Quelle: Legacy 124, Jan./Febr. 2020, S. 22—27
Die Fragen stellte BJÖRN THORSTEN JASCHINSKI
Der weltweit renommierte Kriminalbiologe Dr. Mark Benecke, Autor zahlreicher Bücher, NRW-Vorsitzender von Die PARTEI und in vielen anderen Funktionen aktiv, trifft in einem Telefonkonferenzraum auf Mille Petrozza, deutsches Thrash-Metal-Urgestein. Es ist High Noon am 30. November. Benecke hatte gestern einen ausverkauften Vortrag in Mainz, heute wartet in Frankfurt ein voller Saal auf ihn. Er wird nach einer Stunde trotz Late-Checkout- Option aus seinem geliebten, oft frequentierten Bahnhofshotelzimmer gebeten und loggt sich Minuten später wieder zur zweiten Halbzeit ein. Mille ist noch mit letzten Details von „London Apocalypticon – Live At The Roundhouse“ beschäftigt und meldet sich aus seiner alten Heimat Essen. Einige überraschende Gemeinsamkeiten ihrer Biografien waren Anlass dieser Gesprächskonstellation. Weil an diesem Mittag so viel gelacht wird, kommentieren wir diesen Fakt nicht ständig mit (lacht).
Hallo Mille und Mark, kennt ihr einander bereits persönlich?
Mille: Wir hatten über einen gemeinsamen Freund per E-Mail Kontakt, ich weiß nicht, ob du dich daran erinnerst, Mark. Das ist der Joachim Hiller.
Mark: Ah ja, klar. Das muss man vielleicht erklären: Joachim macht die sehr gute Zeitschrift „Kochen ohne Knochen“, lustiger Titel. Erist jemand, der mit einer ganz milden und ruhigen Art Menschen veganisiert, indem er sehr viel redet und Informationen austauscht. Und so bringt er auch Menschen wie uns zusammen.
Mille: Hätte er gemacht, aber es hat damals nicht geklappt.
Warst du schon bei einem von Marks Live-Vorträgen oder hast eins seiner Bücher gelesen?
Mille: Nein, aber ich weiß natürlich, was er macht, und habe viele Berichte über Mark gelesen. Er hat auch vor Urzeiten in der Zeche Carl gespielt, da konnte ich aber leider nicht. Wir haben uns immer verpasst.
Mark, du bist musikalisch eher im Dark Wave, Electro und Gothic zu Hause, oder?
Mark: Das ist völlig richtig. Ich habe früher immer gesagt: Die einzige Band, der ich Gitarren erlaube, ist Rammstein. Ich kenne deswegen kaum andere Gitarren-Musik. Ich habe aber das Glück, dass einige Bands nett zu mir sind. So moderiere ich beispielsweise in wenigen Tagen das zehnjährige Bestehen von Lord Of The Lost in Hamburg. Da darf ich dann auch als Electro-Boy reinschnuppern. Ich hab neue Videos von KREATOR angeguckt, die sind natürlich äußerst schön gedreht: ‚Gods Of Violence‘, ‚Satan Is Real‘ und ‚Enemy Of God‘. Abgesehen davon, dass es musikalisch immer diese rätselhaften Barrieren zwischen Gothics und Metallern gibt, ist das bildlich lupenreines Gothic. Es gibt viele Überschneidungen, aber man sieht sie häufig nicht: Es existieren kaum Festivals, auf denen Metaller und Gothics etwas gemeinsam machen.
Es gab Ende der 1990er das KREATOR-Album „Endorama“, welches auch bei vielen Skeptikern längst rehabilitiert ist. Da war Tilo von Lacrimosa involviert – Jahre später hat Mille sich dort als Gastgitarrist revanchiert.
Mark: Lacrimosa ist natürlich noch mal etwas Besonderes, gruftiger geht es nicht mehr. Da hast du gebadet in dem seidenschwarzen Meer der etwas weniger aggressiven gruftigen Samtheit.
Mille: Dadurch, dass ich viel Musik mache, schreibe und konsumiere, bin ich nicht so an bestimmte Genres gebunden. Für mich gibt es nur gute oder schlechte Musik. Ich finde in allen Bereichen was Aufregendes, auch bei Gruft oder New Wave. Eine meiner Lieblings- Bands ist The Cure, eine andere Fields Of The Nephilim. Dadurch bin ich auch auf Lacrimosa gestoßen. Ich picke mir aus allen Bereichen die schönsten Sachen raus.
Mark: Warum fanden eure Fans denn dieses Album nicht gut, das du gerade erwähnt hast?
Mille: Damit hatte niemand so richtig gerechnet. Es ist immer noch ein Metal-Album, war aber mein Tribut an die 80er-Goth-Sachen. Ich bin auch aufgewachsen mit Sisters Of Mercy, London After Midnight, Bauhaus. Das wollte ich auf einem Album zelebrieren. Manche Leute verbinden mit einer Band auch einen bestimmten Sound. Wenn man da Experimente macht, sollte man das im Metal oder auch in anderen Genres unter einem anderen Namen herausbringen, um diese Fans nicht zu verwirren. Aber ich habe alles, was ich mache, immer unter KREATOR rausgebracht, das ist eben mein Ding seit 100 Jahren. Also dachte ich, ich kann das machen und hab es durchgezogen. Es gab einige, die fanden das doof, aber heutzutage ist es ein sehr geschätztes Album. Wir haben heute immer noch Einflüsse aus anderen Stilen, aber anders verpackt, nicht unter einem geballten Konzept. Mark: Ich fordere die Leserinnen und Leser auf, einen schönen Projektnamen für künftige schräge Projekte zu finden.
Dann können wir die Fans direkt abstimmen lassen, ob ihr beide weiterhin touren solltet. Im Radio hieß es kürzlich anlässlich der Vorstellung der neuen Coldplay-Doppel-CD, dass die Band aus ökologischen Gründen dafür nicht touren werde.
Mille: Das ist ein schwieriges Thema. Wir hatten dieses Jahr mit einer Ausnahme keine Konzerte. Es gab diese Einladung aus Santiago De Chile, wo Slayer ihre letzte dortige Show überhaupt gespielt haben. Wir kamen aus dem Winterschlaf, und es war logistisch natürlich ein Superaufwand, für ein Konzert nach Chile zu fliegen. Wahrscheinlich eine ökologische Todsünde. Bei einer Europatour kommen wir mit einem Tourbus, der ist ökologisch vielleicht auch bedenklich. Man muss sich als Band mit dem arrangieren, was möglich ist. Privat bin ich passionierter Zugfahrer, ich habe eine Bahncard als Pendler, wohne sowohl in Berlin als auch in Essen.
