligkeiten an Leichenfunden dür-fen nicht wegen nicht sofort möglicher Zuordnung und Erklärung vernachlässigt werden! In der Beurteilung und Deutung von Verwesungs- und Vertrocknungserscheinungen bei Leichen ist Erfahrung notwendig. Das Hinzuziehen von und der Austausch mit Kollegen aus Nachbar-Disziplinen wie den Naturwissenschaften kann von Nutzen und der Fallarbeit zuträglich sein. Auch die Licht- und Wärmeveränderungen durch Kleidung auf den Verwesungsvorgang muss dringend berücksichtigt werden. Unterschiedliche Verwesungszustände verschiedener Körperteile müssen erklärt werden können.
Das „Mitwirken" von Fliegen an der Entstehung von auf den ersten Blick als Blutspuren oder -spritzer wahrgenommenen Spuren, insbesondere in Innenräumen, sollte im Hinterkopf behalten werden. Wird ein teilweises bzw. verschieden ausgeprägtes Verwesungsmuster an einer Leiche beobachtet, sollte auch das Mikroklima unter der Kleidung beachten werden. Die Kleidung kann das Gewebe teils vor Licht, Regen, Sonne etc. schützen und so zu extremen Unterschieden im Verwesungsprozess führen (Benecke 2003a). Ungewöhnliche Leichenerscheinungen können experimentell oft gut überprüft und verglichen werden. Diese Vorgehensweise benötigt mitunter Zeit, die nicht immer bei der Fallbearbeitung vorhanden ist. Allerdings können so Denkfehler vermieden und weitere wichtige und zu berücksichtigende Einflüsse oder auch neue Denkrichtungen aufgezeigt und durch Experimente geprüft werden. Dies erhöht die Aussagekraft, auch später vor Gericht.
Kontakt
forensic@benecke.com
k.baumjohann@gmail.com
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