Früh erkennen, was förderlich ist

Quelle: autismus verstehen, 2/2025

Autismus-Studie für Kita-Kids

Interview: Marie-Louise Abele

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Foto: © Klaus D. Wolf

White Unicorn e.V. in Zusammenarbeit mit der Evangelischen Hochschule Berlin (EHB) und der Arbeiterwohlfahrt (AWO) werten Belastung durch Reize wie Lärm und Unruhe in Lebensumfeldern von autistischen Kindern im Kita-Alter aus. Stephanie Fuhrmann ist Projektmanagerin bei White Unicorn e.V. und hat mit Dr. Mark Benecke bereits das schAUT Projekt zur Erforschung von Barrieren an Schulen für autistische und andere Schülerinnen und Schüler begleitet (www.schaut-verbund.de). Wir berichteten in unserer Ausgabe 2/2024 über die Ergebnisse. Jetzt richten sie ihren Blick auf die Barrierensituation der jüngeren Altersstufe. Das neue Projekt wird von der Aktion Mensch gefördert. Die Umfrage läuft noch bis Ende Oktober 2025. Stephanie Fuhrmann gibt Einblick in den Ablauf und das Ziel des Projektes.

Im vergangenen Jahr haben Sie das Projekt schAUT mit der Umfrage an Schulen abgeschlossen. Was gab nun den Anstoß, die Umfrage auch für den Kita-Bereich zu starten?

Während der Auswertung der schAUT-Umfrage haben wir verstanden, dass Kinder bereits in sehr jungen Jahren lernen können, die eigenen Fähigkeiten zu entdecken und zu entfalten und sich so zu eigenständigen Persönlichkeiten zu entwickeln. Dazu braucht es ein Umfeld, in dem sie auf ihre Art die Fähigkeit entwickeln können, in allen Lebenslagen kreativ und handlungsfähig zu bleiben. Wer ständig mit dem Umgang der äußeren Einflüsse beschäftigt ist, sich stetig anpassen muss, hat Probleme, zur Ruhe zu kommen, schläft schlecht und kann sich nicht auf Lösungen bei Schwierigkeiten und das Lernen konzentrieren. Das ist oft schon der Grund für einen schlechten Start in der Grundschule und zieht sich nicht selten durch die gesamte Schullaufbahn hindurch. Besser wird es für alle, wenn Barrieren erkannt und abgebaut werden und das Kind dann noch auf ein verständnisvolles und offenes System trifft. Verhalten wie z. B. Stimming erfüllt viele Zwecke und ist sehr wichtig. Autistische Kinder suchen gezielt Reize, damit ihr Gehirn angeregt wird – zum Lernen, Verarbeiten und Erleben. Das kann ganz einfache Dinge umfassen, wie mit einem Stift wackeln, sich die Haare um den Finger wickeln, mit dem Stuhl schaukeln oder immer wieder dasselbe Wort sagen. Auch Aktivitäten wie Reiten oder Kampfsport können Formen von Stimming sein. Jeder Autist hat seine eigene Art, sich zu stimulieren. Diese Reize helfen, sich wohlzufühlen und überhaupt lernen zu können. In stressigen Situationen wirken sie zudem beruhigend. Ebenso wichtig sind feste Rituale oder die Akzeptanz, wenn ein Kind allein spielen möchte – natürlich mit der passenden Begleitung. Das alles ist Förderung. Das ist Teilhabe.

An wen richtet sich die Umfrage?

Jeder darf mitmachen! Wir suchen Eltern, Familienangehörige, Mitarbeitende in Kita-Einrichtungen und Fachkräfte, welche die Kinder tagtäglich beobachten, aber auch erwachsene Nicht-Autisten, denn wir möchten in dieser Studie alles abbilden, was es neurologisch gibt. Außerdem möchte das Projekt gezielt Bewusstsein für mögliche Stresssituationen für alle Kinder im Kita-Alter schaffen. Unsere Fragen beziehen sich auf aktuelle Ereignisse, die das Kind gerade erlebt, oder Ereignisse, an die man sich selbst erinnert. Welche Hindernisse und sensorische Belastungen gibt oder gab es in der eigenen Kindheit im Alter zwischen 1–6 Jahren? Wie sehr stören sie oder haben sie eigene Handlungsabläufe gestört? Und wie geht man damit um oder wie ist man damit umgegangen?

Wie läuft sie ab?

Bis Ende Oktober 2025 läuft die Online-Befragung, mit der wir die selbst erlebten Hindernisse und Lösungen auf Teilhabe aus allen Lebensbereichen im Kita-Alter erfassen. Danach folgt eine längere Auswertungszeit.

Was ist das Ziel des Projektes?

Wir möchten, dass Kinder auch im Kita-Alter gesund und ausgeglichen aufwachsen können. Durch den Erhebungsbogen und die Pilotstudie mit Praxistest wird als Ergebnis ein ganzes Paket für die Entwicklung und Förderung des Zusammenlebens von Kindern im Alter zwischen 1–6 Jahren erstellt, bei dem auch autistische Kinder nicht ausgegrenzt werden. Dazu werden ein alltagstaugliches Wimmelbild-Kartenspiel, Entwicklungsraster, Workshop für Fachkräfte, Eltern und Interessierte sowie eine als Buch gedruckte Handreichung mit digitaler Fortbildungsveranstaltung entwickelt.

