Der reverse C.S.I.-Effekt Teil 2 und 3 (Kriminalistik)

Quelle: Kriminalistik, 3/2010, 64. Jahrgang, Seiten 174 bis 179, der Artikel als .pdf

Der reverse C.S.I.-Effekt - Wenn Spuren nicht beachtet werden: Fortsetzung aus Kriminalistik 2/2010

Teil 2: Mord oder Totschlag? Ein Rückenschuss entscheidet: Der Fall Streicher

Von Saskia Reibe und Mark Benecke

Auftragserteilung

Im Jahr 2003 beauftragte uns die Schwester des zu lebenslang wegen Mordes verurteilten Klaus Streicher, die am Tatort gefundenen Blutspuren zu beurteilen.
Streicher wurde 1997 wegen Mordes an einem ehemaligen Türsteher seines Nachtclubs und wegen Totschlags einer weiteren Person zu einer lebenslangen Gesamtstrafe verurteilt, außerdem wurde die besondere Schwere der Schuld festgestellt. Es handelte sich um Erschießungen, nachdem zwei im illegalen Bereich erfahrene (Drogen, Hundekämpfe) und sehr gut trainierte (Kampfsport; eines der Opfer hatte sogar einen hohen europäischen Wettbewerbs-Sieg erzielt) Personen die Bar des nun Verurteilten trotz Hausverbot betreten hatten.
Ein wesentlicher Bestandteil der Verurteilung war die Schuss- bzw. Tatreihenfolge, in der ein Feld von Blut-Tropfen auf einer Anrichte im Innenbereich der Bar, unmittelbar am Erschießungs-Ort, wichtig wurde. Wir werteten die Urteilsbegründung, die rechtsmedizinischen Gutachten sowie die Farbfotos vom Tatort und der Sektionen aus. Es handelt sich hier um einen der aufwändigsten Fälle, die wir jemals experimentell und durch Beratungen begleiteten; wir stellen hier nur den Bezug zum "reversen C.S.I.-Effekt" und daher nur ein spurenkundliches Schlaglicht in seiner Essenz dar.

Geschehen gemäß Urteil

Am 14. Juni 1996 trafen kurz nach 23:00 Uhr die beiden späteren Opfer auf dem Parkplatz von Streichers Nachtclub ein. Da eines der Opfer in seiner früheren Eigenschaft als Türsteher des Clubs versucht hatte, den dort arbeitenden Frauen Drogen zu verkaufen und er aus diesem Grund Hausverbot hatte, klingelte sein Begleiter, so dass nur dieser auf dem Bildschirm der Videoüberwachungsanlage zu sehen war. Die Tür wurde daraufhin geöffnet.
Eines der späteren Opfer betrat dann den Innenraum des Theken-Bereiches (innerer Ausschankbereich), um eine ihm bekannte Bardame dort zu begrüßen. Gegenüber dem länglichen, gassenartigen Eingang zum Theken-Innenraum befand sich der Eingang zur angrenzenden Küche. Dort saß Klaus Streicher und telefonierte. Als ihm bewusst wurde, wer in den Innenraum seiner Bar vorgedrungen war, fühlte er sich durch den sehr kräftigen Mann, der zudem Hausverbot hatte, in seinem Territorium bedroht, griff er laut Urteil zu einem Revolver und näherte sich dem ihm in diesem Moment den Rücken zuweisenden Eindringling.
Nach Auffassung des Gerichtes setzte Streicher den Revolver auf dessen Rücken auf und schoss einmal (Abb. 1, links). Das Opfer drehte sich zum Schützen um und es kam zu einem Gerangel, während dessen sich ein zweiter Schuss löste. Dieser ging in den Deckenspiegel1 (Abb. 2), so dass Glassplitter auf die Anrichte fielen (Abb. 3). Das Opfer glitt laut Gericht am Angreifer hinab; dabei kam es zu einer Verletzung an der Augenbraue (Abb. 4) und das austretende Blut spritzte auf die hüfthohe Bar-Anrichte im Bereich unter dem Einschussloch in der Decke.
Es folgten zwei weitere Schüsse, einer in den Bauch und ein weiterer in den Oberarm des ersten Opfers. Anschließend richtete Streicher die Waffe auf eine weitere Person, die - immer noch nahe des Haupt-Einganges stehend - eine Bewegung in seine Richtung gemacht hatte. Er schoss auf dessen Oberkörper und traf trotz der erheblichen Entfernung direkt ins Herz. Beide Opfer verstarben am Tatort. Da der angeblich erste Schuss in den Rücken des ersten Opfers ging, kam das Mord-Merkmal der Heimtücke zum tragen.

