Schussverletzungen oder Käferfraß

Quelle: Rechtsmedizin 24: 114–117 (2014), DOI: 10.1007/s00194-013-0934-1

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Von K. Baumjohann, M. Benecke, M.A. Rothschild

Zusammenfassung Die in einem Waldstück aufgefundene Leiche eines 47-jährigen Mannes zeigte an Einschussverletzungen erinnernde Hautdefekte; deshalb wurde zunächst an ein Tötungsdelikt gedacht. Die Aaskäfer Nicrophorus humator und N. vespilloides wurden am Körper des Toten gefunden und nach Auskunft des Entomologen als wahrscheinliche Spurenverursacher festgestellt. Käferfraß weist einzigartige Charakteristika auf, die eindeutig von Schuss-oder Stichverletzungen differenziert werden können. Die Kenntnis der morphologischen Merkmale der von Tieren verursachten Wundartefakte ist bedeutsam, da sie Fehldeutungen bei Todesermittlungen vorbeugen kann. Im Ergebnis der Obduktion war der Mann an einer erhängungsbedingten Strangulation verstorben, anscheinend im Zusammenhang mit einer autoerotischen Betätigung.

Schlüsselwörter Forensische Wissenschaften · Entomologie · Artefakte · Wunden und Verletzungen · Nicrophorus

Gunshot wounds or beetle interference

Abstract The body of a 47-year-old man found in a wooded area showed skin defects that appeared to be gunshot wounds and initially raised the suspicion of homicide. The carrion beetles Nicrophorus humator and N. vespilloides were found directly on the body and according to the entomologist these silphid beetles could have caused the wounds. Tissue damage caused by beetles shows unique characteristics and can be clearly distinguished from those wounds (e.g. shot and stab wounds) commonly observed in forensic contexts. Knowledge of the morphology of wound artefacts produced by animals is important as it may avoid misinterpretation of the cause of death. The results of the autopsy showed that the man had died from strangulation by hanging, apparently in connection with an autoerotic activity. Keywords Forensic sciences · Entomology · Artefacts · Wounds and injuries · Nicrophorus

Abb. 1 Fraßdefekt im Mundboden des Verstorbenen, der an einen Einschuss erinnert

Durch Insektenbefall an einem Verstorbenen können einerseits Wundartefakte, die auf den ersten Blick für eine Verletzung gehalten werden können, verursacht werden. Andererseits können Insektenfraßlöcher auf ursprüngliche Verletzungen hindeuten, die beispielsweise von einem Stich, Schnitt oder Schuss herrühren. Dies verdeutlicht die Notwendigkeit der genauen Untersuchung vorhandener Wunden und deren Ursache in der forensischen Fallarbeit.

Wundartefakte

Wundartefakte, die durch freilebende oder domestizierte Tiere verursacht werden, können zu fatalen Missinterpretationen im forensischen Kontext führen (z. B. [9, 13, 18, 23, 24, 26]). In Innenräumen verursachen Haustiere postmortal Gewebsdefekte an unbemerkt Verstorbenen [18, 19, 20, 23, 24]. Publikationen über durch Tierfraß verursachte „Wunden“ an Toten im Freien sind hingegen nur selten zu finden [2, 7]; ebenso wie Berichte über durch Insekten bedingte Läsionen [10, 14].

Die forensische Entomologie wird überwiegend zur Bestimmung der postmortalen Besiedlungszeit eines toten Körpers durch Insekten herangezogen [1, 8, 21]. Dabei kann die Untersuchung der Sechsbeiner in der Praxisarbeit für die Klärung einer Vielzahl weiterer relevanter Fragen herangezogen werden [3, 12, 17]. So sind Insekten sehr häufig Verursacher sog. Wundartefakte, die auf den ersten Blick ebenso gut für eine Verletzung gehalten werden können [5, 6, 7]. Fraßspuren von Fliegenlarven oder Käfern können Einschusswunden imitieren, die durch diverse Waffen und Kaliber verursacht wurden [5, 14].

Offensichtliche Insektenfraßlöcher an hierfür initial ungewöhnlichen Körperstellen wie z. B. an Handgelenk, Hals oder Oberkörper können bei durch Fäulniserscheinungen veränderten Leichen auf ursprüngliche Verletzungen hindeuten. Diese können beispielsweise durch eine Stich-, Schnitt- oder Schusseinwirkung verursacht und im Nachhinein durch Insektenfraß erweitert worden sein.

