Charite Museum: 25 Jahre Kriminalbiologe

Quelle: Sonderdruck als Beilage zum Ausstellungskatalog anlässlich des Vortrages am 13. Dezember 2016, Hörsaalruine im Berliner Medizinhistorischen Museum der Charité

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Von Mark Benecke

Liebe ZuhörerInnen,

dass manche Insekten totes Gewebe mögen, ist nicht nur offensichtlich (Biotonne), sondern auch eine alte Tatort-Technik. Im ersten niedergeschriebenen Fall wurden Insekten benutzt, um den seelischen Druck auf einen Befragten nach einem Mord im Reisfeld zu verstärken.

Untersuchungsrichter Sòng Cí befragte dazu im 13. Jahrhundert – am Tag nach dem Mord – die Bewohner eines kleinen Dorfes. Da der Getötete durch einen Stich gestorben war, bat Sòng Cí die Feldarbeiter, ihre Sicheln vor ihre Füße zu legen. Eine der Sicheln wurde von Fliegen umkreist. Die Tiere hatten an der Sichel haftende, winzige Gewebereste wahrgenommen. Dem Besitzer dieser Sichel wurde daraufhin derart mulmig, dass ihn die Schuld wortwörtlich niederdrückte: Er schlug den Kopf auf den Boden und gestand.

Für den hier vorliegenden Katalog hat mich Kuratorin Navena Widulin gebeten, ein wenig aus dem Nähkästchen zu plaudern und übergeordnete Rückschau zu halten, wie es vielleicht auch der felderfahrene chinesische Kollege hätte tun können – hier also aus meiner nun fünfundzwanzig Jahre dauernden Arbeit mit Insekten an Leichen. In dieser rückblickenden Atempause fällt mir zunächst das Gefälle zwischen dem guten Nutzen der Insekten als kriminalbiologische Spuren und ihrer Bewertung bei den KollegInnen von der Polizei ein.

Die meisten PolizistInnen, egal aus welcher ‘Dienstgruppe’ (so heißt das auf Behördendeutsch), schauen sich die Tiere zwar kurz durch ein Vergrößerungsgerät an. Sie lassen sich auch von den Atem raubenden Schillerfarben der Schmeißfliegen – tiefblau-metallic bei Calliphora, grüngelb wie Gold im Abendlicht bei Lucilia – kurz bezirzen.

Danach schlägt oft eine Art angeekelter Pragmatismus durch: „Und was nützt das jetzt?“ Es nützt sehr viel, bedarf aber einer offenen Fragestellung. Wir haben beispielsweise schon einmal eine in einen Teppich gerollte Leiche aus einem See gezogen, bei der wir zwar nicht wie im Kino die Anzahl der Tage seit dem Einrollen der Leiche, dafür aber die Jahrezeit des Versenkens – ohne Jahr – angeben konnten. Auf den ersten Blick wirkt das mager, aber eine Zusammenstellung von Tieren, die erstens Leichen mögen und zweitens in einen Teppich kriechen, ist so selten, dass mein Team und ich damit gerne vor Gericht gehen.

Das machen wir nicht immer. Denn wer wollte vor Gericht schon ernsthaft ein insektenkundliches Gutachten zerlegen?

Die meisten JuristInnen fanden Naturwissenschaften in der Schule doof, und das kauzige Randgebiet der forensischen Entomologie ist abseits der filmisch erfundenen Sexyness eine der drögeren Spezialdisziplinen. Das bedeutet, dass wir öfters keine harte Prüf-Instanz haben, also keinen, der uns in die Zange nimmt. Daher sorge ich auch ohne Gerichtsverhandlung dafür, dass meine Mitarbeiterinnen, aber auch Menschen, die mich weniger mögen, sich beispielsweise meine Insektenbestimmungen nochmal ansehen. Denn ich traue niemandem, auch nicht mir selbst.