Ergänzendes zur gerichtlichen Betrachtung

Die Ablauf-Rekonstruktion (Reihenfolge der Schüsse) ergab sich für das Gericht aus der Anordnung der Hülsen, die bei Revolvern in der Trommel verbleiben. Natürlich lässt sich aus der Anordnung in der Trommel naturgemäß nicht ermitteln, welche der erste Schuss war: Abhängig davon, welches Projektil als erstes abgefeuert wurde, ändert sich jeweils die Schuss-Abfolge, und zwar in sicher feststellbarer, objektiver Art.

In der Trommel befanden sich bei Sicherstellung der Waffe – ein Glücksfall für die Rekonstruktion –Geschosse verschiedener Hersteller: Eine Federal-, eineWinchester- und drei CCI-Hülsen. Das Federal-Geschoss wurde später im Holz oberhalb des Deckenspiegels gefunden (Abb. 2). Das Winchester-Projektil fand sich nahe der Wirbelsäule des ersten Opfers, die drei CCI-Geschosse wurden dem Bauch- und Arm-Schuss des ersten Opfers sowie dem Oberkörper des zweiten Opfers zugeordnet.

Laut Gericht war der Tatort teils verändert worden, bevor die Polizei eintraf. Dem ersten Opfer soll nachträglich eine kleine „Frauenpistole“ in die Hand gelegt worden sein, so dass er als bewaffneter Angreifer erscheinen konnte, obwohl er in Wahrheit angeblich unbewaffnet war. Zudem sollen Absprachen bezüglich der Aussagen gegenüber der Polizei getroffen worden sein.

Warum schloss das Gericht, dass der Rücken-Schuss der erste war?

Die Aussage des von Anfang an voll geständigen Täters bzw. Seines Anwaltes wurden bis heute niemals voll gewürdigt. Sie sagten – trotz sich stark ändernder Beweislage – niemals etwas anderes aus, als dass der Bauch-Schuss der erste Schuss gewesen sei. Damit hätten sich Opfer und Täter aber gegenüber gestanden; Heimtücke läge dann nicht vor.

Das Gericht glaubte dem damals Angeklagten aber nicht und stützte die Festlegung des ersten Schusses (und damit wegen der bekannten Hülsen-Reihenfolge in der Trommel des Revolvers aller folgenden Schüsse) auf einen Zeugen.

Er saß zum Zeitpunkt der Schüsse an der Theke. Allerdings befand sich erstens eine fest installierte Zapfsäule zwischen seinen Augen und dem Inneren der Bar, zweitens war das gesamte Etabliessement in rotbraunes Dämmerlicht getaucht, drittens hatte der Zeuge bereits Alkohol getrunken und viertens laut seiner eigenen Aussage keine Waffe in der Hand des Täters gesehen. Der Zeuge ist seit der Verhandlung nicht mehr auffindbar.

Dieser Zeuge war der einzige für das Gericht glaubhafte Beweis, dass der erste Schuss der Rückenschuss gewesen (und damit die Heimtücke gegeben) sein musste.