Falldarstellung

Auffindesituation

Abb. 2 Frontalansicht der rechten Schulter. Die Ränder des runden Hautdefekts weisen eine dunkle Verfärbung auf, die einem Schmauchsaum ähnelt

In einem Waldgebiet in Nordrhein-Westfalen wurde der Leichnam eines 47-jährigen Mannes in annähernd kniender Position an der Astgabel eines Baums gefunden. An dem etwa 50 m entfernten Waldweg waren regelmäßig Prostituierte anzutreffen. Um den Hals der Leiche fand sich ein von hinten nach vorn geführter brauner Ledergürtel. Über dem Hals waren die freien Enden des Gürtels überkreuzt geführt und zogen hinter den Ohren des Mannes senkrecht nach oben zum darüber hängenden Ast.

Der Mann war mit einem schwarzen T-Shirt, einer grauen Unterhose und einer Jeans bekleidet. Hosenknopf und Reißverschluss der Jeans waren geöffnet; die Jeans war bis zur Mitte der Oberschenkel heruntergezogen. Ein aus dem rechten Schuh entfernter Schnürsenkel war um das Skrotum und die Penisbasis herumgebunden. Es gab keine weiteren Fesselungen; die Hände lagen frei. Nach Entfernung des T-Shirts wurden runde, scharf umrissene Gewebedefekte am Hals, an der rechten Schulter und an beiden Oberschenkeln offenkundig, die auf den ersten Blick Schussverletzungen ähnelten. Aus diesem Grund wurden von der Polizei ein Rechtsmediziner und ein forensischer Entomologe an den Fundort gerufen.

Aufgrund der einsetzenden Fäulnis, der nachlassenden Totenstarre und unter Berücksichtigung der Umgebungsbedingungen am Fundort wurde der Zeitpunkt des Todes auf 2 Tage vor dem Leichenfund datiert.

Rechtsmedizinische Untersuchungsbefunde

Die Sektion wurde 3 Tage nach dem Leichenfund durch den zuständigen Staatsanwalt angeordnet. Wegen beginnender Fäulnisvorgänge wies die Haut des Toten stellenweise eine braun-grünliche Verfärbung auf. In den Augenhöhlen, den Ohren, den Nasenlöchern, der Mundhöhle sowie unter der Penisvorhaut und in der Unterhose fanden sich zahlreiche Fliegenmaden. In den Hosenbeinen wurden neben wenigen Fliegenlarven auch lebendige Käfer gefunden. Die Haut des Penisschafts ließ über der Unterseite zahlreiche kleinfleckige Hautläsionen erkennen.

Die Strangmarke am Hals stimmte mit der Körperposition am Fundort und auch mit der Breite des Ledergürtels überein. Blutungen an den Ursprüngen der Mm. sternocleidomastoidei an den Schlüsselbeinen ließen sich mit einer vitalen Suspensionssituation in Einklang bringen. In den Disci intervertebrales der Lendenwirbelsäule zeigten sich Einblutungen.

Am Mundboden, am rechten Schulterbereich und an beiden Oberschenkelinnenseiten fanden sich multiple, nahezu kreisförmig ausgebildete Hautdefekte mit einem Durchmesser von 5–13 mm (. Abb. 1, 2, 3). Ihre morphologische Erscheinung ließ zunächst an Schussfolgen denken, zumal die Lochdefekte an den Rändern dunkelbraune Verfärbgen aufwiesen, die einem Schmauchsaum ähnlich sahen (. Abb. 2).

Vor Beginn der Obduktion wurden daher Thorax, Abdomen und beide Oberschenkel des Leichnams geröntgt. Fremdkörper ließen sich hierbei nicht aufzeigen. Die Präparation der Weichteildefekte ließ erkennen, dass diese lediglich in das subkutane Fettgewebe bzw. das darunterliegende Muskelgewebe reichten. Im Ergebnis konnten Schusseinwirkungen als Ursache für die runden Weichteildefekte ausgeschlossen werden. Die Außenflächen der Ober- und Unterarme wurden präparatorisch dargestellt. Weder im Unterhautfettgewebe noch in der Muskulatur zeigten sich Einblutungen. Auch bestanden am Körper keine frischen Frakturen. Die histologischen Untersuchungen ergaben lediglich etwa in der Zungenmitte des Toten eine kleinfleckige, frische Einblutung der Zungenmuskulatur.

Toxikologische Untersuchungen verliefen negativ. Die Blutalkoholkonzentration betrug 0,22 g/kgKG.

Todesursache

Abb. 3 Mehrere Gewebedefekte in der linken Oberschenkelinnenseite des Toten

Als Todesursache wurde eine akzidentelle zentrale Hypoxie bei „überdosierter“ Strangulation im Rahmen einer autoerotischen Betätigung angenommen.

