Da pfeift er drauf: Gewohnte Pfade sind seine Sache nicht. Meisterdetektiv Sherlock Holmes und seine Logik sind noch immer aktuell.
Read MoreDr. Mark Benecke über Sherlock Holmes und dessen Untersuchungsmethoden
Quelle: The Baker Street Chronicle (2)7, Seiten 12 bis 13 (2012)
VON OLAF MAURER
Hallo Mark, Du bist von Anfang an Mitglied in der Deutschen Sherlock-Holmes-Gesellschaft. Wie siehst Du Deine persönliche Beziehung zu dem berühmtesten Detektiven aller Zeiten?
Alle kriminalistischen Regeln, die ich anwende, finden sich bei Sherlock Holmes, und das fand ich, als ich es bemerkte, ganz persönlich strange und gruselig, jetzt aber saucool. Endlich bin ich nicht mehr alleine der Kauz, der so komisch querdenkt und in der Schule als einziger (kein Scherz, war ‘ne echte Umfrage in unserer Schule) Chemie gut fand! ;)
Natürlich ist das mit den kriminalistischen Regeln kein Zufall, denn mehrere Regeln sind altbekannt und implizit sozusagen eine Job-Beschreibung, einige sind aber auch neu oder zumindest so originell, daß ich ihren Ursprung nicht kenne und sie mal auf den juten Sherlock datiere.
Beispiel:
Während in Krimis oft das Einschlußprinzip verwendet wird (gibt‘s auch bei Holmes: „There is nothing like first-hand evidence.‘ -- Study in Scarlet), ist es aber oft genug (bei Holmes) auch andersrum, und das ist sehr aufregend und wichtig, da es genauso beweiskräftig ist:
Erst wenn man alles ausgeschlossen hat, was nicht sein kann, muß das, was übrig bleibt, stimmen, egal wie unwahrscheinlich es ist.
Dieser Satz kommt bei Holmes öfters und in Varianten vor, und man könnte Tage damit verbringen, ihn auszulegen. Er nimmt alles Mögliche vorweg, beispielsweise das Falsifikationsprinzip von Popper und schließt einiges Ungemütliche ein, beispielsweise, daß es nicht so ganz einfach ist, alles auszuschließen. Am wichtigsten im kriminalistischen Alltag: daß man nie fragen soll, was wahrscheinlich ist oder lebensnah. Das führt Annahmen ein, und die führen dann zu zwar logischen, aber auf einer falschen Grundannahme beruhenden Gedankenkette:
Man kann solche Zitate eigentlich gar nicht genug erwähnen. Das Dumme ist nur, daß man beim ersten Lesen gar nicht rafft, how very elementary far beyond any poetic truth das alles wirklich ist (zumindest habe ich es am Anfang nicht gerafft).
Ich nehme jetzt einfach wenige, relativ bekannte Zitate von einer der zahlreichen Sherlock-Holmes-Zitate-Seiten im Internet:
a.
You see, but you do not observe. The distinction is clear.‘ (SCAN)
Kommentar: Man liest dieses Zitat, aber man versteht es nicht. Ein großer Unterschied ;) – Wie am Tatort: Alles voll Blut, aber man muß die Besonderheiten in diesem Meer an Selbstverständlichkeit (Halswunde: Blutaustritt: langweilig) erstmal erkennen, etwa Blut an einer zwar erwartbaren Stelle, aber unerwartbar geformt.
b.
He [Holmes] loved to lie in the very centre of five millions of people, with his filaments stretching out and running through them, responsive to every little rumor or suspicion of unsolved crime. (RESI)
Das trifft beispielsweise im Knast zu. Wenn man da mit einer Person redet, redet man eigentlich mit allen. Es ist ein Netz, in dem viele Taten miteinander zu tun haben, in dem es Kontakte nach innen und außen gibt und in dem die Einzeltat wirklich kaum eine Rolle spielt und man versuchen muß, die jahrelangen Verbindungen der Menschen dort zu verstehen. Ich höre also oft und gerne einfach zu.
c.