Weitere Untersuchungen

Zunächst beschränkte sich unsere Beauftragung auf das kleine Blutspuren-Feld auf der Anrichte der Bar. Nach Beschaffung brauchbaren Foto-Materials und Ausschnittsvergrößerung wurde aber deutlich, dass die Spiegelsplitter in das Blut hinein gefallen waren. Das Blut war also nicht auf bereits heruntergefallene Spiegelstücke gespritzt. Daraus folgte, dass schon vor dem Spiegelschuss Blut auf die Bar gelangt war. Da der Rückenschuss aber sehr tief – unterhalb der Auflagefläche der Bar – erfolgt war, konnte das Blut nicht aus dem Rückenschuss stammen. Woher sollte also das Blut stammen, in das die Spiegel-Splitter gefallen waren?

Es drängte sich nun die Vermutung auf, dass dem Urteil ein grundliegender Denkfehler zugrunde lagen und die Aussagen des Täters korrekt waren. Waren die objektiven Spuren (Blut, Glas, Geschoss-Hülsen) nicht genügend beachtet worden? War eine andere, objektivierbare Schuss-Reihenfolge eindeutig belegbar?

Versuche

Gemäß der Ausführungen des Gerichts war der Spiegelschuss früh erfolgt und dadurch Spiegelsplitter auf die Anrichte gefallen. Dann erst sei Blut aus der Augenbrauenverletzung auf die Anrichte gespritzt. Obwohl dies angesichts des Befundes, dass die Spiegelsplitter im Blut lagen, widersinnig war, wollten wir doch zunächst prüfen, aus welcher Höhe und in welcher Weise das Blut (bogenförmig?) seine Bahn genommen haben musste, um das Spuren-Feld – wie am Tatort fotografisch dokumentiert – zu erzeugen.

Der gesamte Innenraum der bar wurde daher von uns durchschritten, mit Metermaß und Laser vermessen und skizziert. Anschließend wurde eine 3-D-Rekonstruktion (inklusive animiertem Film) erstellt, aus der ersichtlich werden sollte, wie der Tathergang laut Urteil abgelaufen ist und ob sich alternative Schussreihenfolgen bestätigen lassen (Abb. 5A-c).

Es wurde zudem ein rechtsmedizinisches Gutachten eingeholt. Es behandelte die Frage, welche Bewegungsmöglichkeiten nach einem Rückenschuss in den unteren Teil der Wirbelsäule bestehen. Konnte sich der Getroffene nach solch einem Schuss noch umdrehen? Und vor allem: Konnte er, wie im Urteil und auch durch das Faserspurengutachten zwingend gefordert, noch mit dem Angreifer rangeln? Desweiteren sollte anhand von Fotos von der Obduktion geklärt werden, ob das Blut auf der Anrichte aus der Verletzung an der Augenbrauen-Verletzung stammen kann.

Dabei zeigte sich, dass die Rücken-Schussverletzung in Höhe des 2. Lendenwirbels (Abb. 6) etwa 2 cm rechts der Mittellinie des Rückens lag. Es handelte sich um einen Trümmerbruch des zweiten Lendenwirbelkörpers mit Eröffnung des Rückenmarkkanals. Diese Verletzungen führten zu einer sofortigen Lähmung der Beine. Das Opfer stürzt sofort zu Boden, weil es sich nicht mehr aufrecht halten kann. Die rechtsmedizinische Stellungnahme sagte weiter aus, dass das Projektil eine Bewegungsenergie (einen Impuls) auf den getroffenen Körper überträgt und vergleicht diesen Effekt – wörtlich – mit dem „Tritt eines Elefanten“.

Selbst unter der Annahme, dass nach dem Rückenschuss noch eine sehr kurze Bewegungsfähigkeit des ersten Opfers gegeben war (das feste Rangeln, das sowohl das Fasergutachten objektiv und die Urteilsbegründung nach richterlicher Einsicht zwingend fordern) war damit ausgeschlossen. Wo also sollte das Blut auf der Anrichte herkommen? Bereits hier zeigte sich, dass die Ablauf-Beschreibung aus dem Urteil grundsätzlich nicht möglich war.

