Das letzte Wort: Ohne Trara, Werbung oder dicke Eier

Quelle: Tätowiermagazin, 6/2012, Seite 144

Kolumne von Mark

In Tätowierläden gibt’s Hautbilder. Zweitens kommt man dort mit schrägen und interessanten Menschen zusammen. Drittens kann eine Tätowierstube auch Angelpunkt eines ganzen Stadtviertels werden – ohne Trara, Werbung oder dicke Eier. Eins dieser Studios ist das von Jörg in der Kölner Südstadt.

Unser stiller Held hatte als Angestellter fast zwanzig Jahre in der shoppingintensivsten Megastraße Deutschlands gepierct. Diese Ladenlage brachte vor allem Laufkundschaft – gut fürs Geschäft, schlecht für spannende Bodmod-Aufträge. Letztes Jahr schmiss Jörg den Job und gründete mitten auf einer seit der Römerzeit (genauer: seit fast zweitausend Jahren) bestehenden Straße sein eigenes Studio. Dort ist er umgeben von einer 1893 gegründeten Zoofachhandlung, einer Schnell-Reinigung, mehreren Bäckern und Supermärkten. Was in diesem bodenständigen Stadtviertel keiner geahnt hätte: Schon am Eröffnungstag rannten die Leute Jörg buchstäblich die Bude ein. Kölner sind halt nicht nur tolerant und opportunistisch, sondern auch verdammt neugierig.

Ein halbes Jahr später. Neben Shop-Hand Daniel und dessen Mutter (yep!) erblicke ich im Studio-Vorraum Laura. Sie arbeitet anderswo als Aushilfskellnerin mit vielen schönen Piercings und Transdermals. Mit Laura kuschelt auf der fetten Studio-Couch Sabrina, die Azubine aus dem Reisebüro nebenan. Kennengelernt haben sich die beiden natürlich wo? In Jörgs Laden. Sabrina war mit Jörg schon vorher privat befreundet. Also besuchte sie ihn und ließ sich dabei die Wimpern zupfen und die Haut durchstehen – so wie heute auch wieder. Die zwei Schmusekatzen wirken wie ultradicke Freundinnen. Kein Wunder: Bei Jörg sehen sie sich wohl öfter als ihre eigenen Familien. Selbst das Mittagessen (ehrlich gesagt: ein sehr spätes Frühstück) nimmt man täglich gemeinsam im Vorraum ein.

Fehlt noch ein Tätowierer. Das ist Alex aus der Stadt Niš in Serbien. Weil er ein Angebot des bekannten Kölner Tätowier-Studios »Stigmata« falsch verstanden hatte (»Ich dachte, die suchten einen festen Angestellten, es war aber nur ein Guest Spot gemeint, argh!«), musste er sich nach Ablauf der Gästefrist etwas einfallen lassen. Er tingelte also durch die nicht minder bekannten Läden »Skinworks« und »Cologne Ink«, bis er zuletzt bei Jörg landete. Apropos, ist sein Lieblingsessen im Kreis der Tattoo-Familie dort etwas Serbisches? »Nein, er will immer asiatisch«, tönt es aus allen Kehlen im Laden.

Seit kurzem hat des Tätowierers Ehefrau Marja nebst Mini-Sohnemann den deutschen Visums-Dschungel durchdrungen. Nun können sich alle drei ohne Billigflieger-Heckmeck sehen. Ratet mal, wo? Bonus für Alex in Deutschland: Er kann öfter als in der Heimat zarte Frauenhaut tätowieren. In Serbien ist Tätowiertsein nämlich noch Männersache. Dafür muss Alex jetzt aber öfters mal den Kölner Dom stechen.

Fragt sich nur, wie es Studio-Chef Jörg findet, dass neben jungen Damen eine serbische Jungfamilie, immer mehr Mitarbeiter sowohl des Supermarktes als auch des Bioladens gegenüber, Kölner Z-Promis sowie auch sonst so ziemlich jeder von der altehrwürdigen Einkaufsstraße nicht nur vor und im Laden abchillt, sondern sich auch gestochene, gezupfte oder sonstige Körperverschönerungen abholt? »Och, das ist eigentlich ganz lustig«, sagt er mit professioneller Gelassenheit, »ich bin halt ein Familienmensch.« Und zwar einer, der gleich ein ganzes Stadtviertel adoptiert hat.

Das gefällt natürlich ganz im Sinne von tätowierter Liebe und Frieden,

eurem,

Dr. Doom

Das letzte Wort: Wenn ich fürchte, alt zu werden

Quelle: Tätowiermagazin, 8/2013, Seite 144

Kolumne von Mark

Immer, wenn ich fürchte, alt zu werden, denke ich an Essie und das East Village. Vor 15 Jahren hatte ich gehört, dass – damals noch eine ultra-crazy Sache – die zweite Person weltweit eine Zungenspaltung durchgezogen hatte. Nach etwas Tammtamm trafen sich die mysteriöse Lady und ich vor meiner Haustür in New York – am St. Mark’s Place, der Straße mit der größten Tattoostudiodichte der Welt.

Essie trug damals zu meinem Erstaunen keine einzige sichtbare Bodymodification. Nicht mal ein Tattoo oder eine gefärbte Haarsträhne waren zu sehen. Zeit für ein Tässchen Kaffee.

Die Zungengespaltene hat zwar Sozialwissenschaften studiert, arbeitete nun aber als Türsteherin zur Mercury Lounge. Das ist einer der bekanntesten Musikschuppen der Welt, gleich auf der Houston Street in Manhattan. Darin hängen Leute wie Julian Lennon rum, um ihre Schulfreunde zu treffen. Uff.

Essie und ich wurden fette Freunde. Neulich horchte ich sie aber zum ersten Mal zu ihren Tattoos aus. Denn in der Berliner Strychnin Gallery hatte ein spannendes Gruselkunstwerk gehangen – zerhackt, aber eindeutig mit Essies Tattoos versehen. Original oder Fälschung?