Was braucht es Ihrer Meinung nach, damit Kindertageseinrichtungen ein stressfreier Ort für alle sein können?

Meiner Meinung nach braucht es vor allem Menschlichkeit. Das beinhaltet das Verständnis für Vielfalt und Diversität in unserer Gesellschaft – ohne Ausnahme. Wenn früh verstanden wird, dass autistische Kinder immer autistisch bleiben, lässt es sich viel einfacher damit umgehen. Denn da ist nichts krank oder muss geheilt werden. Vielmehr ist es wichtig, den Kindern bereits früh die Möglichkeit zu geben, innere Stärke zu entwickeln – sei es durch Angebot von verschiedenen Schutzräumen, sei es ihnen zu erlauben, selbst zu erkennen, wann für sie die Belastungen überhandnehmen. So lernen sie früh, wie sie damit umgehen können, wenn Schwierigkeiten auft reten, z. B. durch Stimming, Kopfh örer, Technologien oder Ruhe und Entspannung. Wir möchten zur Förderung ein Kartensystem gestalten, das bei allen Kindern die Entwicklung der Fähigkeit, Bedürfnisse zu kommunizieren, unterstützen kann.

Die Möglichkeit, schon in jungen Jahren, Autonomie und Teilhabe zu leben, schafft die Basis für ein selbstbestimmtes Leben. Die dafür notwendigen Bedingungen müssen in den folgenden Lebensabschnitten angepasst und weiterentwickelt werden.

Erwartungsmanagement als Schlüssel für partizipative Forschung – Kritische Reflexion in Theorie, Empirie und Erleben aus dem Forschungsprojekt Schule und Autismus (schAUT)

Quelle: Gemeinsam leben, DOI: 10.3262/GL2403173

Lukas Hümpfer-Gerhards, Jana Kunert, Stephanie Fuhrmann, Stina Hartwieg,

Vera Moser, Mark Benecke, Michel Knigge & Sabine Schwager

Der komplette Artikel als .pdf

Im Rahmen von partizipativer Forschung ist die wechselseitige Aushandlung der Erwartungen der beteiligten Forscher:innen eine Voraussetzung für die Herstellung eines gemeinsamen Referenzrahmens und damit eine zentrale Gelingensbedingung des Projekts. Damit ist nicht nur der Austausch über Fakten und Ziele gemeint, sondern insbesondere auch eine Verständigung über die jeweils individuellen handlungsleitenden Motive. Denn partizipative Forschung ist von unterschiedlichen Erlebens- und Erwartungshorizonten geprägt, die ausschlaggebend für die Zusammenarbeit sind. Obwohl dies im Sinne von Teilhabe vor dem Hintergrund des Prinzips ‚Nothing about us, without us‘ eine Stärke dieses Forschungsstils beschreibt, birgt es gleichsam Konfliktpotenzial, insbesondere was das Verhältnis von Erkenntnis- und Wirkungsinteresse betrifft. Zur Beschreibung der Prozesse zur Herstellung einer gemeinsamen Handlungsfähigkeit in einem Forschungsprojekt schlägt dieser Artikel, basierend auf den Ergebnissen einer ethnografischen Beobachtung des partizipativen Forschungsprojekts schAUT (Barth 2023), den Begriff Erwartungsmanagement vor. Der Begriff wird theoretisch und empirisch beschrieben, sowie durch eine praxisbezogene Eingrenzung umrissen. Der Artikel schließt mit der Aufstellung eines Stufenmodells von Erwartungsmanagement im Kontext partizipativer Forschung.

ADHS & Autismus: Netzhaut-Erkennung

Kleine Teile des Textes wurden verwendet auf → https://www.gamestar.de/artikel/adhs-diagnose-ki-netzhautbilder-auge-neurodivergenz,3432156.html 

1. Warum ausgerechnet die Netzhaut? Können Sie unseren Lesern in einfachen Worten erklären, warum sich gerade die Retina eignet, um neurodivergente von neurotypischen Menschen zu unterscheiden?

Es war eine wirklich abgefahrene Idee der Kolleginnen und Kollegen, in die Augen zu schauen. Uns ist klar, dass das Gehirn unsere Persönlichkeit ist. Dazu gibt es massenhaft Studien, auch unter Autistinnen und Autisten. Als nun die Augen von Autistinnen und Autisten angesehen wurden (klick hier und hier) fanden das besonders meine ärztlichen Kolleginnen und Kollegen zunächst "umstrtitten", obwohl die künstliche Intelligenz ja eine supergenaue Trefferzahl hinlegte. Aber es hätte ja an fehlenden Massen-Tests gelegen haben können.

Biologisch fand ich es nicht so merkwürdig, denn "die Dicke der ellipsoiden Zone (EZ) mit Zapfen-Photorezeptoren war bei ASD signifikant erhöht; die großkalibrigen arteriovenösen Gefäße der inneren Netzhaut waren bei ASD signifikant reduziert; diese Veränderungen in der EZ und den arteriovenösen Gefäßen waren am linken Auge signifikanter als am rechten Auge" — das ist ja schon deutlich.