Harte Verteidiger, die manche meiner sachverständigen KollegInnen zur Weißglut treiben, mag ich daher durchaus. Mir ist deren naturwissenschaftlich gesehen oft wahnwitzig erscheinende Fragerei egal, denn es ist doch eine sinnvolle Übung, auch aus schrägen Sichtwinkeln befragt zu werden und klare und wahre Antworten darauf zu finden.

Selbst wenn es dann um die Note meiner Doktorarbeit geht anstatt um die Wachstumsrate von Leichenerstbesiedlerinnen (beispielsweise im Jahr 1998 vor dem Landgericht Braunschweig bei einer von der Presse schwer umsummten Verhandlung zur Tötung der Ehefrau eines Priesters), frage ich einfach den Richter oder die Richterin, ob eine Universitätsnote hier sachlich interessant ist.

Manchmal entscheidet das Gericht, dass es wichtig ist, und dann beantworte ich es gerne. Zack! Es ist ja nicht mein Labor oder meine Verhandlung, sondern die Bühne der ‘Parteien’ – und nach deren Regeln sollte ein vernünftiger Sachverständiger spielen wollen. Es geht ja schließlich, neben einem guten Schuss Wahrheit, vor allem um die Auslegung und Anwendung von Gesetzen in einer Art ritualisiertem Schauspiel, das unsere Gesellschaft zum Glück zusammenhält.

Noch einmal zu Gefällen. Besonders auffallend sind sie, wenn zwischen den teils schwitzenden, sich windenden, lügenden, schweigenden, drucksenden oder lachenden Angeklagten Angehörige mit ihren leeren, traumatisierten Gesichtern sitzen, daneben nicht selten weise, manchmal aber auch mit einem dem gestrigen Europapokal-Spiel geschuldeten Augenringen und noch nassen Haaren eintrudelnde RichterInnen, des Weiteren teils mutige, teils verstockt konservative Ankläger und VerteidigerInnen und dann – meine stillen Helfer, die Insekten und biologischen Spuren.

Meine Vorgänger beschrieben das Verhalten von Insekten als ‘ewige Gesetze’, doch sie meinten damit natürlich nicht die Gesetze, die vor Gericht gelten. Wer schon einmal in zwei verschiedenen Kulturen gelebt hat, weiß, wie es sich anfühlt, beide Seiten zu kennen. In unserem Team ist die ‘andere’ Seite dabei allerdings eine, die gar nichts von Menschen weiß.

Man wird gelassener und fragt sich, ob das vorliegende Problem nicht vielleicht ganz anders gestaltet und lösbar wäre als es gerade verhandelt wird. Doch das geht die Insekten nichts an, und sie wissen ja, wie gesagt, auch gar nichts vom hochorganisierten Leben der Menschen. Immerhin verschont die manchmal höllenheiße Glut, die unvorhersagbar auch im abgewetztesten Gerichtssaal über uns fegt und Herzen wie Bierfilz verbrennen kann, meine zwangsläufig stillen Assistenten.

Und das ist auch der Grund, warum ich, neben Blutspuren und Erbsubstanz, vor allem meine Insekten so liebe. Selbst in Momenten, die Menschen ins Wanken und Verzweifeln bringen können, krabbeln die Leicheninsekten über groß, klein, dick, dünn, jung und alt. Die einzigen Einflüsse, die sie bewegen, sind Luft und Regen, Wind und Nahrung, genetisches Programm und ein bisschen Gelerntes.

Ich schätze diese Ruhe, diese weit vor unserem menschlichen Dasein beginnende und weit nach uns endende Linie. Wenn ich Insekten auf Leichen sehe, sehe ich eine Welt, in der Frieden etwas grundsätzlich anderes bedeutet als auf der Erde der Menschen. Dass diese wunderbare, manchmal hilfreiche, meist aber wilde und uralte Welt immer um uns herum ist, das ist eine der Lehren, die ich abgesehen von der Liegezeitbestimmung an Leichen gelernt habe.