Mark: Wir schleppen unsere Technik mit, dazu gibt es viele schöne Fotos im Netz, wie wir mit riesigen aneinander gebundenen Kofferstapeln durch Bahnhöfe geistern. Ein ganz neues Video haben wir auf dem Weg nach Deggendorf gedreht, das heißt „Extrem-Zugfahren, Teil 2“ mit viermal umsteigen, was eigentlich unmöglich ist. Da ist man normalerweise verloren, aber wir haben Glück gehabt. Ich würde die Entscheidung zu touren nicht den Bands aufs Auge drücken. Das ist wie bei Nahrung und Politik: Es sollte sich durch den Willen der Fans, der Konsumenten oder Liebhaberinnen und Liebhaber entscheiden. Es ist schwierig vorstellbar, dass Bands gar nicht mehr auftreten, weil sie den CO2- Ausstoß vermeiden wollen. Auf der anderen Seite steht das Bedürfnis der Menschen, ihre Gefühle zu spiegeln, rauszukommen und sich mit anderen Menschen zu verbinden. Das Hauptproblem sind nicht Konzerte, sondern Lebensmittel. Das meiste Wasser, das meiste Land, die meisten Wälder werden durch die Verwendung von Tierprodukten verbraucht. Das sollte man gegeneinander abwägen.
Ihr seid Schreiber und Live-Performer. Habt ihr es noch in der Schule gehasst, vor der Klasse zu sprechen?
Mille: Auch als Musiker bei Panels war ich früher sehr schüchtern und habe kaum geredet. Ich bewundere das bei Mark und allen Leuten, die quasi nackt auf die Bühne gehen und das Publikum zwei Stunden mit ihren Thesen unterhalten können. Ich bin froh, dass ich die Gitarre um hab, meine Songs performen kann und nicht so viel reden muss. Ich drücke mich anders aus. Mark vermittelt Wissen, ich versuche, Gefühle zu transportieren. Licht- und Live-Show sind vorher gut geplant. Ich muss nur auf die Bühne gehen und abliefern.
Mark: Da habe ich viel von Bands gelernt. Früher gab es in Köln eine Location mit einem komischen Namen, ich glaube die Sporthalle, die war auf dem Messe-Gelände. Da wussten wir, wie wir durch den Hintereingang reinkommen, und dort habe ich unheimlich viele Konzerte gesehen: Depeche Mode, Chris De Burgh, alles Mögliche durcheinander. Mir ist aufgefallen, dass Bands starke Abläufe haben: Bei Pyros sollte man beispielsweise nicht drüber stehen, wenn sie gerade losgehen. Reden vor Leuten mache ich auch nicht so gerne, aber ich war Schülersprecher und habe gelernt, dass es bestimmte Methoden gibt, wie man sich kurz und klar ausdrücken kann. Dadurch kann man den ganzen Bullshit, das Gelaber und Wortgeklingel abkürzen, wie Mille mit einem Lied.
Ich sage allerdings: „Lasst uns mal alle Emotionen vergessen. Wir reden jetzt über Tatsachen, und dann könnt Ihr immer noch überlegen, wie Ihr das gefühlsmäßig einordnet.“ Die Leute sollen erst mal zuhören und leise sein, sich dann aber auch trauen, etwas zu fragen und dabei laut reden. Ihr als Band moderiert auch, weil ihr wisst, wann und wie das Publikum eskaliert. Vielleicht denkt ihr gar nicht darüber nach, aber ihr kennt das durch die Bühnenerfahrung. Es gibt mehr Ähnlichkeiten, was Steuerungsmöglichkeiten von Feedback angeht, als man meint. Und schüchtern bin ich eigentlich auch. Wenn ich etwas sagen soll, worin ich keine Expertise habe, und es dann natürlich nicht mache, heißt es auch oft: Du bist ja doch nur ein schüchterner Gothic-Boy.
Macht es dich nervös, dass du beinahe zwei Dutzend Vorträge in petto hast und teilweise jeden Abend etwas anderes referierst?
Mark: Nur die Technik macht mich kirre. Wenn ein Rechner kaputt geht, haben wir einen anderen als Backup dabei und schleppen das alles auch. Früher war es für eine Band ein Extrasatz Saiten, heute könnt ihr wahrscheinlich eine Gitarre in die Ecke pfeffern und euch eine neue geben lassen. Bei mir gibt es aber nicht nur ein technisches, sondern auch ein inhaltliches Backup. Ich schau mir erst zwei Minuten vor einem Auftritt an, welcher Vortrag drankommt. Vorher bastele ich eine Einleitung, was ich an dem Tag erlebt habe und was das mit Spurenkunde zu tun hat. Ich fordere mich heraus, um in keine Routine zu verfallen. Ich habe aber weder Band noch Pyros. Ich verneige mich davor, dass eine Band-Choreografie für das Publikum immer noch spontan wirkt.
Mille, sind deine Alben für dich auch wie bei anderen Musikern alle deine Kinder?
Mille: Hundertprozentig. Ich bin niemand, der seinen Katalog immer wieder analysiert, anschaut und darüber nachdenkt: Welches finde ich am schönsten, welches am schwächsten? Ein fertiges Album ist für mich abgeschlossen. Bei einem neuen finde ich zunächst alle Lieder gut. Später merke ich, dass manche den Test der Zeit nicht bestanden haben. Ich will mich nicht zu sehr mit der Vergangenheit beschäftigen, immer wieder neue Impulse schaffen. Mit KREATOR als Band ist das möglich. Der Trick ist, dass man sich nicht wiederholt. Das ist das Schwierigste. Was mir manchmal den Schlaf raubt, ist, Themen für Songs zu finden. Jedes Album steht für sich und die Zeit, in der es entstanden ist, und den Seelenzustand, den ich raushauen musste.