»Also«, erläutert Mylady, »die tätowierten Feuerringe auf meinen Brüsten und über meinen Girly Bits (Vagina) kennst du ja. Ich wollte halt Feuer an meine sexuellen Hotspots bringen.« Die Flammentattoos ranken sich um dicke Scarifications von Bodmod-Pionier Keith Alexander (TM 08/2005). Von ihm erhielt Essie übrigens auch die größten Schamlippen-Plugs, die ich jemals gesehen habe.

»Eines Tages«, berichtet Essie weiter, »habe ich ein Backpiece mit einem japanischen Drachen gesehen. Mein Kumpel Needles arbeitete im Laden von Paul Booth. Über Jahre hinweg stach er mir ein Gewitterblitz-Tattoo, das mir über Rücken, Beine und Rippen reicht. Dieses Tattoo ist wunderschön, aber nicht so spannend wie meine Zungenspaltung.

Denn an die Tattoos habe ich mich gewöhnt und vergesse sie im Alltag einfach. Tätowieren an sich ist für mich allerdings das Größte. Besonders mit meinem zweiten Tätowierer, Dave Wallin, erlebe ich dabei das Verschmelzen von Kunst, Geist und Gefühl – wie bei den Suspensions, die ich früher gemacht habe.«

Und der zerhackte Torso in Berlin? War ein Projekt von Till Krautkrämer (http://cheaptattooremoval.net/), der damit »die Individualität der Tattoos übernehmen, kontrollieren und auf den Markt werfen« möchte. Ars est celare artem – Es ist Kunst, Kunst zu verstecken.

Heute janz kosmopolitisch der Eure, Dr. Doom

Das letzte Wort: Die düstere Welt der Annemie

Quelle: Tätowiermagazin 10/2013, Seite 144

Kolumne von Mark

Auf der Leipziger Buchmesse fiel mir Annemie sofort auf. Beim Wave-Gotik-Festival, ebenfalls in Leipzig, trafen wir uns daher ein paar Wochen später noch einmal. Hier ist Annemies Geschichte. Ich lasse sie so stehen, weil ich selber baff von der krassen Story und ihrem Mut bin.

»Ich bin total leseverrückt – Bücher sind mein Heiligtum. Mein Freund hat eins von dir gelesen, also bin ich zu deiner Lesung auf der Buchmesse in Leipzig gegangen. Mein Lieblingsautor ist der Phantastik-Autor Kai Meyer.

Die Idee für das Tattoo auf meinem Arm kam vor zwei Jahren ganz plötzlich. Ich habe mir sofort einen Tätowierer gesucht, auf der Convention in Frankfurt. Das war weit von der Heimat, drei Autostunden entfernt, aber ich wollte es einfach erleben, dieses Convention-Feeling, dort tätowiert zu werden. Nach meiner Nachtschicht – ich habe damals in einer Fabrik gejobbt – bin ich direkt los.

Das Motiv soll gegensätzlich wirken. Fröhlich mit kräftigen Farben und niedlich, aber eben ein Häschen, das sich sein Herz rausreißt. Ich kann mich damit identifizieren, mit dem Niedlichen etwas sehr Trauriges zu verbinden. Mir wurde zwar nicht das Herz herausgerissen, ich bin nicht tieftraurig und depressiv. Aber ich finde das Tattoo und die Stimmung schön. Ich möchte es auf mir haben und anderen präsentieren. Ich bin stolz, darauf angesprochen zu werden. Ich fühle mich einfach zu den schwermütigen und traurigen Motiven hingezogen, sie üben eine besondere Faszination auf mich aus. So ein Bild sagt mehr als viele Worte.

Das große Tattoo an der kompletten linken Seite hat auch keine traurige Geschichte. Gestochen hat es David von der Villa Dunkelbunt in Kassel. Ich hab ihm gesagt, dass ich zwei Orks möchte, die gerade eine Frau vergewaltigen. Sie soll sehr leidend aussehen, man soll ihr ansehen, dass es ihr Schmerzen bereitet und sie es nicht will. Die Orks sollen sehr brutal und maskulin wirken und sie mit einer Kette festhalten.

Das ist mir sehr wichtig, dass sie eine Kette um den Hals hat und zurückgezogen wird, und so hab ich ihm das auch beschrieben. Wir brauchten fünf Sitzungen, denn ich bin sehr wehleidig. Meine Mama war bei jeder Sitzung dabei und musste Händchen halten. Sie steht voll und ganz hinter mir, findet das toll und möchte jetzt auch selber ein Tattoo haben, um sich mit mir verbunden zu fühlen.

Ich werde immer gefragt, ob ich mal vergewaltigt wurde. Ob ich das damit verarbeite, aber das ist nicht so. Ich hatte eine ganz, ganz tolle Kindheit und eine ganz tolle Mama. Mir ging es eigentlich immer gut. Ich weiß nicht, warum ich mich gerade zu diesen düsteren und finsteren Motiven hingezogen fühle.

Ich komme aus einer kleinen, katholisch-spießigen Stadt. Ich wurde nie so akzeptiert, mit meinem Aussehen, mit den vielen Piercings und schwarzen Klamotten. Ich hatte auch ziemliche Probleme in meiner Ausbildung als Physiotherapeutin.

Aufgrund dessen habe ich sie abgebrochen. Das war sehr schade, aber das geht einfach nicht, so wie ich aussehe. Meine Piercings und die dunklen Augen, das wäre ja gruselig, haben die Ausbilder gesagt. Ich hätte die Piercings rausnehmen können, dann hätte ich die Ausbildung beenden können. Ich habe aber immer gedacht: ›Leckt mich doch alle am Arsch‹.

Jetzt arbeite ich Vollzeit bei Amazon. Ich bin in der Qualitätsabteilung und dafür da, die Fehler zu suchen und zu bereinigen. Ich bin heiter, vergnügt und zufrieden und voller Vorfreude, weil meine Mum mich bald wieder besucht.«

Tja, man muss nicht alles nachvollziehen können. Ich nehme Annemie trotzdem alles wörtlich ab. Denn meiner beruflichen Erfahrung nach gilt am Rand des Randes nur noch eine Regel – die von Sherlock Holmes: »I never guess. It is a shocking habit.« (»Ich rate nie. Das ist eine fürchterliche Angewohnheit.«)

Wilde Welt und coole Annemie: der Eure – Dr. Doom

Beneckes Begegnungen: Finnisches statt Knöcheldefin

Quelle: Tätowiermagazin 8/2015, Seite 128

Kolumne von Mark

Finnische Wörter sind cool, und ich habe selbst welche auftätowiert (»suojakänni«, »pinkkimeikkipillu« ...). Dass sie auch eine Lebenseinstellung ausdrücken können, beweist mein Co-Model Elli bei einem Fotoshooting mit mir.

