Interview: Serienmörder Luis Alfredo Garavio Cubillos (1957—2023)

Quellen: Meldung aus web.de vom 28. Oktober 2024 und Bonus-Interview, das die Grundlage für den Text war

Wenn Du den Fall Garavito in drei Wörter beschreiben müsstest - welche wären das? Und warum?

Da reicht ein Wort: Apokalyptisch.

Wenn man einem Serienmörder gegenübersitzt - wie fühlt sich das an, was strahlt er (anders als andere Menschen) eventuell aus?

Sie sind eitel, das heißt, sie versuchen, sich im Knast gut darzustellen. Die Ausstrahlung der meisten ist ruhig, ehrlich und offen. Das ist gut zu erkennen auf Videos beispielsweise von Jeff Dahmer und Samuel Little, die im Internet zu finden sind. 

Abgesehen von der immensen Anzahl an Opfern: Was machte Garavito als Serienmörder so einzigartig? Weshalb hat er dein Interesse geweckt? Was hat dich dazu gebracht ihn persönlich kennenlernen zu wollen?

Niemand wollte mit ihm reden. Meine Kolleginnen und Kollegen in Bogotá meinten zu mir, er sei ein Monster, kein Mensch, und Monstern nehmen sie weder Blut ab noch reden sie mit ihnen. 

Hattest du auch Kontakt zu direkt Betroffenen, wie den Familien seiner Opfer, oder ermittelnden Beamten? Wenn ja, was haben sie dir über ihre Perspektive auf die Morde und ihre Aufklärung erzählt?

Es war wegen der Entführungen zu gefährlich, ins ländliche Kolumbien zu reisen. Sogar von meinem Patenkind in Kolumbien habe ich seit langem nichts mehr gehört, es ist wirklich nicht einfach dort. Auch die Polizei konnte mich kaum schützen. In Villavicencio haben mein Übersetzer Miguel, der heute Richter ist, und ich alleine in einem riesigen Raum gefrühstückt, bewacht von zwei Menschen mit Maschinengewehren im Anschlag neben uns. Ich habe versucht, mit der Polizei eine Art Fonds für die Opfer-Familien einzurichten, das war wegen der vollständigen Bestechlichkeit der Behörden aber unmöglich. Den Müttern der verschwundenen Kinder hat die Polizei anfangs auch oft nicht geglaubt. Das war sehr hart für alle, im Nachhinein auch für die Polizistinnen und Polizisten, die schwere Schuld-Gefühle haben.

Schwer traumatisiert ist auch der Staatsanwalt des Falles. Ich habe zuletzt nicht mehr mit ihm gesprochen, da er echt "weg" war, wenn er vom Fall berichtete. Das letze, was er mir sagt, war, dass ihn vermutlich Gott ausgewählt hat, diese Sache zu bearbeiten, anders konnte er damit nicht mehr leben. Er war auch nicht mehr zu stoppen, wenn er anfing, darüber zu sprechen. 

Letztlich wurde das ganze Land schwer mitgenommen. Die beteiligten Polizistinnen und Polizisten in einerm abgelegenen Gebiet, Garavito selbst, ein befreundeter Priester, der selbst mal Kokain-Schmuggler und im Knast war und ich waren vielleicht die einzigen, die völlig offen miteinander über die Sache geredet haben.

Garavito wird in Berichten als kooperationsbereit bei der Aufklärung bezeichnet. Ich hatte beim Lesen der Nachrichten von damals den Eindruck, dass er nicht wirklich Reue für die Morde gezeigt hat? Wie hast du ihn erlebt?

Antisoziale Narzissen haben im Gehirn eine Veränderung, die es ihnen unmöglich macht, Reue zu empfinden, wie sie "normale" Menschen kennen. Garavito hat sich selbst — teils zurecht, er hatte eine Kindheit und Jugend, die ich niemandem wünsche — bemitleidet. Er hat mir berichtet, dass ein Junge, der ihm erzählte, sexuell missbraucht worden zu sein, ihm leid tat. Das erinnerte ihn an seine Kindheit. Er hat das Kind danach tot gefoltert.

Wie hast du seine Situation im Gefängnis wahrgenommen? Er hatte offenbar Kaffee in Haft, wie ich in einem Instagram-Post von dir gelesen habe, das erscheint mir ungewöhnlich. Wer hat ihm diese Dinge besorgt? Meinst du er wollte etwas damit bezwecken, dir etwas "rares" anzubieten?

Er hatte Geld. In deutschen Knästen kannst du auch Handies und Drogen haben, soviel du willst, wenn du genügend Verbindungen hast. Da Garavito ein Muster-Häftling war und zusätzlich Geld hatte, lief das problemlos. Als ich das letzte Mal bei ihm war, wurde ich komplett (ganz komplett, hüstel) durchsucht. Ich durfte nichts mitbringen. Er wusste das und hatte alles vorbereitet, samt Aufnahme-Gerät, Stiften, Papier und Ersatz-Batterien. 