Mark: Das Thema ist bei mir nur Streuselzucker. Der Body ist, dass die Menschen keine Grundannahmen machen, sondern alles durch Experimente prüfen sollen. Keine Gefühle einsetzen, sondern einen Test, selbst wenn er aufwändig ist. Das wird dann nur an einem Beispiel wie „Alien-Autopsie“ dargestellt. Wir haben auch Experimentierbücher für Kinder und Jugendliche. Meist haben wir ein Buch ausliegen, da können die Besucher Fragen reinschreiben, und ich beantworte sie nach der Pause. Das ist das Spannende, denn du lernst etwas über das Publikum.
Ich stehe auch vorne, nie auf der Bühne. Jeder kann mich anfassen, Selfies machen. Ich bin im Gewühl drin. Man kann innerhalb einer Region total unterschiedliche Besucher haben. Unsere Fans finden nicht schlicht Kriminalbiologie gut, sondern die einzelnen Themen. Sehr große Unterschiede gibt es zwischen „Bakterien auf Leichen“, „Alien- Autopsie“ und „Serienmord“. So treffe ich immer neue Menschen. Mein großer Vorteil gegenüber Bands: Ich habe keinen Auftrittsapplaus, keinen Zwischenapplaus, nichts, weil ich das nicht zulasse. Ich mache das wie bei einer Vorlesung: Immer die Ruhe bewahren, keine überschäumenden Gefühle.
KREATOR haben schon Slime und Bad Religion gecovert, nie ihre Punk-Liebe verleugnet. Mark war 1989 mit dem Schlagerpunk bei seiner Band Die Blonden Burschen sicher seiner Zeit voraus.
Mark: Wir haben eventuell schon etwas früher damit angefangen als andere, das stimmt. Danach wäre es total lame gewesen, da hätten die Leute Vergleiche mit Bands gezogen, mit denen wir gar nichts zu tun hatten. Das hätte sich als unser Genre etablieren können, aber es ist schön, wenn nicht alles funktioniert. Wir hatten irgendwann keinen Bock mehr. Wir waren beispielsweise als die Geister der Beatles im Schauspielhaus Bochum. Wir hatten zuvor zwar die Unterhosen der Fans gesammelt, aber davon abgesehen gar keine Deko. In Bochum konnten wir auf einmal mit dem Finger schnipsen, und wir wurden wie die Beatles geschminkt und komplett kostümiert. „Ihr braucht einen goldenen Hirsch, der zwei Meter groß ist? Okay, stellen wir euch hin – viel Spaß.“ Wir konnten erleben, wie in anderen Welten ganz andere Regeln herrschten. Also, das war alles großartig.
Wie eine große Band einen Bühnenaufbau hinbekommt, ist für mich unvorstellbar. Ich hab gelesen, dass KREATOR mal innerhalb von zwei Monaten auf Wunsch der Plattenfirma ein Album abliefern mussten. Das wäre uns irgendwann vielleicht auch so gegangen, und das haben wir bewusst vermieden. Dafür waren wir zu kauzig, mich würde der Logistik-Stress killen.
Habt ihr einen persönlichen Bezug zum „Ox“-Magazin, für deren fünftes Kochbuch – das erste vegane – ihr Rezepte beigesteuert habt?
Mille: Ich bin seit 30 Jahren Fan, hatte es früher mit dem Plastic Bomb zusammen gelesen und bin irgendwann nur noch beim „Ox“ geblieben, weil es von den Themen her sehr vielschichtig ist.
Weißt du noch, welches Rezept du beigesteuert hast, Mille?
Mille: Pasta Terror Palermo. Das war Pasta mit irgendeiner Soße oder Pesto. In meiner vegetarischen Zeit hatte ich mir immer schon die „Ox“-Kochbücher gekauft und bin durch Joachim veganisiert worden.
Mark: Pesto Terror wäre doch der gesuchte Projektname! Ich war kein Leser des „Ox“- Magazins, sondern bin direkt durch Joachim zu „Kochen ohne Knochen“ gekommen. Er hat mich auch vom Vegetarier zum Veganer gemacht.
Mille: Echt, hat er gemacht?
Mark: Ich traute mich nie, in Supermärkten oder Bäckereien nachzufragen. Er ist einfach zur Theke gegangen, wohlgemerkt von einem Bioladen, und meinte: „Haben Sie hier eigentlich gar nichts Veganes bei den Backwaren?“ Da haben meine Frau und ich uns angeguckt – man muss gar nicht so schüchtern sein. Das hat das Ganze deutlich beschleunigt, ich habe gemerkt: Man kann den Leuten auch mal zwei Prozent auf den Wecker gehen, da sterben die nicht von.
Mille: Dadurch dass Leute wie Joachim, ihr und ich gefragt haben, muss man es heute oft gar nicht mehr. Man muss allerdings noch härter aufpassen, weil ich letztens gelernt habe, dass bestimmte Brötchen sogar Schweinefett enthalten.
Mark: Richtig; schwäbische Brezeln enthalten gerne Schweineschmalz. Und bei Baguettes ist manchmal Milchpulver oder Molke drin. Oder wie neulich gesehen Sahnepulver. Fragen ist nicht nur gut, um das Ganze zu fördern, sondern auch um zu verhindern, dass man doch etwas Ungewolltes im Essen hat. Einer der gezeichneten Lieblingswitze meiner Frau zeigt einen Brokkoli. Und wenn man ganz nahe rankommt, steht da „Bestandteile: Brokkoli, Molke“.
Gesteht ihr euch aus Genuss oder Bequemlichkeit Schwächen zu? Muss man in Askese leben?
Mille: Ich bin kein Dogmatiker. Ich bin viel auf Reisen, und nach Stunden unterwegs fragt man nicht beim Buffet, ob in den Brötchen vielleicht Eier sind. Dann isst man, weil man total fertig ist. So weit möglich mache ich keine Ausnahmen. Ein Beispiel: Ich bestelle in einem Hotelrestaurant Pasta mit Pilzsoße bewusst ohne Sahne. Wenn dann der Teller vor mir steht und doch Sahne genutzt wurde, lasse ich das nicht wegwerfen. Dass jemand, der sich vegan ernährt, kein Genussmensch sein kann, ist absoluter Quatsch. Im Gegenteil. Ich habe die ganzen Möglichkeiten dadurch erst entdeckt und dank der ganzen Muffins ein Kilo mehr drauf gehabt.
Aus deinen Beinahmen „Dr. Made“ und „Herr der Maden“ ist mittlerweile eine Merchandise-Kollektionen entstanden, Mark. Was hältst du vom Life-Style-Tend, Insekten zu verspeisen — oft unterfüttert vom Argument, damit dem Welthunger entgegenzuwirken?