Mark: Du hast einen großen Frauenkopf auftätowiert. Was ist das für ein Motiv?

Elli: Stammt von einem befreundeten Fotografen. Das Model kenne ich nicht.

Huch?

Das Bild ist relativ abgefuckt und passt zu dem Zitat, das daneben steht.

Hast du denn nicht mal das Bedürfnis gehabt, dem Model ein Foto davon zu schicken, per Facebook oder so?

Nicht so.

Du lebst die finnische Ruhe und das Understatement. Dazu passt das Wort »sisu«, das ich hier ebenfalls sehe.

Ja, »sisu« ist ein schwer erklärbarer Begriff, das sieht jeder anders. Man kann sisu sehen, schmecken. Es heißt immer: Wo andere schon lang aufgeben, da kommt der Finne und macht sisu.

Hat dich das Tattoo gestärkt?

Nö. Entweder man hat sisu in sich oder gar nicht.

Dein zweites finnisches Tattoo ist ein Schimpfwort.

Das hört sich so schön an – »voi perkele«. Umso mehr man das »r« rollt, umso mehr Bedeutung hat’s, umso intensiver ist es.

Hinter deiner und der finnischen wortkargen Art stecken also doch Emotionen.

Jeder hat insgeheim Momente, in denen er mehr grübelt und nachdenkt.

Du hast auch meinen Tatortaufkleber und eine meiner Fauchschaben fett auf einer besonders schmerzhaften Stelle.

Die Schabe fand ich irgendwie knuffig. Einen Knöcheldelfin oder ein Pony, das hat ja jeder.

Ja, ich zum Beispiel beides. Aber wozu der Tatortaufkleber?

Es war eine Kurzschlussreaktion, nachdem ich zum Spaß gesagt habe, ich lasse mir dein Autogramm stechen. Ich habe es einen Tag danach wirklich machen lassen.

Wenn du im Schwimmbad bist, sehen die Leute, dass du einen Tatortaufkleber mit Fauchschabe und meine Unterschrift auftätowiert hast – was sagst du denen?

Ich geh eigentlich nie schwimmen.

Und beim Sex?

Das bin halt ich. Ich hab, ehrlich gesagt, keinen Bock drauf, jedem meine Lebensgeschichte vorzukauen. Es gibt Dinge, die gehen keinen etwas an.

Als Model bist du auch etwas eigen.

Da lass ich mir nicht reinreden. Wenn ich auf ein Shooting Bock habe, dann hab ich Bock. Ich bin auch nicht der Mensch, der jedes Mal hochgeschminkt und mit irgendwelchem Firlefanz auf Strange oder Horror getrimmt wird. Beauty kann fast jeder.

In der Tat: Stille Wasser sind tief. Das weiß allerspätestens jetzt

der Eure -- Marky Mark

Beneckes Begegnungen: Gesichtstattoo im Knochenjob

Quelle: Tätowiermagazin 9/2015, Seite 128

Kolumne von Mark

Hamburg wirkt auf Fremde schon mal versnobt. Nachdem ich neulich mit einem universitätstypischen Riffelplastik-Kaffeebecher im Foyer des Institutes für Zoologie saß, schlenderte allerdings mit völliger Selbstverständlichkeit ein Mensch mit fettem Gesichtstattoo durch den Flur ins Uni-Museum. Wtf?

»Ich arbeite freiberuflich hier«, erklärt mir Lars. »Hauptberuflich leite ich ein Tattoostudio in Hamburg, das ›Lars Vegas Tattoo- Studio‹ in Altona. Angefangen habe ich vor siebzehn Jahren auf dem Hamburger Berg – die schlimmste Gegend bei uns. Ich habe meinen Lehrmeister dort vollgetextet, dass ich supertoll sei. Meine Zeichnungen waren grottenschlecht, aber er hat irgendwas in mir gesehen. Ich habe dann zwei Jahre lang eine Tätowierlehre gemacht, richtig oldschool mit Müll rausbringen, mit dem Hund Gassi gehen, Kaffee kochen. Mit fünfzehneinhalb habe ich meinen ersten Kunden tätowiert.

Hier im Museum habe ich zunächst Präparate gezeichnet. Von Anfang an fanden die Kinder bei Rundgängen meine Tätowierungen ziemlich faszinierend. Bei meiner ersten Führung alleine, habe ich aber trotzdem Blut und Wasser geschwitzt - mir lief der Schweiß aus dem Hemd raus, das war total peinlich. Nach einer halben Stunde hatte ich aber drei Jungs und drei Mädchen an den Händen, die alles total toll fanden.

Ich musste die Kinder danach zum Parkplatz begleiten, wo die Eltern warteten, und die sahen nur diesen zutätowierten Freak – damals noch mit Glatze – und dachten, ich wolle die Kinder entführen. Ein Riesengeschrei ... Das war herrlich.

Universitäten sind ganz, ganz konservativ, aber mein Chef im Museum ist cool gewesen. Ich hatte hier schon elf Monate ehrenamtlich gearbeitet, 240 Stunden im Monat ohne Bezahlung, weil es einfach unglaublich viel Spaß gemacht hat, und dann ist was ganz Lustiges passiert. Ich habe ein paar Freunden eine Führung im Museum angeboten und zufällig hat jemand aus dem Unipräsidialamt die Führung begleitet. Am nächsten Tag haben sie gesagt, dass sie mich als Pädagogen haben wollen.

Ich war nie ein guter Schüler in Biologie, aber das Team hier im Museum ist so genial, dass es mein Interesse geweckt hat. Jetzt ist es für mich die Hauptaufgabe, es auch bei den Kindern zu wecken. Die Begeisterung, die man in mir hervorgerufen hat, gebe ich jetzt weiter an die nächste Generation.