‚My mind is like a racing engine, tearing itself to pieces because it is not connected up with the work for which it was built.‘ (TWIS)
„My mind,“ he said, „rebels at stagnation. Give me problems, give me work, give me the most abstruse cryptogram or the most intricate analysis, and I am in my own proper atmosphere. I can dispense then with artificial stimulants. But I abhor the dull routine of existence. I crave for mental exaltation. That is why I have chosen my own particular profession,—or rather created it, for I am the only one in the world.“ (SIGN)
Kenne ich. Mir ist nie langweilig, ich finde immer was zu tun, notfalls putze ich oder sortiere Kram um. Befriedigend und beruhigend ist es aber nur, komplizierte Spuren zu untersuchen.
d.
‚Nothing clears up a case so much as stating it to another person.‘ (SILV)
‚I confess that I have been blind as a mole, but it is better to learn wisdom late than never to learn it at all.‘ (TWIS)
Ohne meine StudentInnen, MitarbeiterInnen und auch das Publikum bei öffentlichen Vorträgen wäre ich echt aufgeschmissen. Beim Reden werden ganz andere Gehirnbereiche aktiv und viel mehr Verbindungen geknüpft. Wichtig dabei: man muß die anderen Menschen wirklich respektieren und darf NIEMALS glauben, man wäre schlauer. Die meisten Menschen denken aber, daß sie im Kern korrekte und sinnvolle Ansichten haben, viele andere Menschen aber nicht. Über die bin ich also regelrechter Menschenfreund geworden, der gerafft hat, wie cool und wertvoll und oft auch stark andere wirklich sind.
‚A man should keep his little brain attic stocked with all the furniture that he is likely to use, and the rest he can put away in the lumber-room of his library where he can get it if he wants.‘ (FIVE)
Interpretiere ich so, daß man zwar neugierig sein soll und wissen, wen man als Experten fragen kann, aber nicht wie in manchen modernen TV-Krimis (CSI) ein Alleskönner sein soll -- es ist viel besser, sich mit wenigen Dingen im Speziellen auszukennen und für den Rest jeweils angepaßte Teams zusammenzustellen und dort offen und einzelfallbezogen zusammenzuarbeiten.
e.
‚It has long been an axiom of mine that the little things are infinitely the most important.‘ (IDEN)
‚It is, of course, a trifle, but there is nothing so important as trifles.‘ (TWIS)
Ist mein Leben.
Nach Deiner Einführung geht es um die Frage bzw. den Umstand, daß Holmes auf Leichen einschlägt, um die Entwicklung von blauen Flecken bei Leichen zu erforschen. (STUD) Wie stehst Du zu solchen Methoden, zu solchen Wegen zur Erforschung von gewissen Umständen?
Da stehe ich sehr zu. Beispielsweise gab es mal einen Bericht darüber, daß der DNA-Gehalt in Strangmarken verändert sein sollte. Das ließ uns keine Ruhe. Also sind ein Kollege und ich hingegangen und haben künstliche Strangmarken an Leichen erzeugt sowie vor allem ganz kleine Hautproben von Suizidenten, die sich erhängt hatten, entnommen.
Ergebnis: durch das Zusammendrücken der Haut ändert sich die Gewebedicke und das -gewicht, aber nicht der DNA-Gehalt pro Zelle.
Das sah man aber erst, als wir a. die Proben veraschten und b. eben den DNA-Gehalt bestimmten. Ergebnis Nummer zwei: der Artikel GRELLNER W & BENECKE M (1997) The quantitative alteration of the DNA content in strangulation marks is an artifact. Forensic Science International 89:15-20
Heute völlig undenkbar, da müßte man vermutlich erst Ethik-Kommissionen usw. befragen, die es evtl. trotz der Korrektur eines Fehlers, der sich bereits in die Fachliteratur eingeschlichen hatte, nicht erlauben würden.