Mark: Ich bin Dogmatiker bei dem Veganen. Eine Band muss sich an Zeitpläne halten, wir holen uns bei Problemen einfach beim dm oder Rossmann irgendwelche Pasten. Das ist der Vorteil der kleineren Einheit. Der Merch ist nicht von mir, das läuft über den Fan-Shop „Der Geisterjäger“ von John Sinclair. Zu den Insekten: Ich finde es keine gute Idee, denn es ist Tiernahrung, da hast du wieder die Problematik vom Wasser- und Landverbrauch. Am Ende des Tages muss man die Tiere ernähren. Man führt eine zusätzliche Stufe des Wasser- und Energieverlustes ein. Jede Monokultur von Tieren oder Pflanzen ist total störanfällig, man muss massenhaft Antibiotika draufkippen, was auch betriebswirtschaftliche Kosten verursacht.
Ich finde das sehr schön in „Blade Runner 2049“ dargestellt, der kürzlich in den Kinos war. Da ernährt sich die Welt von Insektenlarven, ist aber zu einer riesigen grauen Wüste geworden. Gestern war eine Veröffentlichung in der Zeitschrift Nature, dass der absolute Umschwungpunkt des Klimas wohl schon erreicht ist, nach dem es keine Möglichkeit mehr gibt, den Meeresspiegelanstieg um zehn Meter im Laufe von 1.000 bis 10.000 Jahren zu begrenzen. Das ist kein langer Zeitraum, wenn man sich die Entwicklung des Lebens auf dem Planeten anguckt. Wir werden es nicht mehr hinbekommen, wenn die Menschen nicht aufhören, sich von Tieren zu ernähren. Bei Insekten hast du alle Probleme der Massentierhaltung, nur keine traurigen Kuh- oder Schweineaugen. Das ist nur ein emotionaler Faktor und lässt sich besser verkaufen.
Mille: Bei einem Buffet in Mexiko hatte ich einen Salat, auf dem ich plötzlich Heuschrecken gesehen habe. Man denkt, Insekten wären eine gute Proteinquelle und ein Schlüssel für die Ernährungsprobleme der Zukunft. Da weißt du sicher mehr als ich, Mark, aber Insekten sind wichtig für jedes Ökosystem. Wenn man sie eliminiert und isst, hat man ein neues Problem.
Mark: Gut, dass du das sagst. Es gibt viele Kulturen, in denen Insekten schon immer gegessen wurden, ich habe da stapelweise Bücher zu. Man greift aber zu tief in natürliche Ökosysteme ein, um eine genügende Menge Eiweiß zu erzielen, wenn man auf Monokulturen verzichten will. Damit zerstört man die Nahrungsnetze. Egal wie man es dreht und wendet, es funktioniert mit Tieren als Nahrung nicht.
Der Name John Sinclair fiel bereits. Mark war direkt als Autor und Figur involviert. KREATOR steuerten 2012 für den „Dark Symphonies“-Tribute-Sampler ‚Wolfchild‘ bei, der als Beigabe zur Hörspielfolge „Angst über London“ erschien. In besagter Folge hast du auch neben unter anderem Nena einen Nachrichtensprecher gegeben, Mille.
Mille: Das war ein einziger Satz, genau. Das hatte Andreas Dorau zusammengestellt, den ich dadurch kennengelernt habe. Es war ein Jubiläum, und sie haben verschiedene Künstler um einen Song gebeten. Dadurch fühlte ich mich sehr geehrt, weil ich großer John-Sinclair-Fan bin – wer ist das nicht?
Neben KREATOR waren dabei auch Tocotronic, H-Blockx, Söhne Mannheims und Marianne Rosenberg unter den 19 Interpreten.
Mille: Andreas ist da sehr offen und hat sich seine Lieblingskünstler zusammengesucht. Ich habe früher keine Romane gelesen, sondern Comics – alles von Marvel. Spider-Man war mein Lieblings- Comicheld. Bei uns am Kiosk gab es dann ein „Macabros“-Heft. Da fand ich das Cover mit einem Monster unheimlich gut, aber ich bin da nicht reingekommen. Mein erstes richtiges Buch war in Anführungszeichen „nur“ ein John-Sinclair-Roman. Das konnte man schnell weglesen, und die Bilder sind dann im Kopf entstanden. Ich brauchte eine Brücke von den Comics zur Schauerliteratur von Clive Barker und Stephen King.
Mark: Ich habe den selben Bezug zu Spider-Man, bin heute noch großer Comic-Sammler und habe der Stadtbibliothek Köln die Gesamtausgabe von Carl Barks als Hardcover spendiert, die jetzt als einzige Comic-Serie in der Abteilung für Weltliteratur steht. Ich liebe die Bibliothekarin für immer dafür. Das ist auch der Grund, warum ich Biologie studiert habe: Peter Parker, also Spider-Man, studiert im Comic Biochemie. John Sinclair kannte ich vorher gar nicht so genau. Mich hat der Lübbe-Verlag als Autor angesprochen, und ich habe den Erfinder Helmut Rellergerd kennengelernt. Das ist auch so ein Ruhrpottgewächs, er nennt sich Jason Dark. Es war die Bedingung von mir, dass meine Frau, meine Mitarbeiterin Tina und ich mit echten Charakterzügen vorkommen, und mein Co- Autor Florian Hilleberg hat das perfekt aufgegriffen. Bei der ersten John-Sinclair-Convention bin ich zu Helmut Rellergerd hingegangen und sagte: „Hömma, würdest du mir deinen Namen auf den Arm schreiben? Ich hab da viele Autogramme tätowiert.“ Das fand er total strange und hat sich vor Aufregung verschrieben. Jetzt steht da „Jaso Dark“, er hat das „n“ versehentlich weggelassen. Bei der nächsten Convention, die war 2018, gab es das dann als offizielles Angebot, sich sein Autogramm tätowieren zu lassen. Helmut findet das bis heute total merkwürdig.
Mille: Peter Parker war auch in meiner Jungend das absolute Vorbild, ich wollte immer Superheld werden, aber das hat irgendwie nicht funktioniert. Die Identifikation mit dieser Figur hat mich dazu gebracht, etwas zu machen, was sich außerhalb dieser Gesellschaft befindet. Und du bist dafür in die Biologie gegangen. Echt erstaunlich, welchen Einfluss diese Figur auf die Weltgeschichte hat. Mark: Für viele bist du ein Superheld geworden, insofern hat es doch noch funktioniert.