Beim gemeinsamen Mittagessen mit den Professoren und Doktoren rutschen mir öfter Begriffe aus dem Milieu raus, aber auch das wurde immer akzeptiert. Das ist in Hamburg auf jeden Fall einmalig und wäre in Köln oder München wohl nicht so.«

Genau so isses. Für mich ist Lars’ Story ein waschechtes Wunder. Und die gibt’s dann hoffentlich immer öfter und immer wieder.

Hofft stets der Eure: Marky Mark

Beneckes Begegnungen: Narben sind meins nichts Fremdes

Quelle: Tätowiermagazin 10/2015, Seite 128

Kolumne von Mark

Jeder hier auf dem Wave-Gotik-Treffen staunt über Deine Engelsflügel, dear Punzel...

Es sind nicht nur Engelsflügel, sondern Seraphinflügel, sprich nicht zwei, sondern sechs. Wir haben vor vier Jahren mit normalen Engelsflügeln angefangen, zweieinhalb Jahre später haben wir daraus dann insgesamt vier Cherubimflügel gemacht und vor kurzem sind alle sechs Flügel, auch die Gelenke des Seraph, endlich fertig geworden. Das ist ein hoher Aufwand, auch wegen der Heilung. Man muss das Ganze feucht halten, denn eine irritierte Wunde ergibt eine stärkere Narbenbildung. Genau anders herum, als es Mama einem als Kind immer erzählt hat: »Lass die Wunde in Ruhe, die braucht Luft ...«

Mark: Apropos Mama: Weiß sie, dass du ...

Punzel: Mama weiß das, Papa weiß das nicht.

Du hast noch mehr Cuttings. Ist dir schon mal passiert, dass da was versaut wurde?

Nein, meine Cuttings wurden alle von Gert aus dem Studio »Das Wildall« gemacht. Dort habe ich auch mit siebzehn mein Fachpraktikum gemacht.

In der Welt der Bodymodifications bist du also sehr früh angekommen.

Ich fand Narben schon sehr früh als Schmuck interessant. Das hat mit Dragonball angefangen. Ich hatte kurzfristig die Idee, mit einer Rasierklinge etwas zu schneiden, habe das aber glücklicherweise verworfen, weil man dafür wirklich Fingerspitzengefühl haben muss. In den Populärmedien ist Cutting ja momentan immer mal wieder mit dabei. Allerdings sind das Skin Removals, sprich Hautentfernungen. Das haben wir bei mir fast gar nicht gemacht.

Und dann kam das Rückenprojekt?

Die mythologische Geschichte des Seraph ist mir in meinem Leben immer wieder begegnet. Und nicht nur der Seraph hat sechs Flügel. Auf einer Steintafel, die hängt momentan in Berlin, hat ein mesopotamischer Greifendämon auch sechs Flügel, in der gleichen Position, wie ich meine habe.

Fühlst du dich dadurch mit der Vergangenheit verbunden? Oder ist so eine Steintafel eher ein netter Zufall?

Ich glaube nicht an Zufälle. Ich bin durchaus der Meinung, dass das von irgendwo so gewollt war. Höhere Wesen können existieren und uns führen. Wir haben mehrere Leben, und pro Leben haben wir verschiedene Sachen zu lernen. Erst, wenn wir diese Sachen gelernt haben, kann es weitergehen. Man muss sich dabei auch aus negativen Sachen heraus weiter entwickeln.

Warum hast Du dir das alles nicht tätowieren lassen?

Für mich sind Tattoos etwas Fremdes im Körper. Die Farbe ist nicht so ohne weiteres wieder wegzukriegen, das möchte ich nicht. Piercings nehme ich raus, dann sind sie weg. Narben sind mein Fleisch und Blut, das ist meins, das ist nichts Fremdes.

Bist du denn jetzt soweit fertig?

Momentan hab ich kein Bedürfnis, weiterzumachen, weil ich auch mit der ganzen Narbendehnung von den neuen Cuttings zu tun habe, die auch nicht ganz schmerzfrei ist. Wenn man auf einmal vom Postboten geweckt wird und ruckartig aufsteht – das ist ein Fehler. Ich arbeite meistens nachts – ich bin selbständiger Maßschneidermeister – und deswegen weckt mich der Postbote.

Das kenne ich gut. Mein uralter Bademantel aus New York ist darum im Treppenhaus schon wohlbekannt. Aber immer noch weniger bekannt als deine sehr geilen Seraphen-Flügel.

Alles Gute und bis zum Wave-Gotik-Treffen 2016!

Die Erfindung des Menschen

Quelle: Tätowiermagazin 5/2007, Seite 9

Ausstellung von Stannes Schwarz im "Tatau Obscur" (Berlin)

VON MARK BENECKE

Sowas gibt’s nur in Berlin: Berit lud ihren alten Freund Stannes ein, seine aquarellierten Bilder von echten Präparaten in ihrem hochschicken und riesengroßen Studio “Tatau Obscur” auszustellen.

“Monatelang saß ich in den Archiven des Medizinhistorischen Museums der Charité”, berichtet der Künstler. “Je länger ich die Präparate, eins nach dem anderen, zeichnete, desto mehr sah ich nicht mehr das Ausgestoßene und Besondere in ihnen, sondern die Gemeinsamkeit: Die Kinder scheinen Gefühle widerzuspiegeln.”

Gefühle bei toten Pathologie-Objekten? Je länger sogar das künstlerisch ungeschulte Auge (beispielsweise meins) hinsieht, umso mehr wandeln sich die Zeichnungen Toter tatsächlich zu einem Blick auf lebende Menschen. “Diese zwei Brüder hier”, erklärt Stannes, “sind miteinander verwachsen und innig umarmt, aber ich meine, dass einer hinter seinem Rücken schon die Faust ballt. Der hier sieht im wahrsten Sinne des Wortes verstreut oder zerstreut aus, und dieser hier wirkt wie ein selbstzufriedener Pfennigfuchser. Der hier scheint voller Zorn zu sein und diese beiden dort wollen sich wohl beschützen.”