Entomologische Untersuchungen

Am Fundort konnte der forensische Entomologe einen Aaskäfer (Silphidae) einsammeln. Alle anderen Käfer derselben Familie wurden direkt vor Sektionsbeginn vom Leichnam abgesammelt. Sämtliche Tiere wurden in 94%igem Äthanol (methylierter Spiritus, [5]) asserviert.

Insgesamt wurden 69 hochauflösende Nahaufnahmen (4 MPixel) getätigt, überwiegend ohne Blitzlicht, um das Ausblitzen wichtiger Bereiche zu vermeiden. Zudem hätte die Verwendung von Blitzlicht dazu führen können, dass Fliegenlarven unverzüglich abwandern und im Anschluss an die fotografische Dokumentation nicht mehr am ursprünglichen Ort asserviert werden können [4]. Dies ist beispielsweise in Vernachlässigungsfällen kritisch zu betrachten, wenn Maden unterschiedlicher Körperbereiche (z. B. zu Lebzeiten vernachlässigter Anogenitalbereich und nach Todeseintritt besiedelter Gesichtsbereich) unbedingt getrennt voneinander dokumentiert und asserviert werden müssen.

Die Artbestimmung der Insekten wurde unter Zuhilfenahme eines Leica-Mz- 12.5-Stereomikroskops (bis zu 100-fache Vergrößerung), einer Leica-KL-1500- LCD-Halogen-Kaltlichtquelle (beide Geräte: Fa. Leica Microsystems, Wetzlar) und entsprechender Bestimmungsliteratur [11, 27] durchgeführt.

Am Fundort konnten die folgenden wesentlichen forensisch-biologischen Anhaltspunkte ausgemacht werden:

  • Die Augen des Toten waren intakt, mit relativ wenigen Fliegenlarven.

  • Die Beine des Toten zeigten Anhaftungen einer blutähnlichen Substanz.

  • Der Körper wies an verschiedenen Stellen mehrere Löcher mit einem Durchmesser von etwa 5–13 mm auf (. Abb. 2, 3).

Am Leichenfundort im Wald wurden mehrere grün schimmernde Fliegen auf dem Leichnam beobachtet, aber nicht eingesammelt. Experimente an einer mit dem Fundort vergleichbaren Stelle zeigten, dass es sich hierbei mit hoher Wahrscheinlichkeit um Exemplare der Gattung Lucilia aus der Familie der Schmeißfliegen handelte. Am Fundort konnte beobachtet werden, wie ein einzelnes Nicrophorus-Exemplar (aus der Familie der Aaskäfer) die Leiche anflog; dieser Käfer konnte allerdings nicht gefangen werden. Zahlreiche Wespen der Gattung Vespula waren außerdem am Fundort zugegen.

Im Wald konnten bereits auffällige Löcher im Mundboden und auf den Oberschenkelinnenseiten des Toten festgestellt werden (. Abb. 1, 3). Blutverdächtige Anhaftungen wurden sowohl auf den Beininnenseiten als auch an der Hose gefunden.

Bei der Entkleidung des Leichnams vor Sektionsbeginn versuchten zahlreiche Käfer der Art Nicrophorus humator (Gleditsch, 1767) und wenige Exemplare von N. vespilloides (Herbst, 1784) aus der Bekleidung des Toten zu flüchten; diese Tiere wurden asserviert.

Diskussion

Abb. 4 Neben Aaskäfern (Silphidae) können auch Stutzkäfer (Histeridae) kreisförmige Hautdefekte verursachen; in diesem Fall auf dem Unterarm einer Toten in Höhe des Ärmelbündchens

Durch Tiere verursachte Hautdefekte an Leichen können als eine zu Lebzeiten beigebrachte und möglicherweise todesursächliche Verletzung fehlgedeutet werden [2, 7, 12, 26]. Insbesondere Fraßartefakte durch Insekten [14] führen mitunter zu fehlerbehafteten Grundannahmen. Angesichts des Erscheinungsbilds solcher Gewebeläsionen können diese leicht als bereits vor dem Todeseintritt zugefügte Wunden missverstanden werden. Derartige Fraßdefekte werden in Innenräumen häufig durch Haustiere verursacht [19, 24]. Futter, Fäzes oder Haare der Tiere weisen in der Wohnung auf die Anwesenheit von Haustieren hin.

Anders liegt der Fall bei im Freiland aufgefundenen Leichen. Diese sind einer großen Vielzahl verschiedenster Tiere ausgesetzt, die andersartige und vielgestaltige Verletzungsmuster am Weichgewebe und an den Knochen des Toten verursachen können [2, 15, 26]. Die Auswertung von Freilandfällen wird häufig dadurch erschwert, dass im Nachhinein nicht feststellbar ist, welches Säugetier (oder welcher Gliederfüßer) Zugang zum Leichnam hatte und an diesem seine (Fraß-)Spuren hinterließ. Trifft die Kriminalpolizei oder der Rechtsmediziner am Leichenfundort ein, sind die „Wundverursacher“ u. U. schon lange verschwunden, mitunter ohne einen Hinweis auf ihre Identität zu hinterlassen.