Schon damals wehte ein komischer Wind, wenn man ins Labor Leichengewebe brachte oder einfach mal etwas TESTETE, anstatt immer nur nachzudenken: meine damalige Chefin hat die Hautproben, die ich noch weiter untersuchen wollte, eines Tages einfach weggeworfen. Hammer, ich wüßte bis heute noch spannende, wichtige Fragen, die wir an diesen Proben immer noch prüfen könnten, beispielsweise zur Genetik von Depressionen (ich bin Posterboy für ein Anti-Depressions-Netzwerk: frnd.de).
Engstirnigkeit oder Ekel sind da leider sehr schädlich. Findet Holmes ja auch:
„One‘s ideas must be as broad as Nature if they are to interpret Nature.“ (STUD)
Was wollte Holmes hier genau erforschen (1887)?
Antwort aus dem Original zusammengestellt:
„Holmes is a little too scientific for my tastes—it approaches to cold-bloodedness.(...) He appears to have a passion for definite and exact knowledge (...) but it may be pushed to excess. When it comes to beating the subjects in the dissecting-rooms with a stick, it is certainly taking rather a bizarre shape. [He does it] to verify how far bruises may be produced after death.“
Warum ist dies wichtig?
Wir schlagen (pun intended) uns öfters mit postmortalen Verletzungen rum. Die können vor Gericht tödlich (pun intended – again) sein. Typisches Beispiel: Ehegattin tot, Kratzer am Hals der Leiche, Ehemann kriegt ne fette Auszahlung der Lebensversicherung, die beiden haben sich oft gestritten, er hat kein Alibi.
Sehr dumm, wenn die „Kratzer“ erst nach dem Tod durch Schnecken entstanden sind oder durch Lagerung auf einem Ast, weil die Frau einfach nach einem (Blut)Sturz so hingefallen und liegen geblieben ist. Wirklich ein sehr realer Klassiker vor Gericht. Über sowas sind schon kollegiale Freundschaften zerbrochen, weil der Erstgutachter der Anklage helfen wollte und hinterher rauskam, daß es eben doch nur ein Fleck vom Stock oder ein Hautabrieb von der Schnecke war.
Wie würde man das heute tun – wie würdest DU das tun?
Genau so, wenn ich dürfte. Allerdings wäre es vermutlich illegal, so daß ich notfalls vor Gericht sagen müßte, daß ich das Experiment nicht machen durfte und daher nicht weiß, wie die Antwort lautet. Wenn’s sehr hoch hängen würde, würde ich es einfach im Ausland machen.
Beziehungsweise hättest Du zur damaligen Zeit ggf. ähnlich gehandelt?
Hundert Prozent ja.
Mit herzlichem Dank an Olaf Maurer und die Redaktion des Baker Street Chronicles für die Freigabe und die Genehmigung zur Veröffentlichung.
Das Copyright des im PDF abgebildeten Fotos von Mark Benecke liegt bei Thomas van de Scheck, dem wir an dieser Stelle ebenfalls recht herzlich für die und die Genehmigung zur Veröffentlichung danken!
Interview mit Dr. Mark Benecke (Sherlock Holmes Magazin)
Quelle: Sherlock Holmes Magazin, Herbstausgabe 2012, Seiten 16 bis 18
Interview mit Dr. Mark Benecke
VON RALF BILKE & MARCUS KONRAD
Im August diesen Jahres begleiteten Ralf Bilke und Marcus Konrad den 1970 geborenen Kriminalbiologen Dr. Mark Benecke und durften ihn und seine Studenten einen halben Tag lang bei seiner Arbeit beobachten. Die Atmosphäre war von Anfang an locker - und bereits nach wenigen Minuten war man beim "Du" angelangt.
Der Nachmittag begann mit einer Exkursion, in deren Rahmen heimische Baumarten, inklusive pflanzeneigener Partikel, die beispielsweise bei Leichenfunden wichtig werden könnten, unter die Lupe genommen wurden. Selbst der Verzehr von Eibenbeeren, dem einzigen Teil der Eibe, der nicht hochgiftig ist, stand auf dem Programm, sowie das Ernten einer Kirschengattung, um deren Kerne zu rösten, zu mahlen und daraus eine Art Muckefuck zu kochen. "Das Entfernen des Fruchtfleischs machen meine Schaben", erklärte Benecke. Das macht Mut.
