Forensiker Mark Benecke: „Die Leiche ist für den Fall nicht das Entscheidende“

Quelle: Der Westen, 13. März 2019

Bettina Steinke

Vor drei Wochen wurde die 15-jährige Rebecca Reusch das letzte Mal gesehen. Seitdem fehlt von der jungen Berlinerin jede Spur. 

Suchmaßnahmen blieben bislang ohne Erfolg, der Tatverdächtige schweigt nach wie vor in Untersuchungshaft. Wie dieser Fall ausgehen wird, weiß zu diesem Zeitpunkt niemand. Auch Mark Benecke, der bekannteste Forensiker Deutschlands sagt: „Gerade weil ich so viel Fälle gesehen habe, kann ich nicht sagen, wie dieser hier ausgehen wird.“

Im Interview mit DER WESTEN spricht der Kölner Kriminalbiologe über den aktuellen Fall aus Berlin. Erklärt, wieso die Leiche nicht relevant für eine Verurteilung ist und verrät, welcher Fall ihn an Rebecca Reusch erinnert.

Foto: Jan Duefelsiek

Foto: Jan Duefelsiek

Herr Benecke, hatten Sie schon einmal mit einem vergleichbaren Fall zu tun?

Es gibt immer wieder ähnliche Fälle. Die meisten Vermissten werden allerdings sehr schnell wiedergefunden. Im Fall Rebecca geht die Polizei ja offensichtlich von einem Tötungdselikt aus und bearbeitet den Fall – anders als weniger auffällige Vermisstenfälle – spurenkundlich sehr intensiv.

Wie kann man sich die Tatortarbeit vorstellen, wenn Tatort nicht gleich Leichenfundort ist?

Das spielt keine Rolle. Wenn die Polizei sagt 'Wir holen jetzt das große Besteck raus und nehmen das ernster', dann wird dort alles umgedreht. Egal, ob da eine Leiche liegt oder nicht. Die spurenkundliche Seite bleibt immer gleich – nur mit dem Unterschied, dass die Leiche nicht auf Spuren wie Sperma, Fasern, Haare, Blut untersucht werden kann. Wenn du einen Ort hast, gehst du immer gleich vor: Alles in ihm ist interessant.

Ist es im Fall Rebecca Reusch nicht besonders schwer, Spuren im Haus des Schwagers zu sichten? Immerhin hat sich das Mädchen oft dort aufgehalten.

Ich würde fast sagen, es ist nicht schwieriger. Wir müssen kriminaltechnisch ja immer damit rechnen, dass sich Spuren überlagern können. Auch wenn du mit der umgekehrten Annahme reingehst, dass sich Opfer und Täter an einem Ort nie aufgehalten haben könnten, sitzt du eigentlich in der Falle. Denn woher willst du wissen, dass die beiden nicht doch schon mal da waren?

Könnten durch die späte Hausdurchsuchung Spuren verlorengegangen sein?

Das könnte natürlich sein. Je mehr Zeit vergeht, umso mehr Spuren könnten auch verlorengehen. Zum Beispiel im Freien durch Regen oder in einem Auto, das zwischenzeitlich gereinigt wird.

Die Beamten sollen ein Oberteil von Rebecca Reusch gefunden haben. Was passiert mit dem Fund?

Mit so einem Kleidungsstück kann man sehr viel anfangen. Man kann zum einen die Frage stellen, wer es schon mal gesehen hat, wer es kennt – von früher oder auch von jetzt. Zum anderen sehr wichtig: Findet sich auf dem Kleidungsstück Erbsubstanz? Wenn ja, von wem? Was ist mit Haaren, Speichel, Blut, Sperma? Wichtig ist auch, wo an dem Kleidungsstück die Spuren gefunden werden.

Selbst das Material des Kleidungsstückes spielt eine Rolle. Es entscheidet, wie leicht sich Fasern auf Personen oder Gegenstände übertragen.

Die Polizei geht davon aus, dass Rebecca Reusch getötet wurde. Kann die Staatsanwaltschaft ohne ihre Leiche überhaupt einen Täter überführen?

Es gibt Fälle, in denen das Gericht Angeklagte wegen Mordes verurteilt hat – auch ohne Leiche. Im Fall Rebecca könnte die Polizei zu dem Schwager sagen: 'Hören Sie mal, Sie waren in der Nähe, Sie haben keine Erklärung für das Handy, Ihr Verhalten war merkwürdig. Geben Sie es doch zu.' Wenn eine Person es aber nicht war, sagt sie dann natürlich: 'Ich wars aber nicht, was soll ich jetzt sagen?'

Es gibt auch wirklich Fälle, in denen sich herausstellt, dass der Verdächtige es eben nicht war. Ich kann auf Anhieb und ohne Übertreibung hundert Fälle aus den vergangenen 20 Jahren nennen, in denen die Spuren klar ergeben haben, dass es nicht der Verdächtige gewesen ist. Am Ende hängt es vom Gericht ab, wie es die Ermittlungsergebnisse bewertet.

Rechtlich gibt es dabei mehrere Möglichkeiten:

Das Gericht sagt, der Schwager war’s – eben weil es viele Hinweise gibt, die in den Augen des Richters eine Indizienkette bilden.

Es ist aber genauso möglich, dass es einen Mangel an Beweisen gibt. Obwohl das Gericht ihn für schuldig hält. Dann kommt es erst einmal nicht zur Verurteilung. Oder es gibt eben keine Beweise — dann kommt es vielleicht noch nicht einmal zur Anklage. Das kann derzeit niemand vorhersagen. 

Auch ein Freispruch wäre möglich. Aus spurenkundlicher Sicht ist nicht die Leiche das Entscheidende, sondern der räumlich-zeitliche Zusammenhang der vorhandenen Spuren.

Gibt es ein anderes Tötungsdelikt, das Sie an den Fall Rebecca Reusch erinnert?

Es gab einen Fall im Juli 2014 in Karlsruhe, der mich ein bisschen an den Fall Rebecca erinnert. Die Mutter zweier Kinder war verschwunden, ihr Ehemann meldete sie als vermisst. Die Indizien sprachen dafür, dass der Mann seine Frau getötet hatte. Doch die Leiche wurde nicht gefunden. Über 80 Zeugen sagten vor dem Landgericht Karlsruhe aus. Das Gericht sprach den 45-Jährigen schuldig und verurteilte ihn ohne Leiche zu neun Jahren Haft. Der BGH bestätigte das Urteil. Jeder Fall ist ein Einzelfall und kann anders ausgehen.


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