Zu unserer Überraschung (wir sind keine Mediziner) fand sich in der rechtsmedizinischen Stellungnahme zudem der Hinweis, dass die Schussverletzung im Arm nur einen Durchschuss darstellte und das Projektil danach in den Brustkorb (Lunge) gedrungen war, wo es bei der Sektion auch gefunden wurde.

Durch diesen Schuss in die Lunge war Blut in die Luftwege eingedrungen; es erreichte über die Luftröhre den Kehlkopf und löste einen Hustenreflex aus. Dr. Schäfer folgert daraus, dass es sich bei den Blutspuren auf der Anrichte offensichtlich und derartig ausgehustetes Blut handelt. Dies steht auch in Einklang mit unserem Befund, dass das Blut – ableitbar aus seiner From – von oben (und nicht von unten) auf die Anrichte gelangt war. Vor Gericht oder bei den Ermittlungen war dies nie bekannt geeworden.

Damit war bewiesen, dass entweder der Bauch- oder der Lungen-Schuss der erste Schuss war. Anders konnte kein Blut von oben auf die Anrichte gelangt sein, denn spätestens beim Rücken-Schuss muss das erste Opfer zu Boden gegangen sein. So erklärte sich auch schlüssig und eindeutig, was in der Urteils-Begründung unverständlich blieb, nämlich, warum die Spiegel-Splitter im Blut lagen. Die Erklärung: Der Spiegel-Schuss war erst der vorletzte Schuss. Daher regneten die Splitter in das schon vorhandene Blut,so, wie es auch auf den Fotos vom Tatort festgehalten ist.

Schuss-Reihenfolge: ein reines Logik-Rätsel

Aus den Akten entnahmen wir, dass die Schusswaffensachverständigen sowie der Anwalt des Verurteilten schon bei der ersten Verhandlung eine Skizze angefertigt hatte (Abb. 7), in der er mehrere zum späteren Urteil alternative Schussreihenfolgen logisch aufzeigt. Diesen alternativen Ausführungen, obwohl absolut stimmig und mit den Spuren im Einklang stehend, wurde kein Gehör geschenkt.

In der zunächst nur von der Verteidigung vertretenen Alternativ-Version beginnt das geschehen damit, dass das Opfer den Angreifer im Theken-Innenraum anschaut. Es kommt zu einem Gerangel und dem ersten Schuss von vorne (Bauch-Schuss). Dies passt zur a der Leiche feststellbaren, einzig möglichen Schussrichtung des zweiten Schusses: von oben rechts nach unten links durch den Arm durchschlagend und dann in die Lunge. Das Opfer dreht sich, mit dem Kopf noch oberhalb der Ablage befindlich und hustet dabei Blut aus der Lunge auf die Anrichte. Auf dieser befinden sich zu diesem Zeitpunkt noch keine Spiegelsplitter.

Während der Körper-Drehung setzt Streicher den Revolver nahe an oder auf den Rücken des Opfers und drückt erneut ab. Das Opfer fällt nach vorne und bleibt liegen,. Der vierte Schuss geht, wie im Western, als Warnschuss in den Spiegel unter der Decke. Nun regnen Splitter auf die Anrichte und damit auch in die dort schon befindlichen Blutspuren aus der Lunge des Opfers.

Das zweite Opfer nähert sich Streicher trotz des Warnschusses, der schießt daraufhin zum fünften Mal – im Inneren des Theken-Bereiches stehend – und verletzt so auch das zweite Opfer tödlich.

Die Augenbrauenverletzung ist in diesem Szenario nicht mehr erforderlich. Sie kann nach rechtsmedizinischer Aussage ohne hin länger (etwa einen Tag) vor der Schießerei entstanden sein; im Institut für Rechtsmedizin war die Verletzung auch bereits krustig vertrocknet, wie beispielsweise bei einer beginnenden Heilung.

