Nicht grübeln. Messen!

Quelle: Journal of Anomalistics • Zeitschrift für Anomalistik (ISSN 2747-9315), Band 21(1), 2021, S. 132—135

Das Skeptiker-Syndrom: Skeptiker trifft auf Skeptikerbewegung: Kommentare

(Hier gibt es den Artikel als .pdf)

MARK BENECKE

Hier, im Nebel, sind wir alle gleich. (Villon)

Anmerkung: Da in den beiden Artikeln, die mir vorgelegt wurden, Daten, Zahlen und Namen allzu rar sind, habe ich mich für einen knappen, persönlichen Kommentar entschieden, in dem ich mich nur auf die Erfahrungen aus unserem Labor beziehe.

Die Auseinandersetzung zwischen skeptischen Gruppen — damit meine ich Menschen, die naturwissenschaftliche Regeln mögen, den Glauben an Übersinnliches und klassisch Jenseitiges und Göttliches aus öfters auch privaten Gründen aber nicht — auf der einen Seite und den auf teils andere Weise dem Wundersamen zugewandten Anomalistinnen und Anomalisten wirkt, wie alle Geschwister-Streitereien, aus der Ferne heiter und ist aus der Nähe heftig (Benecke & Bauer, 2017). So ist es, wenn Lebewesen im Kern dasselbe wollen, aber Versöhnlichkeit nicht ihr persönliches Hauptanliegen ist und wirtschaftlicher Druck sie nicht zu Verhandlungen zwingt.

Ich bleibe entspannt. Bis vor einigen Jahren wusste ich beispielsweise weder, was der Unterschied zwischen den agnostischen und den atheistischen Denkgebäuden ist, noch — als ich die Lösung dann nachschlug —, was das mit Skeptizismus oder Paraforschung zu tun haben sollte. Für mich gab und gibt es die Welt des im Labor Prüf- und Errechenbaren sowie eine weitere Welt, in der alles möglich und erlaubt ist, solange es andere nicht unfair beschränkt. Schon ist die Denklawine losgetreten: Definiere „fair"! Was sagen Philosophen (meist Männer) der letzten zweitausend Jahre dazu? Was ist „jenseitig" und was „göttlich"? Menschen anders grüblerischer Natur fragen stattdessen, ab wann etwas als geprüft gilt. Ändert sich der Stand unseres Wissens nicht dauernd? Negativ-Psi - Sie wissen schon.

Die einzige Technik, die ich anwende, ist daher das unbefangene Testen. Das ist zwar mühsam, teuer und anstrengend, und noch nie habe ich dadurch meine Miete, ein Laborgerät oder meine Nudeln bezahlt. Aber ich habe immer etwas gelernt: Es war ja zuvor nicht getestet. Auch in angeblich glasklaren Fällen („kann nicht sein" / „kann ja nur so sein") tauchen schöne Ergebnisse auf.

So lernte ich etwa, dass es egal ist, ob jemand glaubwürdig Blut schwitzt oder ihm niemand glaubt, auch er sich selbst nicht so recht. Ich fotografiere einfach die Spuren, untersuche sie chemisch, ordne sie zeitlich und räumlich ein und zack. Es ist bedeutungslos, ob Gemälde weinen können oder nicht. Ich teste einfach die Tränen (Benecke, 2018b, 2019).

Wenn sich Blut in Neapel verflüssigt, fahre ich hin, rede mit dem Priester, mache bei der Feier mit und zeichne alles auf, so gut es geht (Benecke, 2004, 2018a, 2021). In Neapel ging das sehr gut, denn ich kannte die sozialen Regeln: Früher war ich Messdiener in Köln, habe im Kloster meinen Zivildienst gemacht und auf dem größten gemischten Treffen von Menschen, die kleineren Religionen anhängen, in einem Wald in Thüringen, mitgemacht. Und nein, ich wurde nie enttäuscht. Ich hatte nichts erwartet, außer, dass ich neugierig zusehen darf.