Eine weitere literarische Gemeinsamkeit von euch war auch 2012 ein Sonderband von Virus zum Thema Zombies.
Mille: Ich glaube, ich wurde nur interviewt. Mark, kannst du dich noch erinnern?
Mark: Ich habe schon öfter etwas für die „Virus“ gemacht. Ich gebe gerne auch wissenschaftliche Interviews über Zombies für universitäre Medien und Theaterprojekte. „Sind Zombies als Migranten aufzufassen, ist es die Angst vor dem Fremden?“ – also auch ganz vergeistigte Sachen. Für die „Virus“ macht man aber immer Brachiales. 2012 habe ich, glaube ich, mit Claudia Rindler – eine sehr gute Seifenherstellerin und Maskenbildnerin – gearbeitet. Sie macht immer total blutigen Scheiß mit mir. Da haben wir, glaube ich, dreckige Zombie-Sachen in Form einer Foto-Love-Story draus gemacht.
Das passt zur nächsten Frage: Folge 34 des TV-Formats „Durch die Nacht mit...“ brachte dich mit Michaela Schaffrath alias Gina Wild zusammen. Spannender war aber sicher der Regisseur davon, Jörg Buttgereit.
Mark: Jörgs Autogramm hatte ich auch sehr früh auftätowiert. Wir sind früher mal zusammen als die Necromaniacs aufgetreten: Jörg, Philipp Schliemann als Dichter und ich. Das könnte 20 Jahre her sein. Natürlich verehre ich Jörgs Filme, man kann gar nicht beschreiben, wie geil ich die finde, wie gehirnsprengend. Was ich hier exklusiv verrate, wusste bisher noch niemand: Ich habe wochenlang verwesende Lebewesen gefilmt, und Jörg hat dabei Regie geführt. Wir bringen zusammen einen schönen Verwesungsfilm heraus – mit ganz vielen Maden, ganz viel Fäulnis. Der ist gerade im Schnitt. Dass sich einfach mal jemand getraut hat, diese damals seltsam anmutenden Filme zu drehen, machte Mut. So wie Peter Parker uns als Kindern Mut gemacht hat. Jörg ist immer so ruhig und bescheiden, berlinert beim Reden. Das ist eine richtig eindrucksvolle, tolle Figur.
Mille: Da kann ich nur zustimmen, wir kennen uns auch persönlich. KREATOR und er wollten schon zweimal zusammen etwas erschaffen.
War er für „Hallucinative Comas“ im Gespräch?
Mille: Genau. Das war 1990. Dann hat die Plattenfirma reingeredet, damit Jörg gewisse Dinge nicht macht, hat versucht, ihn kreativ in eine bestimmte Richtung zu drängen, damit man das auch schön auf MTV bringen kann. Da hatte er natürlich keinen Bock drauf. Das fand ich sehr schade. Er hat mich mit Andreas Marschall zusammengebracht, der dann auch das Cover für das damalige Album gemalt hat. Jörg ist einer der größten Künstler, die es jemals in Deutschland gab. Er war so innovativ, hat ganz früh Tabus gebrochen, was großen Einfluss auf viele Filmemacher hatte. Wenn man Tarantino darauf anspricht, würde er Jörg Buttgereit auch kennen.
Zarter besaitete Außenstehende werden euch einen Hang zum Morbiden unterstellen. Beschäftigt ihr euch aber nicht vielmehr mit der puren Realität – mit Psychologie und Biologie?
Mille: Ich finde es nicht morbide, wenn man sich mit dem Leben auseinandersetzt. Wenn ich in ‚Extrem Aggressions‘ darüber schreibe, was manche Leute dazu bringt, Amok zu laufen, dann ist das eine grauenhafte Geschichte, aber Realität. Das sehe ich bei dem was Mark macht, ähnlich. Er zeigt, was mit unserer aller Körper passiert, und sagt vielleicht: Nehmt das Leben nicht zu ernst. Oder?
Mark: Dazu kommt, dass viele Menschen an unser Team mit Fragen herantreten, die sachlich sehr speziell sind, zum Beispiel: „Wie sieht meine Oma nach zehn Jahren in diesem und jenem Grab aus.“ Das können wir gerne zeigen anhand von Fotos, aber: Sind die Leute sicher, dass sie das wirklich wissen wollen?
Sind beispielsweise bei den Vampir-Themen besonders viele Gothics oder auch Black-Metal-Fans im Publikum?
Mark: Es geht dabei um klinischen Vampirismus. Da sind überhaupt nicht gehäuft Gothics da. Die kommen eher, wenn ich speziell was für sie anbiete. Oder ich mache etwas auf dem WGT, dem Wave- Gotik-Treffen, dem größten Genre-Festival der Welt. Dort bin ich der Mensch, der am häufigsten aufgetreten ist. Da lege ich auch als Eröffnungs- DJ auf. Die Fragen der Gruftis kommen aber nicht gehäuft aus dem Bereich, den man sich denken könnte, etwa Horrorfilme. Sie fragen gezielt nach Leichen, Tod, Fäulnis – was andere Leute ohne erkennbaren Subkulturkontext eben auch interessiert. Die Szenegänger sind allerdings offener für das, was für andere gruselige Dinge sind. Andere müssen erst einmal ein Trauma haben, da muss jemand gestorben sein, es gab ein Sexualdelikt oder häusliche Gewalt. Dann werden sie offener für solche Themen und interessieren sich dafür.
Erreicht etwas in Horrorfilmen oder Marks Beruf deine persönliche Ekelgrenze, Mille?
Mille: Aus irgendwelchen Gründen habe ich keine solche Grenze, was Horrorfilme betrifft. Weil ich weiß, dass es eine Inszenierung ist. Ich bin kein Fan echter Darstellung und mag auch keine Operations-Dokus, wo man detailliert sieht, wie Menschen aufgeschnitten werden. Ekel gibt es dann eher in der Realität. Ich war bei der Körperwelten-Ausstellung, das fand ich seltsam. Aber ich bin eben auch kein Wissenschaftler. Bei mir hat Tod und Verderben mit einer Inszenierung zu tun, was natürlich völlig weltfremd ist. Sterben gehört zum Leben dazu.