Da sich die Fragestellung der Polizei im vorgestellten Fall nicht auf die Leichenliegezeitbestimmung bezog, sondern die Gewebedefekte im Fokus der Untersuchungen standen, wurden keine Fliegenlarven asserviert. Aus demselben Grund wurde auch auf eine in der forensischen Entomologie üblicherweise durchgeführte Rekonstruktion des Temperaturverlaufs am Fundort verzichtet.

Aaskäfer werden durch den Geruch toter Wirbeltierkörper angezogen. Die Kadavergröße spielt dabei kaum eine Rolle. Vertreter dieser Käferfamilie nutzen große Kadaver zur Nahrungsversorgung und kleinere Körper als Brutstätten [16, 22, 25]. Nicrophorus vespilloides kommt typischerweise häufig in Wäldern und nur selten außerhalb dieser Gebiete vor [22].

Die Löcher im Körper des Toten, die nicht bis zu den tiefer liegenden Gewebeschichten reichten, konnten sicher auf die Fraßaktivität der am Leichnam eingesammelten Aaskäfer – insbesondere des großen Aaskäfers N. humator, aber auch des kleineren N. vespilloides – zurückgeführt werden. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass weitere Käferarten den Körper des Toten bis zum Zeitpunkt des Auffindens aufgesucht haben. Käfer sind sehr schwer zu fangen. Bei der ersten näheren Untersuchung eines Leichnams an einem Fundort im Freien muss daher besonders gut auf Käfer geachtet werden, die im späteren Verlauf der Untersuchungen als insektenkundliches Beweismaterial wichtig sein könnten.

Im vorliegenden Fall versteckten sich einige Aaskäfer in der Kleidung des Toten und blieben dort bis zum Zeitpunkt der Autopsie. Da diese Tiere überwiegend nachtaktiv sind, wird die intensive Suche nach Aaskäfern wie Nicrophorus nachdrücklich in allen Fällen empfohlen, in denen ein oder mehrere runde Lochdefekte an Leichen gefunden werden und deren Entstehung zunächst ungewiss ist. Insbesondere tagsüber halten sich die wundverursachenden Käfer nicht direkt an den Leichen auf. Außerdem darf nicht vergessen werden, dass Aaskäfer gut fliegen und sich damit leicht einer Untersuchung und Identifizierung entziehen können.

Die Gewebedefekte am Leichnam wurden demnach sehr wahrscheinlich durch die beiden genannten Aaskäferarten herbeigeführt. Hautlöcher, die durch die Aaskäfer Nicrophorus oder Necrodes (Uferaaskäfer) verursacht wurden, können in Abhängigkeit von der Aufbewahrungssituation des Leichnams auf einen Körperbereich beschränkt sein oder über den ganzen Körper verteilt vorkommen. Beachtung finden sollte zudem die Familie der Stutzkäfer (Histeridae). Zu ihr gehört u. a. die Art Margarinotus brunneus (Fabricius 1775; [5, 27]; . Abb. 4), deren Vertreter ebenfalls kreisförmige Läsionen herbeiführen können.

Fazit für die Praxis

Insektenspuren müssen in der Praxisarbeit von Polizei und Rechtsmedizin berücksichtigt und regelrecht asserviert werden. Sie können in Kriminalfällen essenzielle Hinweise geben, die weit über die Leichenliegezeitbestimmung hinausgehen. So ist die Dokumentation und Asservierung insektenkundlichen Beweismaterials von unschätzbarem Wert, wenn erste Grundannahmen verworfen werden müssen und zuvor unberücksichtigte Spuren in den Fokus der Ermittlungen rücken. Durch das Hinzuziehen eines forensischen Entomologen können Fehldeutungen tierischer, insbesondere durch Insekten verursachter (Fraß-)Spuren vermieden werden. Forensische Entomologen sollten durch eigene Beobachtungen und Experimente eine Vielzahl diverser Spuren(-Leger) erkennen und deuten können. Dazu gehört das Wissen über die Ökologie und das Verhalten verschiedenster Insekten. Nur so kann das Auftreten unterschiedlicher Arten an Leichen und Fundorten korrekt und individuell interpretiert werden.

Einhaltung ethischer Richtlinien Interessenkonflikt. K. Baumjohann, M. Benecke und M.A. Rothschild geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Der Beitrag enthält keine Studien an Menschen oder Tieren.

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