Wie war deine Reaktion auf eine mögliche Freilassung auf Bewährung? Wäre er eine erneute Gefahr gewesen? Wäre eine Rehabilitation realistisch gewesen?

Er hatte sicher keine Lust, nochmal in den Knast zu gehen. Bewährung ist in seinem Fall sinnlos, da er sich unmöglich irgendwo hätte eingliedern können. 

Niemand hätte ihm geholfen oder helfen können: Er wäre draußen in Tagesfrist tot gewesen, wenn er erkannt worden wäre. 

Vermutlich wäre er blitzschnell abgetaucht. Darin war er sehr gut und es ist in Kolumbien wegen der weiten Gebiete und des Chaos auch einfach. 

Es ist zwar möglich, dass er wie Dennis Rader einfach aufgehört hätte. Allerdings — das ist aber nie öffentlich berichtet worden — hat Garavito auch mögliche Zeuginnen und Zeugen getötet. Könnte also sein, dass er noch aus anderen Gründen als den klassisch-serienmördermäßigen weiter getötet hätte. 

Am ehesten hätte man ihn mit Bildung "rehabilitieren" können, denn die hat er wirklich ersehnt.

Unabhängig davon: Was soll ein Serienmörder tun, um das Leid der Familien auch nur ansatzweise wieder gut zu machen? Damit tun sich ja schon Allerwelts-Mörder so schwer, dass die meisten niemals mit den Opfer-Familien reden. Soweit ich es beurteilen kann, ist Wiedergutmachung für Menschen wie Garavito schon rein sachlich unmöglich. Viele der Mütter haben auch erfahren, wie er die Kinder getötet hat. Da gibt es endgültig nichts mehr zu verzeihen.  

Garavito wusste das vermutlich. Im Gefängnis ist er Christ geworden und hat auf den jüngsten Tag und göttliche Vergebung gehofft — das habe ich von ihm schriftlich. Er hat mir sogar einmal geschrieben, dass er hofft, dass Gott auch mich beschützt. Tja.

Die Zahl seiner Opfer wurde immer wieder unterschiedlich angegeben (oft zwischen 170 und 190)- du gehst in deinen Texten von einer deutlich höheren Zahl aus, worin begründet sich deine Annahme?

Aus den polizeilichen Akten. Es ist normal, dass nur das angeklagt wird, was vor Gericht gut darzulegen ist. Das hat aber — in allen Ländern — nicht immer etwas mit der echten Opfer-Zahl zu tun. Die Polizei stand zudem eh schon in ungutem Licht da, weil sie Garavito nicht früher erkannt hatte. Er ist ja nur durch Zufall im Knast aufgeflogen, wo er unter falschem Namen saß.

Hast du seine Angst davor im Gefängnis vergiftet zu werden als realistische Angst wahrgenommen?

Nein. Wir haben uns wirklich gut verstanden. Er war der einzige Experte für seinen Fall, daran habe ich keinen Zweifel gelassen. Wir haben uns ernst genommen. 

Wurde dir etwas zum Tod Garavitos mitgeteilt? Ich habe nur etwas zu "gesundheitlichen Problemen" gefunden.

Ja, er hatte Blutkrebs. Ich bin bis heute mit den Polizisten in Verbindung. Sie hatten viele Fragen und sind auch nach wie vor schockiert.

Warum denkst du haben die Behörden ihn bei seiner Verhaftung im April 1999 nicht direkt mit den Morden in Verbindung gebracht?

Weil es wie eine Sexualstraftat mit überlebendem Kind aussah. Das ist in armen Ländern leider nichts allzu ungewöhnliches.

Wann hast du Garavito das letzte Mal gesehen/Kontakt zu ihm gehabt?

Vor ein paar Jahren über seinen Neffen, mit dem ich Briefe und Mails geschrieben habe.

Warum meinst du hat er Jahre nach deiner ersten Anfrage doch mit dir sprechen wollen?

Er hat sehr schnell mit mir gesprochen. Wir mussten nur die Reise klären, mit der Staatsanwaltschaft reden, eine Unterkunft im Nichts besorgen und natürlich Übersetzer. Miguel hatte nach einem Treffen mit Garavito geschworen, nie wieder eine Zehenspitze nach Kolumbien zu bewegen (seine Worte). Zudem brauchte ich jemanden, der den starken örtlichen Dialekt verstehe, alles mitschreiben konnte und sich von Garavito nicht einwickeln liess.  

Anhand der Verbrechen möchte man sagen: Garavito war ein Monster. War er das?