Die Erfindung des Menschen

Quelle: Tätowiermagazin 5/2007, Seite 9

Ausstellung von Stannes Schwarz im "Tatau Obscur" (Berlin)

VON MARK BENECKE

Sowas gibt’s nur in Berlin: Berit lud ihren alten Freund Stannes ein, seine aquarellierten Bilder von echten Präparaten in ihrem hochschicken und riesengroßen Studio “Tatau Obscur” auszustellen.

“Monatelang saß ich in den Archiven des Medizinhistorischen Museums der Charité”, berichtet der Künstler. “Je länger ich die Präparate, eins nach dem anderen, zeichnete, desto mehr sah ich nicht mehr das Ausgestoßene und Besondere in ihnen, sondern die Gemeinsamkeit: Die Kinder scheinen Gefühle widerzuspiegeln.”

Gefühle bei toten Pathologie-Objekten? Je länger sogar das künstlerisch ungeschulte Auge (beispielsweise meins) hinsieht, umso mehr wandeln sich die Zeichnungen Toter tatsächlich zu einem Blick auf lebende Menschen. “Diese zwei Brüder hier”, erklärt Stannes, “sind miteinander verwachsen und innig umarmt, aber ich meine, dass einer hinter seinem Rücken schon die Faust ballt. Der hier sieht im wahrsten Sinne des Wortes verstreut oder zerstreut aus, und dieser hier wirkt wie ein selbstzufriedener Pfennigfuchser. Der hier scheint voller Zorn zu sein und diese beiden dort wollen sich wohl beschützen.”

Die teils über hundert Jahre alten Präparate sind in der öffentlichen Sammlung der Charité meist nicht zu sehen. Dennoch hat Präparatorin Navena Widulin sie in den letzten Jahren kunstvoll hergerichtet und wirkt damit dem gruseligen Touch eines Horrorkabinettes von vornherein entgegen. “Stannes hat mit viel Geduld fast alle Kinder-Präparate unserer Sammlung gezeichnet”, erinnert sie sich. “Jetzt, wo die Bilder hier an der Wand von “Tatau Obscur” hängen, erinnern sie mich an die Tätowier-Vorlagen und -Fotos, die in vielen Studios im Eingangsbereich hängen”, sagt Navena. “Allerdings erkenne ich auf den Bildern immer noch mein jeweiliges Präparat wider und weniger die darüber hinaus weisenden Gefühle.”

Doch diese Gefühle sind wohl vor allem symbolisch zu verstehen -- so wie die Zeichnungen auch in empfundenen, aber nicht den wirklichen Farbtönen der Originale gehalten sind. “Tätowierungen spiegeln ja auch starke Empfindungen wider”, meint Studiobesitzerin Berit. Für mich geht es in der Ausstellung daher auch darum, dass wir Menschen unsere Körper immer perfekter stylen wollen. Dieser Wunsch bewirkt, dass Kinder mit solchen Fehlbildungen gar nicht mehr geboren werden.”

“Die sehr emotionalen Reaktionen”, ergänzt Berit, “die man als Tätowierter noch immer erhält, ähneln außerdem stark den Gefühlen der Betrachter der Zeichnungen von Stannes. Meist ist es eine rein vordergründige Ablehnung, die sich nur an äußeren Formen festmacht. So können Tätowierte genauso wie die hier dargestellten Kinder zu Outcasts werden, ohne dass man sich mit ihnen beschäftigt hat.”

Wer den ungewöhnlichen Kontrast von Deutschlands wohl schickstem Tätowier-Studio und den pathologischen Präparaten auch nach Ende der Ausstellung noch erleben will, kann bei einem Abstecher in die Hauptstadt jederzeit zuerst bei Berit und dann im Medizinhistorischen Museum der Charité vorbei schauen (oder natürlich auch umgekehrt  ;) ). Ein Kontrast, den es wirklich nur in Berlin gibt.