Setianerinnen und Setianer, Chaos-Magier, Wiccanerinnen und Wiccaner sowie eine Hekate-Priesterin, die jeweils live und in der von ihnen gewählten Umgebung vorgemacht haben, wie sie sich ihre Welt vorstellen und erschaffen — super. Finden Sie komisch? Ich nicht. Der Unterschied ist, dass ich mittendrin war, während andere nachgedacht haben.

Am Rand: Haben Sie schon einmal einen gemeinsamen, „voll gültigen" Gottesdienst von Evangelikalen mit Katholiken erlebt? Oder einen gemeinsamen Fachkongress von skeptischen und paraforschenden Gruppen? Mehrere der angeblichen „Sekten" oder „neuen Religionen" kriegen so etwas jedenfalls friedlich und neugierig hin. Doch das gilt natürlich auch für Menschen, denen höhere Kräfte abhold sind.

Warum also erlaube ich Unbewiesenem nicht, mir die Nerven zu zermürben? Weil ich, statt zu meinen, zu glauben oder „vernünftig" zu denken, doch testen kann, ob sich Gegenstände bewegen, Gedanken übertragen lassen oder ein Ritual mit Feuerkelch und Federfäden Menschen glücklich macht. Dazu muss ich nur mit allen reden, zu ihnen ehrlich sein, zuhören und sauber messen. Mein Gott, so schwierig ist das doch nicht. Pun intended.

Religiös bin ich trotzdem: Ich bin Dudeismus-Priester. Diese Religion kennen Sie nicht? Das finde ich jetzt komisch. Dass vorannahmenfreies Messen weiter führt, soll ein für uns neues kriminalistisches Beispiel veranschaulichen. Mein Team und ich fragten uns zehn Jahre lang, warum bestimmte, plötzliche Gewaltausbrüche bei Zwanzig- bis Dreißigjährigen stattfinden. Jahrelang suchten wir nach Kokain und Aufputschmitteln der amphetaminigen Art und fanden sie auch.

Doch erst gestern (wirklich gestern) entdeckte ich an einem Tatort unsere blinde Stelle: Manche der Täter spritzen sich zusätzlich Testosteron. Das liest sich möglicherweise harmlos, aber kleben Sie sich einmal ein paar Testosteron-Pflaster auf die Haut. Sie werden staunen, was mit Ihnen passiert (es muss kein Gewaltausbruch sein, aber prüfen Sie es selbst).

Hätten Sie nun „vorher" schon an Testosteron gedacht? Logisch wäre es, doch an Logik glaube ich nicht. Denn wenn sie eine nennenswerte Kraft wäre, würde niemand mehr Tiere „verbrauchen" oder seine Kinder schlagen: Beides ist „logischer Weise" zerstörerisch und sinnlos.

Es ist auch niemand darauf gekommen, Testosteron in Umfragen oder Versuchsdesigns aufzunehmen. Keiner von uns, weltweit, ist auf diese tatsächlich nahe liegende Idee gekommen. Es war der Elefant im Raum, die vergessene Einwirkung, der durch Denken für uns nicht erkennbare Umwelt-Einfluss. Wir sind stattdessen bei einer Tatort-Untersuchung durch Zufall und Messen darauf gestoßen. Nicht durch Denken, nicht durch Wissen, nicht durch Logik, sondern durch Hinausgehen, Neugier und Unvoreingenommenheit. Selbst der “Fall Konnersreuth" mit der regelmäßig aus Augen und Händen blutenden Therese Neumann sowie die Nagelungsart bei der Hinrichtung von Jesus Christus (egal, ob sie stattfand oder nicht) ließen sich ohne Lebensnähe (so heißt das vor Gericht) und Literatur im Labor klären: Durch die Verteilung der Blutspuren-Muster und die probeweise Nagelung von Leichen (Benecke, 2019, 2021).