Die teils über hundert Jahre alten Präparate sind in der öffentlichen Sammlung der Charité meist nicht zu sehen. Dennoch hat Präparatorin Navena Widulin sie in den letzten Jahren kunstvoll hergerichtet und wirkt damit dem gruseligen Touch eines Horrorkabinettes von vornherein entgegen. “Stannes hat mit viel Geduld fast alle Kinder-Präparate unserer Sammlung gezeichnet”, erinnert sie sich. “Jetzt, wo die Bilder hier an der Wand von “Tatau Obscur” hängen, erinnern sie mich an die Tätowier-Vorlagen und -Fotos, die in vielen Studios im Eingangsbereich hängen”, sagt Navena. “Allerdings erkenne ich auf den Bildern immer noch mein jeweiliges Präparat wider und weniger die darüber hinaus weisenden Gefühle.”

Doch diese Gefühle sind wohl vor allem symbolisch zu verstehen -- so wie die Zeichnungen auch in empfundenen, aber nicht den wirklichen Farbtönen der Originale gehalten sind. “Tätowierungen spiegeln ja auch starke Empfindungen wider”, meint Studiobesitzerin Berit. Für mich geht es in der Ausstellung daher auch darum, dass wir Menschen unsere Körper immer perfekter stylen wollen. Dieser Wunsch bewirkt, dass Kinder mit solchen Fehlbildungen gar nicht mehr geboren werden.”

“Die sehr emotionalen Reaktionen”, ergänzt Berit, “die man als Tätowierter noch immer erhält, ähneln außerdem stark den Gefühlen der Betrachter der Zeichnungen von Stannes. Meist ist es eine rein vordergründige Ablehnung, die sich nur an äußeren Formen festmacht. So können Tätowierte genauso wie die hier dargestellten Kinder zu Outcasts werden, ohne dass man sich mit ihnen beschäftigt hat.”

Wer den ungewöhnlichen Kontrast von Deutschlands wohl schickstem Tätowier-Studio und den pathologischen Präparaten auch nach Ende der Ausstellung noch erleben will, kann bei einem Abstecher in die Hauptstadt jederzeit zuerst bei Berit und dann im Medizinhistorischen Museum der Charité vorbei schauen (oder natürlich auch umgekehrt  ;) ). Ein Kontrast, den es wirklich nur in Berlin gibt.

Interview mit Dirk-Boris Rödel

Quelle: Tätowiermagazin 2011

Fragen von Mark Benecke

Dirk-Boris Rödel ist Japanologe, Chefredakteur ältesten deutschen Tattoo-Zeitschrift und von Herzen Schwabe. Seine Hobbies sind historische antike maritime Blankwaffen sowie das Dudelsack-Spiel, das er auf Wettkampf-Niveau beherrscht. Mark Benecke besuchte den Mann, der das Genre des hochwertigen Tattoo-Journalismus für Deutschland erfunden hat.

Mark Benecke: Du hast das Genre der mittlerweile allgegenwärtigen Tätowier-Zeitschriften völlig neu erfunden. Wie kamst Du dazu?

Dirk-Boris Rödel: Wie die Jungfrau zum Kinde. Um 1995 habe ich in Japan während eines Auslands-Semesters japanische Tätowierer gesucht und interviewt. Als ich zurück kam, schossen in Deutschland gerade Tattoohefte wie Pilze aus dem Boden und verschwanden sofort wieder. In einem der ersten Hefte des „Tätowiermagazins“ war ein Bericht über japanische Tätowierkunst drin, und der war Schrott. Ich habe denen also geschrieben, dass ich mich wissenschaftlich damit befasst und gutes Bildmaterial habe. Die hat mich gleich am nächsten Tag angerufen und gemeint, ich soll mal loslegen. Mein erster Artikel war ein Dreiteiler über japanische Tätowierkunst -- die Geschichte, traditionelle und moderne Tätowierer, also die japanische Tattoo-Szene aus verschiedene Winkeln beleuchtet.

Als ich mit meiner japanologischen Magisterarbeit schon beinahe fertig war, hat das TM von zweimonatiger Erscheinungsweise auf monatliche Ausgaben gewechselt. Dementsprechend war dann eine Redakteurstelle frei und zu besetzen. Da bin ich dann mehr oder weniger automatisch reingerutscht.

So ein Jobangebot, ohne dass man sich jemals für irgendwas beworben hat, mit bezahltem Urlaub und Sozialabgaben und was da noch alles dabei ist...da hab ich gedacht, also das wäre schon ein bisschen dumm, das abzulehnen. Knapp zwei Jahre später bin ich nachgerutscht als Chefredakteur.

Man sieht, dass Du sehr bodenständig bist, ein waschechter Schwabe. Gleichzeitig machst Du ein Szene-Magazin, und im selben Verlag erscheinen Biker-Magazine, für Rocker und Schrauber, also teils für Menschen, die in meist friedlichen, zu kleinen Teilen aber auch zurecht gefürchteten Motoradclubs organisiert sind. Wie passt das alles zusammen?

Der ganze Verlag ist ein Sammelsurium von Quereinsteigern. Der Chefredakteur der „Bikers News“ hat Philosophie und Theologie, meine Vorgängerin beim Tätowiermagazin Gartenbau studiert. Das hat jetzt auch nicht notwendigerweise was mit Tätowierungen zu tun hat.

Trotzdem: Ihr müsst und wollt eine Schnittschnelle zur Szene und zu Szene-Veranstaltungen sein.

Ich mach's so, dass das Heft meinem eigenen Anspruch gerecht wird. Ich bin mir bewusst, dass wir nicht die Financial Times oder das Wall Street Journal machen, und dass man da bei manchen Themen nicht alles bis zu Adam und Eva zurückverfolgen muss. Einzige Ausnahme ist Travelling Mick, einer unseren freien Mitarbeiter, der teilweise, wenn er über ethnologische Themen geschrieben hat, einfach noch mal ein paar Literaturtipps drangehängt hat. Aber dann muss ich schon ein bisschen aufpassen, dass es nicht zu verkopft und anspruchsvoll wird. Ich übersetze auch Fremdwörter ins Deutsche.