Bei euren Covern wäre manches für Mark interessant. Beispielsweise die Wasserleiche von der „Out Of The Dark... Into The Light“-MLP aus den 1980ern.
Mille: Das war nie als Wasserleiche gedacht, es sollte ein Dämon sein, der aus dem Wasser steigt.
Mark: Endlich wird das mal aufgeklärt.
„Ich habe wochenlang verwesende Lebewesen gefilmt, und Jörg Buttgereit hat dabei Regie geführt.“
Stolperst du manchmal über Texte beispielsweise aus dem Death Metal, bei denen du denkst: Wow, das ist ganz schön kompetent, wie mein Berufsalltag hier einfließt?
Mark: Es gab eine Metal-Band mit echten Sektionsprotokollen, die kennt ihr wahrscheinlich.
Carcass?
Mark: Ah, ja, genau. Aber ich prüfe grundsätzlich nicht bei Kinofilmen oder Texten, wie realistisch, ehrlich oder gut recherchiert das ist. Wie Mille sagt: Es ist eine Inszenierung und so soll das auch beibehalten bleiben. Ich mag nicht dieses Kleinkarierte, eine andere Welt in meine hineinzuziehen. Nur weil ich etwas unter dem Mikroskop zergliedere, muss ich das nicht mit Texten oder Filmen machen. Ich mag auch nicht die Kino-Nerds, die Continuity-Fehler auf Webseiten auflisten. Ich möchte den Film als Gesamtkunstwerk sehen und nicht zerlegt und analysiert, ob jemand die Hemdsärmel in einer Szene runter- und in der nächsten hochgekrempelt hat. Ich liebe Details, aber nur in der Welt, für die ich zuständig bin. Für die Welt der Gefühle und Geschichten – Lieder, ganze Alben sind ja auch Geschichten – bin ich nicht zuständig. Also halte ich da gern meine Klappe. Es kommen eher Fans zu mir und sagen: „Die Band muss dir gefallen, weil auf dem Cover eine krasse Leiche zu sehen ist.“ Aber ich sehe genug Leichen in der Wirklichkeit.
Das Thema Tattoos ist eben schon angeklungen. Auch Mille ist tätowiert, KREATOR-Drummer Ventor Tätowierer.
Mille: Ich habe damit angefangen, als Tattoos gerade ein wenig en vogue wurden. Mein erstes habe ich in Brooklyn, New York bekommen. Wir waren damals mit Biohazard, einer Hardcore-Band von dort, unterwegs, deren Musiker völlig zugestochen waren. Es sollte ein Saurierschädel sein, sieht aber leider etwas mehr wie ein normaler Totenschädel aus. Es gab einen Grund, wieder aufzuhören: Weil ich gemerkt habe, dass auch in dieser Kunst immer Trends kommen. Wobei ich immer Tribals gut finde. Vielleicht komme ich irgendwann noch mal in die Laune zu einem neuen Motiv.
Mark: Ich bin ProTattoo-Vorsitzender und fahre übermorgen zu Tattoomenta in Kassel. Ich halte auch auf medizinischen Kongressen Vorträge über Tattoos. Meist sind es aber eher Subkultursachen, wo manche auch sehr extreme Piercings haben und sich an Haken unter die Decke hängen.
In den 1990ern habe ich in New York gewohnt, dort viel gesehen und zum Glück auch fotografiert. Uns war allen früh klar, dass motivisch vieles kommt und geht: Füchse, Eulen, Tribals, Arschgeweihe, die Unendlichkeitsschleife. Ich komme aber aus der Bodenschicht, da wurde das gestochen, worauf du Bock hattest – oder worauf der Tätowierer Bock hatte. Da hingen in den Studios Vorlagen an der Wand, man hat sich eine ausgesucht – Ende des Gesprächs, fertig. Ich war lange Zeit Kolumnist, habe die „Letzte Seite“ des Tätowiermagazins geschrieben, übernommen von Herbert Hoffmann, dem verstorbenen ältesten Tätowierer Deutschlands. Ich war und wurde also immer immunisiert gegen Moden, hab aber auch ein geiles Arschgeweih. Mille: Ich auch, ich auch.
Mark: Meins ist richtig mies, davon sollten eigentlich Fotos zum Interview kommen. Eine Fledermaus, ganz übel von einem Bahnhofstätowierer gestochen. Der Mond hängt vor den Wolken. Aber es stört mich nicht, es gehört zu mir. Ich sehe es allerdings auch nicht.
Einer deiner Buchtitel lautet passend „Warum Tätowierte mehr Sex haben“.
Mark: Das ist nur eine charmante Methode, Leserinnen und Lesern Wissenschaft schmackhaft zu machen. Ich habe seit Jahren jede Woche eine Sendung über ein wissenschaftliches Thema im Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk, die gibt es auch als Podcast– habe ich heute morgen vor unserem Interview auch live gesendet.
Laut einer Studie haben Tätowierte mehr Sex – keinen besseren. Die Erklärung ist, dass sie mehr Abwechslung im Leben schätzen. Das Buch hieß vorher „Warum man Spaghetti nicht durch zwei teilen kann“ und dann hat der Verlag gesagt: „Hör mal mit den Spaghetti auf, das nennen wir jetzt anders.“
Wenn man eure beiden Namen zusammen googelt, landet man bei euren Nominierungen für die 2010er Wahl zum „Sexiest Vegetarian“ national.
Mille: Solche Dinge sollen unterhalten. Wenn man in so einer Liste vorkommt, freut man sich ein bisschen, arbeitet aber nicht darauf hin.
KREATOR sind eine Schülerband, deren Kern trotz Ventors Ausstieg für einige Jahre erstaunlich stabil ist. Ihr seid ein Produkt des Ruhrgebiets und habt in einem großen Freundeskreis zur Musik gefunden.
Mille: Kann man so sagen. Wo kommst du her, Mark?
Mark: Ich bin in Köln aufgewachsen, also keine Ruhrpottpflanze. Aber diese Rhein-Ruhr-Region ist in mir tief verwurzelt. Dieses Freundlich-Liberale.
Als Geburtsort ist Rosenheim angegeben.
Mark: Meine Eltern sind sehr schnell nach Köln gezogen, da war ich, glaube ich, zwei Jahre alt. Der einzige Vorteil ist, dass ich mich gerade als Bürgermeister von Würzburg aufgestellt habe, und alle sagen: Der ist in Bayern geboren, den können wir wählen.
