Universelles Zersetzer-Netzwerk

Wissenschaft/Medizin/Kriminalität/USA/International/Mikrobiologie/Forensik

Mikrobenbesiedlung von Leichen zeigt Todeszeit an

Von Walter Willems, dpa

Wie Mikroben Leichname besiedeln, läuft stets ähnlich ab - unabhängig von Ort und Klima. Bei der Analyse stoßen Forscher auf ein «universelles Zersetzer-Netzwerk». Es kann auf die Todeszeit hinweisen und zur Aufklärung von Verbrechen beitragen.

Boulder/Köln (dpa/fwt) - Die Erkenntnisse könnten zur Aufklärung von Straftaten beitragen: Nach dem Fund von Leichen kann allein die Analyse der dortigen Mikroorganismen auch noch nach Wochen Aufschluss über die ungefähre Todeszeit geben. Unabhängig von Bodentyp, Klima und Jahreszeit laufe die Zersetzung durch Pilze und Bakterien stets nach einem ähnlichen Schema ab, schreibt ein internationales Forschungsteam im Fachblatt «Nature Microbiology». Die Gruppe um Jessica Metcalf von der University of Colorado in Boulder stützt ihre Erkenntnisse auf direkte Beobachtungen verwesender Leichname in verschiedenen Regionen der USA zu unterschiedlichen Jahreszeiten.

Zersetzungsprozesse von organischer Materie seien für das ökologische Verständnis fundamental, bisher aber nur an Pflanzen gut erforscht, weniger dagegen an Wirbeltieren, darunter Menschen, schreibt die Gruppe. Hier seien die Vorgänge wesentlich komplexer: Während Pflanzen weitgehend aus Zellulose bestünden, müssten bei tierischen Überresten auch Fettstoffe und Proteine abgebaut werden. Kenntnisse dieser Abläufe seien nicht nur wichtig für die Entsorgung von tierischen Überresten etwa nach Massensterben, sondern auch für das schon in den USA erlaubte und auch in Deutschland diskutierte Kompostieren von Menschen und insbesondere für forensische Ermittlungen zur Aufklärung von Straftaten.

«Es war bisher unklar, wie Unterschiede von Klima, geografischer Lage und Jahreszeit die Ansammlung und Wechselwirkungen mikrobischer Zersetzer beeinflussen», heißt es. Um dies zu klären, platzierten die Forschenden insgesamt 36 Leichname, die gespendet worden waren, auf eigens dafür vorgesehenen Testflächen in drei verschiedenen US-Regionen. Jeweils drei Leichname wurden zu den vier Jahreszeiten auf Forschungsflächen in den Bundesstaaten Colorado, Tennessee und Texas auf dem Boden abgelegt. In den folgenden drei Wochen analysierte das Team die Zerfallsprozesse und die beteiligten Mikroorganismen akribisch.

Anfangs nahmen noch zufällige Faktoren der Umgebung Einfluss, vor allem die ohnehin im jeweiligen Boden vorhandenen Bakterien und Pilze. Und die Zersetzung der Körper erfolgte im feuchteren Klima von Tennessee etwas schneller als im deutlich trockeneren Süden von Texas. Doch generell etablierte sich im Lauf der Zeit stets eine ähnliche Gemeinschaft aus etwa 20 typischen Mikroben, unabhängig vom Klima.

Das Team spricht von einem «universellen Zersetzer-Netzwerk», zu denen viele sonst sehr seltene Mikroorganismen zählen. So standen beim Abbau von Aminosäuren Bakterien der Art Oblitimonas alkaliphila im Zentrum, daneben fanden sich unter anderem Vertreter der Gruppen Ignatzschineria, Wohlfahrtiimonas, Bacteroides, Vagococcus, Savagea, Acinetobacter und Peptoniphilaceae. Teilweise versorgen sich diese Bakterien gegenseitig mit Nährstoffen.

Eine wichtige Rolle spielten auch Pilze wie etwa Ascomycota, Yarrowia und Candida. Vermutlich, so betont die Gruppe, übernähmen die Pilze vor allem das Zersetzen komplexerer Stoffe wie etwa von Lipiden und Proteinen, während die diversen Bakterien sich vermehrt um die Abbauprodukte wie etwa Aminosäuren kümmerten. Die Mikroorganismen gelangen demnach hauptsächlich über Insekten wie etwa Fliegen zu den Überresten. «Ähnliche Mikroben kommen zu ähnlichen Zeiten während der Zersetzung, unabhängig von der Anzahl denkbarer Umwelteinflüsse», sagt Metcalf.

Die genaue Zusammensetzung dieser typischen Netzwerke könne Aufschluss geben über den Todeszeitpunkt, schreibt das Team. Dies gelte insbesondere für jene Mikroben, die die Haut zersetzen - etwa das dort häufigste Bakterium Helcococcus seattlensis. Dies liege vermutlich daran, dass das Mikrobiom der Haut bei verschiedenen Menschen sehr ähnlich sei - im Gegensatz zu den Böden der jeweiligen Region.

Letztlich entwickelte das Team ein Modell, das allein anhand der Mikroorganismen den Todeszeitpunkt recht zuverlässig auf plus-minus drei Tage bestimmen konnte. «Dies ist für die Forensik ein nützlicher Zeitrahmen, der bei Kriminalfällen hilft und es Ermittlern ermöglicht, entscheidende Zeitachsen aufzustellen», heißt es. Das Modell könne noch verfeinert werden, etwa durch Berücksichtigung des Körper-Masse-Index oder der vorausgegangenen Niederschlagsverhältnisse. 

Ein weiteres Ergebnis: Auch die Umgebung kann dem Forschungsteam zufolge die Anwesenheit von Leichen oder Tierkadavern verraten. Bei der Zersetzung wird demnach ein komplexer Nährstoff-Cocktail frei, der den Pflanzenbestand in dem Bereich teilweise abtöten und umstrukturieren kann. Dies beruhe auf dem hohen Eintrag von Stickstoff - meist in Form von Ammonium - sowie von Kohlenstoff und Phosphor.

Der deutsche Experte Mark Benecke spricht von einer konsequent durchgeführten, sehr beeindruckenden Arbeit. «Das Team hat die Netzwerke angeschaut, Genome sequenziert und Stoffflüsse gemessen», sagt der Kölner Kriminalbiologe. «Dabei sind sie auf typische Prozesse der Leichenbesiedlung gestoßen.» Dass man allein mit diesen Besiedlungsgemeinschaften den Todeszeitpunkt eingrenzen könne, sei eine große Hilfe bei Ermittlungen, so der Forensiker. Dann könnten Kriminalbeamte etwa Handydaten oder Überwachungskameras gezielter auswerten.

[Studie (nach Ablauf der Sperrfrist)] (https://www.nature.com/articles/s41564-023-01580-y)

[Studie in "Science" (2015)] (https://www.science.org/doi/10.1126/science.aad2646)

[Forensische Forschungsstation in Colorado (FIRS)] (https://www.coloradomesa.edu/forensic-investigation-research-station/forensic-investigation-facilities.html)

Fachartikelnummer DOI: 10.1038/s41564-023-01580-y


Mind your decompositional assumptions

Forensic Sciences 2022


FBI Academy

1996


Die Leiche ist für den Fall nicht das entscheidende

Der Westen 2019


Zum Welthumanist*innen-Tag

Interview