Grundsätzlich kann man Tattoos und die Tattoos-Szene und was Tätowierungen bedeuten durchaus anspruchsvoll darstellen. Umso mehr wenn's von anderen Medien eben gerade nicht anspruchsvoll dargestellt wird, sondern immer reduziert wird auf "Was sind denn die neuesten Trends?" und "Haben Männer mehr Tattoos als Frauen oder andere?" Den meisten Medien fällt ja nichts anders dazu ein.

Die verschiedenen Ansprüche der LeserInnen bedient ihr mit zwei Spin-Offs des Tätowiermagazins, der „Tattoo Erotica“ und der normaleren „Tattoo Style“, von denen Du allsamt Chefredakteur bis.

Als erstes hat sich die Tattoo Style abgespalten, die ein Motivheft ist, das zu neunzig Prozent einfach aus Tattoo-Fotos besteht. Wir hatten die ganzen schönen Bilder, und es gibt genügend Leser, die nicht so gern lesen, sondern sich lieber Bildchen angucken.

Für die „Tattoo Erotica“ kam der Impuls von der „Bikers News“. Die hatten immer so eine Beilage "Bikes & Babes" wo halt spärlich oder auch gar nicht bekleidete junge Damen sich auf Motorrädern geräkelt haben. Wenn man das in der „Bikers News“ macht, war dann die Idee, warum sollte man nicht was ähnliches fürs TM machen?

Ich war von der Idee am Anfang nicht so überzeugt, weil das Tätowieren ja eh immer so ein bisschen ein, im Schwäbischen würde man sagen, Gschmäckle, hat, was relativ schnell in die Knast-Ecke und ein bisschen in die Schmuddel-Ecke geht. Da dachte ich, jetzt noch ein Erotikheft, um das noch womöglich zu unterfüttern, das ist vielleicht keine gute Idee.

Andererseits war meine Überlegung: Gut, Tätowieren ist ja nun mal etwas, das auf der Haut stattfindet und mit Körpergefühl, Körperbewusstsein zu tun hat und auch einem gewissen Stolz auf sich selbst und das Bild auf der Haut, das Tattoo. Natürlich haben wir mitgekriegt, dass es 'ne Menge junger Frauen gibt, die nicht nur kein Problem damit haben, sich so darzustellen, sondern die das auch sehr offensiv wollten.

Im Tätowiermagazin wollten wir das nicht haben, weil da die Information im Vordergrund stehen sollte, und man uns nicht nachsagt: „Aha, da dringt der Schmuddel ein und letztendlich kommen sie doch nicht ohne Titten aus.“

Meine Auflage war also, dass es nicht in die Porno- und Schmuddel-Ecke gehen darf. Es muss klar sein, das ist authentisch, das sind keine professionellen Models -- ein paar modeln innerhalb der Subkultur, aber das will ich nicht vergleichen jetzt mit den Aktmodels, die man im Penthouse, im Playboy findet. Das sind authentische junge Frauen, die man auch auf Tattoo-Conventions trifft.

Wenn man das schön fotografiert darstellen kann in einer Art und Weise, dass ich die Hefte auf dem Tisch liegen lassen kann, wenn Besuch kommt, dann hab ich da kein Problem damit.

Erneut ein sehr schwäbischer Gedanke. Sind die Hefte wegen dieser Aufspaltung und einer eben doch gewissen Erdung so erfolgreich?

Wenn wir das Heft eher so ein bisschen boulevardmäßiger aufgemacht hätten, hätten wir vielleicht sogar höhere Verkaufszahlen. Ich habe den Eindruck, dass wir den Leuten manchmal schon ein bisschen zu anstrengend sind. Es ist aber ausgeschlossen, dass wir das ändern. Das werden wir nicht machen.

Die Leser können sich bei uns darauf verlassen, dass sie eben nicht zum hundertfünfzigsten Mal dieselbe Brigitte-Diät vorgesetzt bekommen oder dieselben Bauch-Weg-Übungen und Sex-Tipps wie bei irgendwelchen Fitness-Magazinen.

Fernsehserien wie "Miami Ink" haben uns auch einen enormen Schub gegeben. Andererseits war "Miami Ink" nur ein beschleunigender Faktor in einer Entwicklung zu einem stark vermehrten Interesse an Tätowierungen, die über die Jahre und Jahrzehnte schon kontinuierlich läuft und lief.

Du bist im Heft oft persönlich präsent und dabei geradezu pädagogisch: Du stellst trashige Tattoos genauso bloss wie Du auf innovative Sachen hinweist. ODer Du stößt ausführliche Diskussionen um Tätowierer an, die deutlich politisch rechte Position haben, aber trotzdem sehr sehr gute Tätowierer sind.

Das stimmt. Passenderweise haben wir gerade diesen ACAB-Fall. Da hat sich ein Leser erkundigt, ob es denn legal wäre, auf die Hand „ACAB“ für „All Cops Are Bastards“ zu tätowieren. Ich habe im Heft jetzt nicht geschrieben "wie blöd geht's eigentlich", aber...

...man müsse sich nicht wundern, wenn der Polizist, der das Tattoo sieht, das uncool findet.

Genau. Dieser Leser -- und damit war auch zu rechnen -- hat sich davon auf den Schlips getreten gefühlt und jetzt nochmal geschrieben. Es ging es mir aber gar nicht um eine Diskussion darum, ob Polizisten gut oder schlecht sind oder ob ein Polizist jemanden anzeigen darf, der „All Cops Are Bastards“ auf seiner Hand stehen hat. Der Punkt war: Wenn du Dir das stechen lässt und Dich nachher drüber beklagst, bist du blöd. Das ist genauso blöd, als wenn du dir SS-Runen stechen lässt und dich dann beklagst, wenn du nicht in die Synagoge rein darfst. Das ist absehbar.