Die alternative Geschehens-Reihenfolge erklärt als einzige, wie die Splitter auf das Blut auf der Anrichte fallen konnten und zeigt anhand der bekannten Geschoss-Reihenfolge eindeutig, dass der Rückenschuss nicht der erste, sonder der letzte Schuss auf das Opfer war.

Der Ablauf, der im Urteil beschrieben ist, ist damit durch objektive Befunde – also nicht etwa durch abweichende Auslegung und Abwägung – widerlegt.

Ausgang des Verfahrens

Aufgrund der neuen Sachbeweise wurde eine Wiederaufnahme beantragt. Bei einer auf Geheiß des Bundesverfassungsgerichts (BVerG) und nur extrem zäh zustande gekommenen, formellen Vorbesprechung vor dem Kölner Landgericht im Jahr 2009 waren alle Sachverständigen aus der Hauptverhandlung sowie die neue hinzugezogenen Sachverständigen anwesend. Die neuen Sachbeweise wurden unter Einbeziehung aller Sachverständigen diskutiert. Soweit für die Autoren erkennbar, wurden die neuen Tatsachen ausführlich und sehr klar dargelegt, von allen Beteiligten offen und ausführlich diskutiert und einwandfrei verstanden.

Dennoch wurde die Wiederaufnahme abgelehnt. Dies wunderte uns als juristische Laien, weil nicht nur wir, sondern auch der BVerG Bedenken wegen „erheblicher Argumentationslücken“ in den Beurteilungen der bisherigen Gerichte bekundet hatte. Das BVerG riet angesichts der unter anderem von uns neu ermittelten Tatsachen wörtlich, dass „alle diese Gesichtspunkte bei der gebotenen Gesamtbetrachtung des Geschehensablaufes nicht unberücksichtigt bleiben dürfen“ und verwies das Verfahren wieder zurück ans LG Köln, das die weitere Bearbeitung bis dahin abgelehnt hatte.

Das LG Köln kam nun aber erneut zum Schluss, dass eine Wiederaufnahme abzulehnen sei. Allerdings fanden sich in der Ablehnung unrichtige Wiedergaben dessen, was sachverständigerseits persönlich, ausführlich und in einfachen, klaren Worten dargelegt worden war. Die falsche Wiedergabe dieser Feststallungen durch das Gericht musste von uns auf Eigen-Initiative hin schriftlich korrigiert werden – ein Vorgang, den wir noch nie im Zusammenhang mit gerichtlichen Sachverständigen-Aussagen erlebt hatten.

Obwohl das LG auf der sachlich und fachlich widerlegten – und sogar vom höchsten deutschen Gericht bemängelten – Geschehens-Abfolge in diesem Fall beharrte, wurde der Verurteilte nach über neun Jahren im Hochsicherheitsgewahrsam plötzlich und ohne für uns oder ihn erkennbare Gründe (seine Führung in der JVA war tadellos gewesen) in ein anderes Gefängnis mit deutlich gelockerten Vollzug überführt. Er bleibt aber bis auf Weiteres – obwohl durch die naturwissenschaftlich-medizinisch-forensische Spurenlage widerlegt – wegen Mordes inhaftiert.

Obwohl es sich um den Sonderfall handelt, dass der Täter aus dem Milieu kommt und die Schüsse zugibt, muss es doch eine ungünstige Wirkung auf die Öffentlichkeit haben, dass die klare Spurenlage (Blut-, Faser-, rechtsmedizinische, Geschoss- und weiteren Spuren), die in diesem Fall sogar vom BVerG als stärker zu berücksichtigen empfohlen wurde, hinter einer einzigen Zeugen-Aussage eines so genannten „Knallzeugen“ (auf Schuss bezogener Zeuge) mit den bekannten Fährnissen zurück steht.


