Quelle: Rechtsmedizin, Heft 22 (2012), Seiten 79 bis 80
Bremen, 22.-23.09.2011
Zum Fachkongress Todesermittlungen, ausgerichtet vom Interdisziplinären Fachforum Rechtsmedizin, fanden sich erneut PolizeibeamtInnen, JuristInnen, MedizinerInnen, PsychologInnen und SpurenkundlerInnen ein. Diesmal ging es um die Ermittlungen zum Siebenfachmord in Sittensen (Soko Lin-Yue). Wie schon beim im letzten Jahr vorgestellten Fall Michelle (Leipzig) zeigte sich, wie entscheidend, aber auch wie machbar die Zusammenarbeit der beteiligten Disziplinen sein kann. Das wurde schon beim Begrüßungsvortrag von Prof. Dr. Birkholz, Direktor des IRVM Bremen und der Rektorin der HfÖV Bremen, zurecht betont.
Die umfangreiche, außerordentlich zeit- und personenaufwändige Arbeit der Soko Lin-Yue wurde sodann vorgestellt. Der Leiter der FK1 der Polizeiinspektion Rotenburg, stellte als erster leitender Beamte vor Ort seine Eindrücke vom Tatort vor. Der Siebenfachmord sei einzigartig in der deutschen Kriminalgeschichte, da das Motiv zunächst vollkommen rätselhaft, einige Opfer aufgrund ihrer unterschiedlichen Herkünfte und Nationalitäten nicht eindeutig identifizierbar und Teile des Tatortes mit Gegenständen überfüllt waren. Der einzig erwachsene Überlebende im Haus, der eine Einpersonenwohnung über dem Chinarestaurant bewohnte, sorgte anfangs für zusätzliche Verwirrung, da er die Massentötung nicht mitbekommen hatte: Er hatte mit Kopfhörern ein sogenanntes „Killerspiel“ auf dem Computer gespielt. Dies rettete ihm allerdings das Leben, denn er machte am Rechner keine Geräusche, so dass die Täter, obwohl sie die Wohnung daneben durchsuchten, hier weder Beute noch Zeugen vermuteten.
Dass mehrere Opfer mit Kabelbindern an Daumen und Zehen gefesselt worden waren, bevor sie erschossen wurden, half bei der Zuordnung der Täter zum asiatischen Kulturraum, da diese Fesselungsmethode dort – übrigens auch von der Polizei – verwendet wird.
In Abstimmung mit der Polizeidirektion Lüneburg wurde das LKA Niedersachsen von Beginn an in die Tatortarbeit eingebunden. Rechtlich war dies nur möglich, weil eine bis dahin noch nie angewendete Regelung zur „Übernahme von herausragenden Kriminalfällen“ zur Anwendung kam.
Die Leiterin der Tatortgruppe des BKA stellte zunächst allgemein die Arbeit ihrer Gruppe vor, bevor sie ihre Zuziehung schilderte. Durch die Arbeitsteilung zwischen dem BKA und der Polizei Niedersachsen bei der Tatortsicherung hätten sich durchaus Reibungspunkte ergeben; so sei vermutlich dadurch der Ehering der getöteten Inhaberehefrau (in einer Serviette versteckt) erst einige Tage nach der Tat aufgefunden worden. Es wurde auch deutlich, wie gut es ist, dass der örtliche Polizeiführer mit Verve an der Kommunikation zwischen allen Ebenen beteiligt bleibt. Es entstand der Eindruck, dass örtliche Polizei, BKA und LKA sehr gewinnbringend zusammengearbeitet hatten.
Ein Kollege vom LKA Niedersachsen stellte Details zur Einrichtung und Arbeit der über hundert Mann starken Soko vor, deren Unterbringung im Nahbereich von Sittensen allein schon ein logistisches Problem war - zahlreiche Hotels der Umgebung wurden vollgebucht, was sich unter anderem in der bis heute in einem Hotelrestaurant bestellbaren „Soko-Platte“ niederschlug.
Der Leiter der Operativen Fallanalyse des LKA Niedersachsen, schilderte, wie man dort zügig und nachvollziehbar zum Ergebnis kam, dass es sich um ein aus dem Ruder gelaufenes Raubdelikt handelte und nicht um einen OK-Racheakt. Der zunächst Widerstand leistende Restaurantinhaber sei wegen seiner körperlichen Überlegenheit und mangelnder Kooperation erschossen worden, worauf die weiteren sechs Erwachsenen zur Verdeckung ermordet wurden. Das zweijährige Kind stellte keine Gefahr für die Täter dar und wurde daher verschont. Diese Tathergangsanalyse erwies sich nach abgeschlossenen Ermittlungsarbeiten als zutreffend.