Ist mir egal, denn die Bewertung hilft niemandem. Wichtiger ist, dass er ehrlich geredet hat und wir dadurch etwas für die Vorbeugung kommender Taten durch ähnliche Menschen lernen konnten. Die Toten werden nicht mehr lebendig. Aber es gibt vielleicht auch durch seine Hilfe weniger neue Tote. Mehr kann ich von einem Serienmörder nicht erwarten, der sich normalerweise für nichts außer sich selbst interessiert.

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Literaturseiten München: Ganz tief unten

Quelle: Literaturseiten München, Februar 2012

Von Michael Berwanger

Wir haben das an dieser Stelle ja schon oft erörtert. Es gibt nichts Schlimmeres als die Realität. Kein Autor kann sich ausdenken, was in Wirklichkeit an Brutalität oder bestialischem Verhalten von Menschen in ihrem krankhaften Wahn verbrochen wird. Und so hat Mark Benecke [...] mal wieder zur Feder oder doch eher zur Tastatur seines Rechners gegriffen und in elf Kapiteln schier unglaubliche Fälle von Verbrechen zusammengetragen, im wahrsten Sinne seziert, durchleuchtet und bewertet.

Mark Benecke ist nicht einfach nur Autor, sondern einer der bekanntesten und gefragtesten forensischen Biologen, die es in Deutschland gibt. Nach eigener Angabe versessen auf alles, was uns „Normalos“ eher den Ekel die Kehle hochtreibt: Käfer, Gewürm, Schimmel und Bakterien. [...] 

Normalerweise sollte das Aussehen von Autoren, die hier besprochen werden, keine Rolle spielen, aber diesmal sei explizit eine Ausnahme gemacht: Mark Benecke, ein großer schlanker Anfangsvierziger ist flächendeckend tätowiert (nebenbei bemerkt auch Vorsitzender des Vereins ProTattoo), trägt diverse Piercings, meist einen Walrossschnauzbart und schwarze Mäntel. Umgangssprachlich würde man ihn als Gruftie bezeichnen. Seine Frau steht ihm da nur wenig nach: mit rot gefärbten Haaren, Piercings und ebenfalls schwarzen Klamotten ist sie ein wunderbares Pendant zu ihrem Mann Mark. Lassen Sie sich vom Schein nicht trügen.

Mark Benecke ist Spezialist für forensische Entomologie, studierte Biologie, Zoologie und Psychologie, er promovierte über den genetischen Fingerabdruck und absolvierte diverse polizeitechnische Ausbildungen im Bereich der Rechtsmedizin in den USA. Benecke wird als öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger herangezogen, um biologische Spuren bei vermuteten Gewaltverbrechen mit Todesfolgen auszuwerten. Dazu ist er Autor mehrerer populärwissenschaftlicher Bücher, Gastherausgeber für die Forensic Science International und Mitglied im Wissenschaftsrat der Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften. Dass er darüber hinaus noch die Punkband Die Blonden Burschen gegründet hat und NRW-Vorsitzender der Partei Die PARTEI ist, komplettiert das Bild aufs Schönste. 

Jetzt hat er also nach „Mordspuren“, „Mordmethoden“ und „So arbeitet die moderne Kriminalbiologie“ seinen neuesten Band „Aus der Dunkelkammer des Bösen“ bei Lübbe veröffentlicht. Diesmal geht er mehr auf die psychologischen Gründe und Verwerfungen der Täter ein. [...]

So schreibt er als erster umfassend über den Kolumbianer Luis Alfredo Garavito Cubillos, der zwischen 1992 und 1997 etwa 300 (in Worten: dreihundert) Jungen gefoltert und danach getötet hat (nicht haben soll). Dabei beleuchtet er sowohl die Psyche des Täters als auch die einer Gesellschaft, die solche Szenarien nicht rechtzeitig erkennen will. Im Eingangskapitel berichtet er von seinen Untersuchungen, die er beim FSB (ehemals KGB) in den Räumen des Moskauer Archivs unternommen hat. Forschungsgegenstand waren die Zähne und die Schädeldecke Adolf Hitlers. Zum Leidwesen der Russen konnte er beweisen, dass die archivierte Schädeldecke nicht Hitler gehört haben kann. [...] Der Fall Josef Fritzl sei – nach Aussage der Beneckes – kein Einzelfall. Sie arbeiten exakt heraus, welche psychischen Störungen zu solchen Untaten führen und belegen mit weiteren Fällen, wie etwa dem der Täter Wolfgang Priklopil (der Peiniger von Natascha Kampusch) oder Viktor Mokhov, dass solche Störungen häufiger vorkommen, als uns recht sein kann. In den anderen Kapiteln werden u. a. Lustmord, Nekrophilie und tödliche Zwiste unter Nachbarn beleuchtet, das ganze Grausen also, das der Mensch in der Realität für seinen Mitmenschen bereit hält auf 430 Seiten. Nichts für schlechte Nerven.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Agentur