Der ACAB-Leserbriefschreiber hat sich als nächstes darüber beklagt, was denn meine persönliche Stellungnahme im Heft verloren hätte, die könnte ich mir doch bitte schenken. Aber das ist eben mein Punkt: Hat sie eben doch. Ich rede nicht über den Sinn oder Unsinn des Berufsbildes des Polizisten und auch nicht über juristische Belange, sondern ich spreche über Tätowierungen und über den Sinn von Tätowierungen. Denn Tätowierungen haben einen Sinn. Das ist mein Punkt und über den darf ich sehr wohl sprechen.

Eine Zeit lang waren ja Charles-Manson-Portraits angesagt. Das ist einfach saudumm.

Charles Manson gilt als jemand, der den Schwachen, Unterdrückten, Kaputten, psychisch Kranken, Traurigen, von der Gesellschaft Enttäuschten sagt, dass sie liebenswerte Menschen sind. Viele in der Szene denken, wenn sie sich sein Bild wie das von Bhagwan oder Jesus Christus auftätowieren, dass er ihnen dann beisteht.

Da unterstellst du den Leuten aber viel. Vor etwa sieben Jahren, da war das voll im Schwange. Wenn ich da jemand gefragt hätte, was das soll, der hätte außer "Öh, ich find‘s cool" nicht viel rausgebracht.

Das ist genau die Grenze, auf der du dich im TM immer bewegst: Zwischen teilweise gewalttätigen Hirnis, die nicht wissen, was Freiheit ist, und der Tatsache, dass jeder gerade bei Tätowierungen selbst überlegen und Entscheidungen treffen muss. Oder Du stellst hyperindividualistische Tätowierer vor, manche mit Grafikdesign-Studium, die alle Seh-Grenzen sprengen.

Ich weiß gar nicht, wie viel von dem, was ich den Leuten mitgeben will, ankommt. Ich mach's eben so, wie ich es mach, und freu mich dann, wenn wirklich angekommen ist, was ich meine.

Es kommt ja auch noch die Verjüngung der Leser dazu. Zuletzt hat Sonja, die neue Redakteurin, eine junge Modedesignerin aus irgend so einer TV-Designer-Casting-Show besucht, die recht tätowiert war, sowie einen tätowierten Schauspieler, der bei irgendeiner Doku-Soap, "Unter uns" oder sowas, mitgespielt hat. Da bin ich nicht so nah dran, und es ist dann ganz schön, wenn man sich da ergänzt.

Der zweite Redakteur, Jan, hat Sido und Azad und einen der Söhne Mannheims interviewt, die auch alle tätowiert sind. Das ist ganz prima, wenn wir unterschiedliche Interesse haben. Wir versuchen, möglichst in die Breite zu gehen und alles abzudecken, was das Thema Tattoo hergibt. Inzwischen gibt es ja sogar schon Immobilienagenturen für Tätowierte. Das haben wir dann auch im Heft.

Ihr bringt allerdings auch sehr oft eine uralte Kategorie, die Anklänge an die Kolonialzeit hat: Ferne, wilde Länder. Als Szene-Publikation für tätowierte Menschen, die oft als Randgruppe stilisiert werden, berichtet ihr über die Fremde -- da, wo man krank wird und nichts klappt, wo die Leute nackt sind und bemalt und Pflöcke und Federn durch Nasen, Ohren, Mund gesteckt haben. Noch nicht einmal „National Geographic“ macht solche Geschichten noch, und Ihr springt sogar auf die reine Beobachtung und Beschreibung zurück.

Ich bin immer noch völlig platt und überrascht, wenn Travelling Mick wieder von irgendeinem Fleck, aus irgendeinem Land der Erde berichtet, das ich kaum buchstabieren kann, und dann dort achtzigjährige Omas findet, die sich die Gesichter total schwarz tätowieren, was ich noch nie vorher gesehen habe. Und das, obwohl ich mich relativ intensiv mit dem Thema befasse. Oder dass er eben mal nach Afrika fliegt, wo Leni Riefenstahl noch die Nuba besucht hat und guckt, was da inzwischen abgeht -- ob die jetzt schon völlig verwestlich sind, ob es noch Leute gibt, die sich die Narbentattoos noch ritzen.

Das alles kennt man irgendwie noch aus Kinderzeiten, wenn man sich mal nackte Mädels angucken wollte, dann hat man mal in National Geographic geblättert und hat dann die barbusigen Mädchen gesehen. Aber ich bin überzeugt, dass Travelling Mick schon Völker ausgegraben hat, bei denen die Redaktion von „National Geographic“ sicher auch gesagt hätte "Mein lieber Schwan, hätten wir auch gerne gehabt".

In aller Bescheidenheit: Dabei knallt halt die Authentizität vom Tätowiermagazins voll durch. Als Travelling Mick beispielsweise über Tattoos auf den Philippinen berichtet hat, da hatte er nichts weiter als ein Schwarz-Weiß-Foto aus den 40er Jahren. Er wusste nur, dass es irgendeinen Stamm auf den Philippinen gibt und die sind ja auch nicht gerade klein. Er wusste nicht, ob im Norden, Süden, Westen oder Osten -- er ist einfach nach Manila und hat sich durchgefragt.

Er hatte keine Ahnung, ob er die Leute überhaupt findet, ob es die überhaupt noch gibt, ob die sich noch tätowieren.

Mich selber müsstest du schlagen, ich würde das nicht machen, weil ich einfach nicht gerne reise. Travelling Mick ist da wahrscheinlich einer der unterschätztesten Journalisten überhaupt. Das ist wirklich Tim-und-Struppi-Journalismus...

...in Reinform.

Im Prinzip ist Travelling Mick unser Tim, könnte man sagen, der da wirklich aufs Geradewohl in die Welt geht und sich anguckt, was es Skurriles gibt. Und das trotz und in der ganzen Internetwelt. Er ist analog unterwegs, geht direkt zu den Leuten hin und gräbt Sachen aus, die man in der virtuellen, digitalen Welt einfach nicht findet.

Das ist ganz unverzichtbar, wirklich faszinierend und scheint unerschöpflich zu sein. Du denkst, irgendwann musst du ja mal alle Stämme und Völker durchhaben. Aber dann sitzt da wieder irgend so ein Clan von fünfzig Leuten, die noch irgendwas abgedrehtes machen, und er gräbt sie aus.