Teil 3: Durchgebrannt? – Unfall? – Mord? Der Fall Raven Vollrath

Auftragserteilung

Im Januar 2008 beauftragte uns Familie Vollrath, die Akten im Fall ihres verstorbenen Sohns Raven zu sichten. Sie versprach sich Hinweise darauf, dass Raven nicht wie von der Polizei angenommen tödlich verunglückt, sondern Opfer einer Tötung war. Im Juni 2006 war die Leiche des Jungen nach sechsmonatiger Vermisstenzeit in Österreich in einem Bachbett gefunden worden.

Anfängliche Einschätzung nach Aktenlage

Familie Vollrath hatte ihren Sohn Raven Ende Dezember 2005 als vermisst gemeldet, da er sich nicht wie sonst üblich von seinem Saisonjob in Österreich täglich bei den in Deutschland lebenden Eltern telefonisch gemeldet hatte.

Sie kontaktierten den Arbeits-Kollegen und Mitbewohner von Raven in Österreich und erhielten die Information, ihr Sohn sei mit einem Mädchen durchgebrannt. Das hielten die Eltern für extrem unwahrscheinlich. Sie fuhren nach Österreich, um sich persönlich ein Bild zu machen.

Raven hatte während der Wintersaison an einem Skilift gearbeitet und mit seinem Kollegen und dessen Mutter eine kleine Abstellkammer direkt an der Liftanlage bewohnt. Die Eltern Vollrath befragten die beiden Mitbewohner erneut zum Verschwinden von Raven. Beide beharrten darauf, dass Raven eines Nachts mit einem ihnen unbekannten Mädchen verabredet gewesen war und mit diesem durchgebrannt sei.

Diese Version zum Verschwinden des Jungen erschien auch der Polizei plausibel. Auf dem Parkplatz der Liftanlage entdeckten die Eltern Vollrath jedoch das unverschlossene Auto ihres Sohnes, in dem sich seine gesamten privaten Dokumente wie Führerschein und Pass sowie ein einzelner Socken von Raven befanden. Die Polizei stellt das Auto daraufhin sicher und beließ es bis April 2006 auf dem Parkplatz vor der Wache. Eine spurenkundliche Untersuchung des Autos blieb aus. Die Dokumente und den schon erwähnten einzelnen Socken asservierten schließlich die Eltern, nicht die Polizei. Weiterhin galt als offizielle Version: Raven war durchgebrannt.

Am 12. Mai 2006 war der Schnee im Skigebiet weggeschmolzen. Als in einem dem Skilift Nahe gelegenen Bachlauf Müll aufgesammelt wurde, fand man Ravens Parka sowie eine Matratze, die aus der Unterkunft des Kollegen stammte. Am 10. Juni 2006 fanden Passanten die teilskelettierte Leiche des Jungen.

Die Bekleidung bestand aus einem bereits stark zersetzten T-Shirt, einer langen Unterhose sowie – am Fuß der Leiche – dem zweiten Socken, passend zu dem aus seinem Auto sichergestellten. Der Leichenfundort lag 2,5 km von der Lift-Anlage entfernt.

Identifiziert wurde Raven über Zahnstatus und DNA-Profil. Die toxikologische Analyse ergab eine – natürlich mit allergrößter Vorsicht zu bewertende – BAK von 0,8 Promille. Die Polizei schloss daraus, Raven habe nachts mit seiner Matratze alkoholisiert die Unterkunft verlassen, sei im Schnee 2,5 km ohne Schuhe umhergewandert, sich mit seiner Matratze im Bachbett zum Schlafen hingelegt und sei schließlich dort erfroren.

Die Sektion ergab aufgrund der fehlenden Weichteile keine Auskunft darüber, ob Fremdeinwirkung (hier: Verletzungen an den Weichteilen) vorgelegen hatte.

Bis zu diesem Zeitpunkt war nur der Kollege und Mitbewohner zu dem Vorfall polizeilich befragt worden, nicht jedoch dessen Mutter, die zum Zeitpunkt des Verschwindens bei den beiden gewohnt hatte und als alkoholabhängig galt.