Die zur Tatortarbeit parallel verlaufende rechtsmedizinischen Begutachtung stellte ein Kollege vom Institut für Rechtsmedizin Hamburg vor, und ein Kollege vom Kriminaltechnischen Institut des LKA Niedersachsen berichtete von der Spurenauswertung. Bei dieser erwies sich besonders die Faserspurenaswertung als außerordentlich aufwändig, aber auch entscheidend bei der späteren Zuordnung der Täter zum Tatort, da (wenige!) ihrer Kleiderfasern am Tatort gesichert wurden.
Die juristische Sichtweise auf den Fall stellte abschließend ein Oberstaatsanwalt vor, der besonders auf Fallstricke bei der Polizeiprotokollierung hinwies. So böten beispielsweise widersprüchliche Zeit- und Personenangaben in Befragungsprotokollen einen Angriffspunkt für die Verteidiger der Beschuldigten. Zudem gab er einige Tips, wie Polizeibeamte sich auf eine Vernehmung vor Gericht vorbereiten könnten.
Der Abschlussvortrag schilderte, wie radiologische Verfahren bei forensischen Fragestellungen, etwa dem Verdacht der Kindesmisshandlung oder Kindstötung, hilfreich sein können, aber auch zur Lokalisierung von Projektilen gute Dienste leisten. Insgesamt konnte man den Vorträgen trotz der geballten Informationsmenge einwandfrei folgen, und es gab genügend Gelegenheiten, die den Austausch zwischen den stark multidisziplinären Teilnehmern ermöglichten.
Wie schon im letzten Jahr wurden Verbesserungsmöglichkeiten bei der Bearbeitung komplexer Kapitalverbrechen dargestellt, das im vorliegenden Fall nicht ohne die intensive – und wie wir meinen auch ausdrücklich vorbildliche – Zusammenarbeit der einzelnen Fachdisziplinen (und einem Quantum Glück) hätte gelöst werden können. Die Darstellung von Vorgehensmöglichkeiten und vor allem die Vermeidung von Fallstricken für die Bearbeitung eigener Fälle waren der herausragend hilfreiche Fokus der Tagung.
So kam es in Sittensen beispielsweise zu Unklarheiten bezüglich der ursprünglichen Lage einiger Opfer, weil sich die traumatisierten Sanitäter nicht mehr daran erinnern konnten, wie die Leichen bewegt worden waren. Das lag unter anderem an der tragischen Tatsache, dass zwischen zwei Leichen ein zweijähriges Mädchen – die Tochter des Inhaberehepaares – angetroffen wurde, das als einzige von den Tätern verschont und gerettet worden war.
Auch die nie ausermittelte Übergabe der gesamten, digitalisierten Fall-Akte (mit ca. 30.-40.000 Seiten) an die Zeitschrift "Focus" – ausgerechnet zum Zeitpunkt des Prozessauftaktes – und damit die Veröffentlichung der Ermittlungsinhalte nebst aller Nachteile für die Behörden (Befangenheitsantrag von Seiten der Schöffen, Häme darüber, wo die undichte Stelle bei Polizei und StA liegen könne, obgleich ja auch die Anwälte als undichte Stelle in Frage kommen) wurden – einschließlich einiger Anmerkungen zur möglichen Höhe von Honoraren, die für derartige Lecks gezahlt werden – dargestellt. Interessant waren weiterhin organisatorische Hinweise zum Verhalten und zur Abstimmung der Beteiligten bei großen Pressekonferenzen, hier auch unter dem Gesichtspunkt, dass die Opfer aus mehreren asiatischen Länder ein weltweites Presse-Interesse auslösten und Spekulationen zu den Tat-Motiven nicht Tür und Tor geöffnet werden sollte.
Die gut vorbereiteten Vorträge lösten im Publikum angeregte Diskussionen aus und machten die Veranstaltung zu einer äußerst gelungenen Tagung, die jedem, der an aufrechter, interdisziplinärer, kriminalistischer Arbeit interessiert ist, unbedingt empfohlen werden kann.