Köln steht einerseits für katholischen Klüngel, aber eben auch für die angesprochene liberale Haltung. Du bist also nicht aus der Provinzisolation in deine Musikliebhaberei geflüchtet.
Mark: Das war in Köln eh alles egal, du konntest machen, was du wolltest. Im Ruhrpott ist das vielleicht etwas anders, weil die einem da ziemlich gerade Ansagen einschenken. Meine Grundschulfreundin Tanja, die gerade meine Biografie gelesen hat, schrieb mir vor wenigen Tagen: „Das ist im Nachhinein das Ungewöhnliche, dass wir kein Konzept von Rasse, sexueller Identität, sozioökonomischer Schicht und so weiter hatten.“ Das ist nicht das aufgesetzte „man muss tolerant sein“ von heute. Ich schwöre, dass meine Eltern so etwas nie thematisiert haben. Das Intolerante wie auch das politisch Korrekte kannten wir einfach nicht, und ich habe viel später gelernt, wie ungewöhnlich das weltweit ist, in so einem Klima aufzuwachsen. Das ist wie im Pott mit den vielen Einwanderern.
Mille, du bist väterlicherseits italienischstämmig.
Mille: Im Ruhrgebiet hat man nicht daran gedacht, dass jemand aufgrund seiner Herkunft irgendwelche konkreten Charaktereigenschaften haben sollte. Entweder man hat sich gemocht oder eben nicht. Es gab natürlich Rempeleien unter Leuten aus anderen Ländern, aber es wurde ein sehr liberales, offenes Weltbild vermittelt.
Mille ist Jahrgang 1967, Mark 1970. Ihr seid mit drei Fernsehprogrammen, RAF-Fahndungsplakaten in Postämtern, einem geteilten Deutschland und über allem dem Kalten Krieg aufgewachsen. Hat man da bei der heutigen Weltpolitik ein Déjà-vu?
Mille: Ich habe gerade die letzte Staffel von „American Horror Story“ angeguckt, die heißt „Apokalypse“. Darin wird das thematisiert. Man tut so, als wäre die atomare Bedrohung gar nicht existent. Es gibt sicherlich sogar noch mehr Atomwaffen als in den 1980ern. Die Massenvernichtung kann jeden Tag stattfinden. Als Kind hatte ich Albträume von einer Atombombe, die bei uns hochgeht. Man musste in der Schule Filme gucken, wie man sich in seinem solchen Fall verhält. Wer das als junger Mensch erfährt, macht sich seine Gedanken automatisch. „The Day After“ war eher ein Spielfilm, das andere ein englischer Dokumentarfilm, den ich gerne noch mal wiedersehen würde.
Milles Einstellung zu Religion manifestiert sich in seinen Texten, früher war er aber Messdiener. Du auch, Mark?
Mark: Es gibt eine goldene Regel: Jeder, der auf der Bühne steht, war Messdiener. Du lernst, dass du choreografieren und auf andere achten musst, dass es Regeln gibt, aber auch wie man die unterlaufen kann. Das ist das beste Training, das man haben kann. Bei mir war es meine bayerische Mutter, bei Mille vielleicht der italienische Einfluss. Aber das wurde auch nicht groß diskutiert. Ich fand das Messdienern gut, es war auch weniger langweilig, als auf den harten Bänken zu sitzen.
Mille: Ich auch. Man hat das erste Mal das Gefühl, einen Auftritt zu haben. Ich war nicht oft bei der Messe dabei, vielleicht ein halbes Jahr. In der Zeit musste ich viele Gedichte auswendig lernen, und dieses Talent habe ich dadurch an mir entdeckt. Wahrscheinlich profitiere ich heute noch von vielen dieser frühen Erfahrungen.
Ihr seid keine Opportunisten, die keine potenzielle Fan-Gruppe verschrecken wollen. Habt ihr Konsequenzen aus den sicher erlebten Shitstorm-Stahlgewittern gezogen?
Mark: Für einen Wissenschaftler, der mit seiner Frau im Zug tourt, haben wir recht viele Fans oder Follower. Erst auf Facebook, dann haben wir Instagram noch dazugenommen.
Mille: Darüber verfolge ich immer, was du so alles machst.
Mark: Geil, sehr, sehr schön. Ich kannte mich mit den ganzen Trollen und so nicht aus und hätte wahrscheinlich ganz naiv drauf geantwortet. Aber meine Frau ist in sozialen Netzwerken als Leiterin eines solchen sehr erfahren. Ihre Strategie kann ich nur weiter empfehlen: Wenn Leute beleidigend werden: Kommentarlos blocken, keine Diskussion anfangen. Streiten dürfen Leute, so lange sie nah am Inhalt bleiben und keine Totschlagargumente nutzen. Gestern war Klimastreik, und wir haben in Wiesbaden ein paar Fotos mit Fridays-for-Future- Demonstrantinnen und -Demonstranten gemacht. Fünfjährige mit einem „Es gibt keinen Planeten B“-Schild, aber auch Erwachsene wie „Omas und Opas gegen Rechts“ waren da. Wir stellen uns dazu und posten Fotos, damit sie Aufmerksamkeit bekommen. Wer deren Inhalte als Lüge bezeichnet, kennt die Messdaten nicht. Ich freue mich, wenn Leute miteinander reden. Wer das nicht kann, fliegt raus.
Mille: Sehe ich ähnlich. Mit zunehmenden Alter komme ich an den Punkt, zu erkennen: Es gibt Dinge, die kannst du nicht ändern, beziehungsweise es gibt Energien, auf die sollte man nicht reagieren. Wenn absolut destruktive oder weltfremde Kommentare über Veganismus oder rechtes Gedankengut kommen, hat man die Möglichkeit zu ignorieren und eben nicht zu reagieren. Nichts zu sagen ist manchmal auch ein Statement.
Du bezeichnest dich als Politiker-Skeptiker. Mark stellt sich als Mitglied von Die PARTEI der Bürgermeisterwahl in Würzburg.
Mille: Die Partei Die PARTEI finde ich großartig.
Sie hat erst als Satirepartei gestartet, aber es gibt Elemente, die sich davon abgrenzen, oder? Ironische Positionen decken auch vieles auf.