Die Eltern von Raven gaben sich damit jedoch nicht zufrieden; sie glaubten weniger denn je an einen Unfall. Nach vielen Beiträgen in TV- und Printmedien, in denen Familie Vollrath die Vorgehensweise der Polizei anprangerte, wurden im Januar 2008 die Ermittlungen weider aufgenommen. Unter anderem hatten die Eltern Vollrath im Jahr 2007 bei einer selbst durchgeführten Suche in der Umgebung des Leichenfundortes einen blutdurchtränkten Badvorleger gefunden, der ebenfalls der Unterkunft von Raven und dessen Kollegen zugeordnet werden konnte.

Im Laufe der erneuten Ermittlungen wurde schließlich die Mutter des Kollegen/Mitbewohners befragt. Sie belastete ihren Sohn und sagte aus, er habe Raven erstochen.

Bei der Tat sei sie nicht anwesend gewesen, jedoch habe sie bei der Beseitigung der Leiche geholfen. Sie hätten Raven mit seinem eigenen Auto an die spätere Fundstelle gefahren und ihn dort mitsamt seiner Matratze über das Brückengeländer geworfen. Diese Aussage wiederholte sie vor einem Richter, machte in der Hauptverhandlung dann aber on ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch. Dies und die Tatsache, dass sie alkoholkrank war, erschwerte die Verwertbarkeit der ersten Aussage.

Die österreichischen Behörden begingen daraufhin den Tatort mit einem Blutspürhund. An Stellen, an denen der Hund anschlug, wurde eine Luminoluntersuchung durchgeführt und an Bereichen mit positiver Reaktion Abstriche genommen. Im Institut für Gerichtliche Medizin der Medizinischen Universität Innsbruck wurden die Abriebe analysiert. An drei dieser Abriebe konnte zweifelsfrei Blut nachgewiesen werden. Die molekularbiologischen Untersuchungen sämtlicher Abriebe führten jedoch zu keinen verwertbaren Resultaten. Das Gutachten vermerkt, dass entweder zu wenig intakte DNA vorhandne war oder es sich um Tierblut gehandelt hatte. Weitere Spuren-Untersuchungen wurden trotz dieses Ergebnisses nicht vorgenommen.

Weitere Untersuchungen

Die Eltern Vollrath hatten bei einem ihrer Besuche in der Unterkunft von Raven und dessen Kollegen einige Holzdielen aus dem Boden gebrochen. Auf diesen hatten sie nicht untersuchte, an Blut erinnernde Flecken gesichtet. Einige dieser Stücke brachten sie zu einer Besprechung in unser Labor. Der Blutschnelltest (Hemastix, Bayer) zeigte an mehreren Stellen auf den Holzstücken eine positive Reaktion. Wir rieten der Familie, die Holzstücke dem LKA mit der Bitte um Untersuchung zu übergeben, damit alles erstens behördlich, zweitens kostenneutral und drittens aus einer Hand bearbeitet würde. Die Frage war: Handelt es sich um menschliches Blut und wenn ja, kann ein DNA-Profil daraus erstellt werden?

Des weiteren rieten wir dringendst zu einer Exhumierung der Leiche und einer erneuten Sektion, möglichst mit Virtopsie, um eventuelle Stichverletzungen an den Knochen begutachten zu können.

Ausgang

Aus dem Gutachten des LKA Thüringen ging hervor, dass an den blutverdächtigen Anhaftungen der eingesandten Holzstücke kein Blut nachweisbar war. Aus der molekulargenetischen Untersuchung der Materialproben war die Bestimmung eines DNA-Identifizierungsmusters nicht möglich. Die Schlussfolgerung: Es konnten keine weiteren Hinweise zum Verletzungs-Ort des Geschädigten gegeben werden.