Leider trifft Mick oft auf Kulturen, wo nur noch die ganz Alten tätowiert sind, wahrscheinlich die letzte Generation, die überhaupt noch solche Tätowierungen haben. Aber wenn er ihnen dann Fotos da lässt oder beim nächsten Mal TM-Hefte mitbringt und sagt "Guckt mal, da wart ihr im Heft, die Welt interessiert sich für das, was ihr macht, und die Welt findet das gut, und ja, Eure Zentralregierung will euch das verbieten und will Euch hier irgendwie verwestlichen und anpassen, aber es gibt auch Leute in Deutschland, im Westen, in Amerika, in Europa, Leute, die sich tätowieren lassen, es gibt ganze Hefte dafür“ -- das musst du dir vorstellen!

Die haben ja überhaupt noch nie eine Zeitschrift in der Hand gehabt und dann sehen sie ein Heft nur für Tätowierte, nur für Leute, die das machen, was sie auch machen, wofür sie aber unterdrückt oder lächerlich gemacht oder von der jeweiligen Hauptkultur an den Rand gedrückt werden.

Und die sehen dann, dass das an anderen Ecken der Welt wirklich was ist, was geschätzt wird und wo Künstler gefeiert werden, dass sie dann dazu gehören. Und das gibt denen natürlich auch entsprechendes Selbstbewusstsein.

Am deutlichsten sieht man es ja bei den Maori auf Neuseeland, wo das Tätowieren ja schon beinahe einen sehr patriotischen Black-Power-Anstrich hat. Also wo es bei der neuseeländischen Black-Power-Bewegung beinahe schon zum guten Ton gehört, dass man sich das Gesicht tätowieren lässt, also aus Patriotismus oder Nationalstolz. Oder dass man die alten Traditionen wieder verstärkt praktiziert im Sinne von sich bewusst machen, wo man herkommt und sich unterscheiden zur westlichen Kultur. Auch die Streetshops, die es in Malaysia gibt, bieten wieder die traditionellen Motive an.

Oder Leute aus ehemaligen niederländischen Kolonien reisen jetzt in die Niederlande und blättern da in den Universitätsbibliotheken: Was haben denn da vor 100, 150 Jahren die Missionare zu Papier gebracht, wie haben denn unsere Tattoo-Motive früher ausgesehen? Das ist eigentlich ganz schön, wenn das wieder zurückwirkt.

Da sind wir wieder bei der hundertsten identischen Diät im immer gleichen Heft. So etwas hat keinerlei Rückwirkung, da lernt keiner was von, das ist in dem Moment, wo es gedruckt wird, schon Müll. Ihr aber wirkt aber zurück und fördert das Alte, aber auch sehr stark das Neue in der Tattoo-Szene. Welche Grenzen sind da noch nicht so richtig angekratzt?

Ich denke ich oft, dass da meine Phantasie doch anscheinend etwas begrenzt ist, weil ich mir das nicht überhaupt vorstellen kann, mit was die Leute ankommen -- als zum Beispiel aus der „Boucherie Moderne“ aus Brüssel plötzlich diese Pixel-Tattoos kamen...also, verpixelte Portraits oder Tattoos, die man mit 3-D-Brille angucken kann....auf die Idee wäre ich nie gekommen.

Gerade eben hat uns eine junge Mediendesignerin ein Buch angeboten, was man als Tätowierung aus der deutschen Kultur heraus umsetzen kann. Der Tätowierer entwickelt sich aus der Kultur heraus, wie in Borneo. Tattoos sind immer mit der Kultur und in der Tradition verwurzelt. Da gehört in Deutschland der Hund mir rein, der Schäferhund, das ist grafisch noch relativ normal, dann der Wolpertinger, wo man sich im Buch seinen eigenen Wolpertinger zusammenstellen kann. Dann geht es um Ordnung -- da hat sie dann einen Tattoo-Vorschlag, wo man eine ganze Reihe von Buntstiften ganz akkurat montiert oder ein Karl Lagerfeld-Portrait in der Art eines Schnittmusters oder einen König Ludwig, wahlweise als Portrait oder einfach mal den Grundriss von Schloss Neuschwanstein über den ganzen Arm montiert.

Inzwischen ist die Entwicklung der Tätowierungen so rasant -- es gibt eigentlich keine Grenzen mehr.

Der Anfang war relativ steinig. Als wir die modernen Sachen der Franzosen und Belgier abgedruckt haben, ist eine Welle des Protestes über sie hereingebrochen: „Was soll das denn sein? Das kann ja meine siebenjährige Tochter! Das sind keine Tätowierungen!“.

Du hattest ja vorhin gefragt, wie ich als Schwabe in dieser Szene lebe. Da hätte ich eigentlich sagen können: Im Prinzip passt das eigentlich ganz gut, weil wenn ich es mir so überlege, ist doch ein großer Teil der Tattoo-Szene eigentlich extrem spießig -- so spießig, wie ich nicht werden kann.

Man ist wie man ist, das ist meine Haltung. Man lässt sich auch nicht tätowieren, um anders zu sein -- das wäre Blödsinn. Man lässt sich tätowieren, weil man sich tätowieren lassen will. Sobald es eine andere Begründung hat, ist es eigentlich schon blöd.

Tätowieren ist eh nur das Medium. Ob es Kunst ist oder nicht, ist eine blöde Frage. Das ist ja wie wenn man fragen würde, ist Ölmalerei Kunst oder nicht. Ich kann irgendwas klecksen und ich kann mir Caravaggio anschauen. So wie dort die Ölfarbe und den Pinsel gibt es hier die Tattoo-Maschine und die Farbe. Sie sind nur Medien. Du kann alles draus machen.

Mark & Mille: Nerds und Necromaniacs unter sich

Der weltweit renommierte Kriminalbiologe Dr. Mark Benecke, Autor zahlreicher Bücher, NRW-Vorsitzender von Die PARTEI und in vielen anderen Funktionen aktiv, trifft in einem Telefonkonferenzraum auf Mille Petrozza, deutsches Thrash-Metal-Urgestein.

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