Das Messen klappt auch in anders durchbluteten Fällen. Wir haben Menschen, die sich dauerhaft für Vampyre, Drachen oder Geistwesen halten, einfach gefragt, wie sie auf diesen Gedan-ken kommen. Ihre Antworten waren so klar, beweisbar (Lichtempfindlichkeit!) und einfach, dass wir Gegrübel, das dergleichen Identitätsgruppen bei fernerem Nachdenken erzeugen, nun mit Zahlen und menschlich in aufklärerische Gefilde steuern (Benecke &. Fischer, 2015).

Damit noch rasch zu Geisterjäger-Teams. Diese Gruppen und Grüppchen sind öfters untereinander so zerzankt wie sonst nur Skeptiker:innen und Anomalistiker:innen, werden aber öfters von beiden gleichermaßen belächelt. Von mir nicht. Lieber helfe ich den Teams, wenn sie mich um Hilfe fragen, und habe bisher jedes Mal die Erfahrung gemacht, dass sie gemeinsame Messungen schätzen und verstehen — aber jenseits dessen ihren Glauben behalten möchten. Kein Problem.

Also, was ist nun wichtiger oder richtiger: Skeptisches oder anomalistisches Herangehen, Gottlosigkeit oder Göttinnen, kreisförmige oder gradlinige Zweifel, kindliches oder besser kluges Jenseitsdenken? Well, das sind alles lehrreiche Übungen im Umgang mit dem Rest der Welt. Bei solchen Übungen kann mensch sich auch ruhig an scheinbaren oder echten Gegnerinnen und Gegnern reiben. Aber das Abgleiten ins Unprüfbare sollte sich nicht einfressen. Grübeln lenkt vom Messen ab.

Zusammenarbeit oder der Einklang von Meinungen ist übrigens weder bei Geistesübungen noch im Labor nötig. Im Team macht es aber mehr Spaß. Vielfalt im Team verhindert dabei, dass wir versteckte Grundannahmen in die Tatsachen-Welt schleppen, nur weil sie mir gefallen oder irgendwann einmal eingeleuchtet haben.

Die Zeiten für Feindschaften der klassisch-geistigen und geistlichen Art sind aber sowieso vorbei. Seit unsere Erde den Brandtod stirbt (Dasgupta, 2021; United Nations Environment Programme, 2021), sind alte, weiße Gedanken Geschichte. Was jetzt noch hilft, ist messen. Das Weitere ist Glauben. Schön und Gut — aber eben Glauben. Und der ist, in den Worten des von mir bevorzugten Religionsstifters, des Dude Lebowski, „just, like ... your opinion, man".

Untersuchungen und Quellen

United Nations Environment Programme (2021). Making peace with nature: A scientific blueprint to tackle the climate, biodiversity and pollution emergencies.

United Nations Environment Programme (UNEP), Nairobi. https://www.unep.org/resources/making-peace-nature

Benecke, M. (2004). Das Blutwunder von Neapel. Skeptiker, 3/2004, 114-117,123.

Benecke, M., & Fischer, I. (2015). Vampyres among us! Volume III: A scientific study into identity groups and subcultures. Edition Roter Drache.

Benecke, M., & Bauer, E. (2017). Mark Benecke trifft Eberhard Bauer. https://home.benecke.com/ publications/mark-benecke-trifft-eberhard-bauer-in-freiburg-igpppicture (Kurzfassung in Skeptiker 3/2017, 147-153.

Benecke, M. (2018a). Das Leichen-Öl der Hl. Walburga. Skeptiker, 3/2011, 144-147.

Benecke, M. (2018b). Heilige Tränen? Skeptiker, 1/2018, 31-35. Benecke, M. (2019). Sicherung und Auswertung schwieriger Blutspuren: Blut-Schwitzen. Kriminalistik, 73,364-368.

Benecke, M. (2021). Ein Leben in Blut und Tränen. In Benecke, Mumien in Palermo (S. 29-83; 8. Aufl.). Lübbe.

Dasgupta, P. (2021). The economics of biodiversity: The Dasgupta Review. HM Treasury.

Mark Benecke arbeitet international als Kriminalbiologe. Bei seiner Vereidigung als Öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger für biologische Spuren schwor er vorgabegemäß, keine Unterschiede zwischen Menschen zu machen.


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