Mark: Selbst als ich in New York gelebt habe, war ich Titanic-Print-Abonnent. Das Heft wurde auch immer pünktlich von diesem kaugummikauenden, eigentlich stinkfaulen und Discman-hörenden Postzusteller geliefert. Wobei das East Village eine sehr wilde Gegend voller Tattoo-Studios und so war. Ich hatte mal einen Dreh mit der Frau von Martin Sonneborn, dem Parteigründer. Ich wollte gerne Gesundheits- oder Wissenschaftsminister werden. Dann haben wir das ein bisschen gedreht. Auf dem ersten Plakat meiner Kampagne warb ich pfeiferauchend für Gesundheit. Jetzt bin ich seit zehn Jahren Vorsitzender des größten und natürlich mächtigsten Landesverbands von Die PARTEI, das heißt in NRW. Die meisten Stimmen habe ich mit Glasperlen bekommen, die und Glitzerperlen kaufe ich kiloweise bei Amazon. Bier, Schnaps und Taschenrechner haben wir auch schon verschenkt. Und auch SM-Handschellen. Je höher man in die politische Funktion reinwächst, wie Martin und Nico im EU-Parlament, umso ernster muss man auch sein. Wir sind in vielen Stadtparlamenten, dafür muss man ernst sein. Martin Sonneborn ist der ernsteste Mensch, den ich in meinem Leben getroffen habe, alle Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eingerechnet. Es gibt das literarische Zitat, dass Satiriker enttäuschte Idealisten sind. Es ist aber noch mehr. Wie auch der neue Chefredakteur der Titanic, Moritz Hürtgen, sind sie unfassbar ernst. Eigentlich sind das Gothics, ohne es zu wissen. Ihre Gedanken kreisen nicht um Tod und Vergänglichkeit, sondern den Zustand der Welt.
Wäre Lokalpolitik denn etwas für dich, Mille, weil man da viel direkter etwas erreichen kann?
Mille: Da bin ich komplett raus, für ein politisches Amt bin ich wohl zu soziophobisch. Ich bin gerne alleine, sicher kein Misanthrop, habe aber misanthropische Züge. Ich habe großen Respekt vor jedem, der so ein Amt gut führt. Ich hab eigene Probleme und muss mein eigenes Leben regeln, Probleme der Gemeinschaft zu behandeln ... dazu habe ich mich nie berufen gefühlt.
Willst du als Texter auch keine Lösungen vortragen, sondern erst einmal Probleme benennen?
Mille: Ich stelle dar. Es wäre überheblich zu behaupten, dass ich mehr als andere weiß in Bezug auf die großen Fragen der Menschheit. Ich versuche meine Gedanken zum Ausdruck zu bringen, das fällt mir schon schwer genug. Da zu werten, was richtig oder falsch ist, halte ich für einen komischen Ansatz. Natürlich gibt es auch Kunst, die Positionen einnimmt. Menschlichkeit im Sinne eines humanistischen Weltbilds ist in meinen Texten ohnehin vorhanden. Wer zwischen den Zeilen liest, merkt das, selbst wenn die Songtitel das nicht immer vermuten lassen.
Mark: Das ist in den Naturwissenschaften auch so. Was Mille gesagt hat, kannst du 1:1 als Anleitung für ein gutes Gutachten nehmen.
Mark, deine Biografie erschien vor wenigen Wochen. War das Angebot so verlockend, oder versuchst du damit ein FAQ abzuhaken?
Mark: Manche Fragen in unserem Fragenbuch auf der Bühne ähneln sich natürlich. Verlockend sind solche Angebote nie. Ein Buch zu schreiben ist die zehnte, elfte und zwölfte Plage – richtig ätzende harte Arbeit, und man verdient auch nicht viel dran. Aber in den Fall hatte ich Spaß und es ist auch nur als Biographie getarnt. Die echte Geschichte ist: Wie wird aus dem karohemdtragenden Nerd- Jungen mit der Brille, der keine Ahnung davon hat, wie soziale Interaktion richtig funktioniert, ein Wissenschaftler, der Vorträge hält? Daran können sich die Leser ein Beispiel nehmen, wenn sie Lust haben, oder drüber lachen und es doof finden. Es kommt kein Sex vor, keine Beziehungssachen, keine tollen oder doofen Leute, die ich getroffen habe. Der kleine Junge, der durch die Welt geistert und auf einmal ein großer Junge ist, der nie erwachen wurde – mehr ist es nicht.
Mille: Geil, das muss ich mir kaufen.
Mark: Gib mir gleich deine Adresse, dann schick ich dir eins.
Eine gebundene KREATOR-Biografie gibt es bereits.
Mille: Momentan fühle ich mich zu jung für eine Biografie, ich bin hoffentlich noch in der Mitte meines Lebens. Bei einer Musikerbiografie wird erwartet, dass man bestimmte Erlebnisse auf den Tisch legt…
So in der voyeuristischen Art von „The Dirt“?
Mille: Genau damit tue ich mich schwer. „The Dirt“ ist das Paradebeispiel, wie man so etwas gut macht. Mein Leben ist aber ähnlich wie das von Mark, auch eher nerdig als Rock’n’Roll.
Wäre ein DJ-Job vielleicht auch etwas für dich?
Mille: Ich hab das zweimal gemacht, und das war nicht so gut. Ein Freund von mir hat den besten Electro-Club in Essen, das Hotel Shanghai. Wenn der einen coolen DJ hat, stehe ich auch gerne hinterm Mischpult, aber nur um zu feiern und nicht in der Menge zu stehen. Ich bin einfach kein guter Tänzer. Es ist eine Kunst, gut aufzulegen.
Mark: Ich hab als Kind schon auf der katholischen Ferienfreizeit vom Kassettenrekorder aufgelegt, weil ich auch wie Mille nicht in der Menge stehen wollte.
Mille: Mit Doppel-Tapedeck!
Mark: Richtig, da hieß das dann auch nicht DJ, da war man der Junge, der nicht knutschen will. DJ Elvis vom legendären WGT hatte mich dann gefragt, ob ich nicht eröffnen will, er wollte da einen einmaligen Gag machen, und so kam das. Ich spiele nur, was ich mag, und lasse keine Publikumswünsche zu. Es gibt sogar ein Schild dazu. Als DJ kannst du mit den fettesten Boxen der Erde deine Lieblingslieder, die sonst keiner spielt, aufdrehen. Ich höre ja nur so schrägen Scheiß.
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