Die Exhumierung und anschließende Sektion im Institut für Rechtsmedizin der Universitätsklinik Jena im November 2008 ergaben an Brustbein sowie der 6. und 7. Rippe des Leichnams gradlinige, glattrandige Knochenverletzungen (Stich-Schnitt-Verletzungen).

Das Gutachten bestätigt, dass für die Beibringung der Rippenverletzung ein spitz zulaufendes scharfes Messer in Betracht komme. Diese drei – wegen der Knochendefekte einzigen noch sichtbaren – Stichverletzungen waren nicht todesursächlich: Es konnten weder stark blutende Gefäße noch Brustorgane verletzt werden, da die Knochen jeweils nicht durchstochen wurden. Nach Einschätzung der Rechtsmediziner erfolgte die Verletzungsbeibringung am liegenden Opfer.

Im Dezember 2008 wurde der Kollege/Mitbewohner von der Skiliftstation wegen Totschlags angeklagt. Die Verhandlung fand in Deutschland statt. Die befragte Rechtsmedizinerin erklärte, es sei aufgrund des Stichmusters nicht auszuschließen, dass weitere Stiche ausgeführt wurden, die nicht auf Knochen trafen, sondern Lunge oder Herz tödlich verletzten. Aufgrund des Zersetzungszustandes der Leiche konnte das aber naturgemäß nicht belegt werden.

Ende Dezember 2008 wurde der Angeklagte nach einem Indizien-Prozess wegen Totschlags verurteilt. Er ging in Revision, die bis heute läuft.

Unsere Sicht auf den Fall

Nur das erbitterte Kämpfen der rechtlich und verfahrenstechnisch vollkommen ungeübten Eltern hat dazu geführt, dass die Ermittler die anfänglichen Feststellungen Jahre später zurück nahmen und neue Befunde schließlich die Wahrheit deutlicher darstellen konnten.

Der Zorn der Eltern auf die verpassten Ermittlungsschritte direkt im Anschluss an die Tat ist auch aus unserer rein spurenkundlichen Sicht nachvollziehbar. Eine Untersuchung des Autos des Vermissten unmittelbar nach dessen Verschwinden und auch die Untersuchung der blutähnlichen Anhaftungen – die unserer Meinung nach damals noch gut typisierbar gewesen wären – hätten sehr viel früher Hinweise auf ein Fremdverschulden bzw. Ein Gewaltdelikt liefern können. Den Angehörigen bleibt der bittere Beigeschmack, dass sie ohne jeden Grund mit unbewiesenen, nicht belegbaren Erklärungen abgespeist wurden, obwohl umfangreiche Spurenfelder sehr leicht verfügbar waren. Die Eltern mussten mehrere Jahre Zeit und Energie aufbringen, um die Ermittlungen zum Tod ihres Sohnes überhaupt ans Laufen zu bringen.

Schluss

Damit endet unsere Serie zu Tötungsdelikten, in denen die Spuren trotz deutlicher Hinweise nicht sinnvoll gewürdigt wurden. 

Es handelt sich, wie wir sowohl aus unserer Praxis als auch Hunderten von Gesprächen mit über diese Situation ebenfalls unglücklichen PolizistInnen wissen, nicht um Einzelfälle.

Wodurch die aktive Spurenblindheit und -missachtung in Fällen wie den hier geschilderten entstehen kann, ist nicht Gegenstand unserer Fall-Serie.

Wir möchten aber darauf hinweisen, dass objektive Spuren unbedingt beachtet werden sollten, um nicht zu bewirken, dass die übertriebene Zuversicht der Bevölkerung in die Tatort-Arbeit – der so genannte „C.S.I-Effekt“ – in das Gegenteil umschlägt.


Der reverse C.S.I.-Effekt

Teil 1


DNA-Beweise

im Fall O. J. Simpson


Einsatz eines “Mediums”

bei Tötungsdelikten


Kunstfälschungsaffäre

von unvorstellbarem Ausmaß


When DNA does not help

Handbook of DNA profiling


Der Schatz der Wahrheit

Bauwerk, 2022