In der ganz neuen ADHS-Studie, in der über dreihundert Erwachsene und Kinder untersucht wurden, war die Idee, dass sich Dopamin, das ja viele "seelische" Wirkungen hat, auch auf das Entstehen und Wachsen der Netzhaut im Auge auswirkt. Vermutlich hängt das mit der durch Dopamin veränderten Durchfluss-Menge von Blut, vielleicht auch mit der ebenfalls von Dopamin beeinflussten Durchlässigkeit der Butgefäße zusammen. 

Da die Dopamin-Sache noch untersucht wird, haben sich die Kolleginnen und Kollegen gesagt: Warum nicht einfach schauen, was wie im Auge sehen? Die genaue Entstehungsgeschichte der möglichen Netzhaut-Veränderungen können wir ja auch später untersuchen. 

Hinzu kommt, dass gerade im Berich von Künstlicher Intelligenz, Deep Learning, in Laboren und der Wissenschaft überhaupt superviele Autistinnen und Autisten arbeiten. Das mag ein weiterer Anreiz gewesen sein, einfach mal zu gucken anstatt zu denken.

 2. Wie würden Sie den derzeitigen Standard zur Diagnose von Autismus und ADHS beschreiben? 

Es gibt derzeit keinen Standard. Das ist sehr gute Forschung, keine allgemein zugelassene Anwendung.

Was kann ein solches, auf Biomarkern basierendes Verfahren, für die Diagnostik für potenziell Neurodivergente verändern?

Dass ihnen endlich — wie auch den ME/CFS-Patientinnen und -Patienten — nicht mehr von Menschen, die nichts davon verstehen, aber auch die Messungen nicht anschauen, gesagt wird, dass sie sich das alles einbilden oder, noch beknackter, es eine Mode-Erscheinung sei. 

3. Sehen Sie ein generelles Potential in solchen neuen Verfahren, unseren gesellschaftlichen Blick auf Autismus und ADHS zu verändern?

Auf den Autismus-Vorträgen und -Kanälen von meiner Frau und mir ist richtig was los, wenn es um die Eigenschaften und die Erkennung von Neurodiversität geht. Ich finde es daher gut, dass die saubere Erkennung immer besser gelingt. 

Der nächste Schritt ist, die Trennung zwischen angeblich normalen und dazu so verschieden dazu wirkenden Menschen aufzugeben. Nicht nur Autismus und ADHS sind ein Spektrum, wie es in der neuesten Fassung der Liste von Krankheiten (ICD-11) auch super dargestellt ist, sondern auch die angebliche Normalität. Wie wir in Köln sagen: "Mer sin all Mische": Wir sind alle Menschen mit Stärken und Schwächen. 

Gerade Autistinnen und Autisten sind überstark in Computerzeugs, Ingenieurs- und Natur-Wissenschaften vertreten, ADHSler:innen in der Bühnen-Kunst und AuDHSlerinnen vielleicht noch in vielem mehr. Das hat schon Hans Asperger gewusst, ich habe das in den Tiefen der Autismus-Bibliothek in London selbst ergründet. 

Es ist also schon mal prima, wenn Menschen mit Spezial-Interessen das in Ruhe machen können, was sie eben können. Hilft allen. 

Außerdem können die Angehörigen lernen, nicht das Kind so zu biegen, wie die Nachbarn es gerne hätten, sondern es leben zu lassen, wie es möchte. Das macht auch den Angehörigen das Leben leichter, die oft tausendmal verzweifelter sind als die Autistinnen und Autisten, weil sie irgendwas erzwingen möchten, was nicht geht und nicht sinnvoll ist. 

Unser Forschungs-Team hat in den letzten sieben Jahren schon heraus gefunden, wie wir es den Schülerinnen und Schülern leichter machen. jetzt führen wir eine fette Untersuchung mit Kindergarten-Kids dazu durch.

Und: Wer stärkere Schwierigkeiten hat, erhält mehr Unterstützung. So wie bei Knochenbrüchen oder Grippe auch.

Autismus-Kindergarten-Studie

Mai 2025

Wir haben in den letzten Jahren zusammen mit dem Bundesministerium für Bildung und Forschung, der Goethe-Uni Frankfurt und der Humbodt-Universität in Berlin siebenundzwanzig neurobiologisch bedingte Hindernisse erkannt, denen Autistinnen und Autisten in der Schule gegenüberstehen. 

Beispielsweise wissen wir, dass viele Autist:innen Reize stark wahrnehmen, also sind Lautstärke und Licht sehr häufig eine Störung. 

Was genau nun im Kita-Alter stört — der Hall in den Räumen oder Gewusel beim Frühstück —, das finden wir heraus.

Wer dabei vor Ort durch Befragung der Kids mitmachen möchte, besonders natürlich Erzieherinnen und Erzieher aus Kindergärten: Meldet euch bitte bei stephanie.fuhrmann@white-unicorn.org

Danke schön!