Weiter ging es mit einem Interview in Herrn Beneckes Arbeitszimmer, das schon ein kleines Kuriositätenmuseum für sich ist. Sherlock Holmes stellt für Benecke den Prototypen in Bezug auf kriminalistische Methoden und Spuren dar, wie man dem Interview entnehmen kann.
Zum Abschluss wurde es noch einmal praktisch: Mikroskopieren ganz in guter Sherlock Holmes-Art.
Wir bedanken uns ganz herzlich bei Mark für seine aufgeschlossene und herzliche Art.
Mark, Du hast gesagt, dass alles was heute kriminalistisch gemacht wird, schon mal dagewese und bei Doyle und Sherlock Holmes wiederzufinden ist. Kannst du vielleicht darüber etwas erzählen?
Ihr kennt ja vielleicht die Zitate aus der Holmes-Wiki und die Pdf's auf meiner Homepage benecke.com. Darin werden die wesentlichen Prinzipien genannt, die ich mal ausführen möchte. Diese sind zwar kriminalistisch geläufig und ich habe sie unabhängig von sherlockianischen Publikationen oder Regeln entwickelt, so wie sie jeder entwickelt. Eine typische Regel, die für Kriminalisten logisch wäre, ist das Locardprinzip. Es gibt keine Tat oder Interaktion ohne Spurenübertragung. Aber das Prinzip, so gut es auch ist, ist sinnlos, denn alles im Leben ist durch irgendetwas bedingt. Es ist also nett und auch richtig, wenn man den Leuten sagt, sucht nach Spuren, denn es muss irgendeine Spur geben, eine Fußspur, eine Glasspur, eine DNA-Spur, eine Spermaspur, eine Haarspur, oder wie bei Sherlock Holmes eine Tabakspur. Aber das ist zu offen. Bei Sherlock Holmes sind die Prinzipien besser. Diese sind zwar auch offen, aber kriminalistisch spezifischer. Erstens, man soll keine Annahmen machen, und das leitet eine kritische Einzelfallbetrachtung ein: Ich nehme nicht an, dass diese Situation vergleichbar ist mit einer anderen Situation. Und dadurch ist man gezwungen zu sagen: Ich muss mir vor Ort alle Details ansehen.
Das Zweite ist, dass man sagt: Egal wie nebensächlich es ist, es ist trotzdem wichtig. So ist das bei einer Faserspur: das ist zwar nur Staub in der Ecke und somit nebensächlich, kann aber sehr wichtig sein. Aber auch Großes kann nebensächlich sein.
Das Wichtigste ist aber das Ausschlussprinzip. In Krimiserien siehst du meistens nur Einschlüsse. Der Detektiv Iäuft durch die Gegend und kommt nach und nach durch Spuren, die er findet, und durch Zeugenaussagen der Sache immer näher. So funktionieren Krimis. Aber das Ausschlussverfahren bedeutet, dass man erstmal ausschließen muss, was nicht sein kann. Wenn zum Beispiel hier in der Wohnung eine Leiche gefunden wird, muss man sich klar machen, von wem die DNA unter den Fingerngeln der Leiche ist, aber ich könnte auch genauso gut fragen, wer kann es nicht gewesen sein, weil die Leute nicht da sind, weil sie in Urlaub sind und das ist die noch bessere Methode, weil sie eine noch bessere Einengung dessen erlaubt, was man eigentlich vorhat. Das ist der erste Teil, und der zweite Teil von diesem Satz, der in vielen Geschichten auftaucht, ist: Erst wenn man alles ausgeschlossen hat, was nicht stimmen kann, muss das stimmen, was übrig bleibt., egal wie unwahrscheinlich es ist. Und das ist sozusagen schon die vierte Regel. Nämlich dass man sich ganz klar machen muss, dass es scheißegal ist, wie naheliegend, lebensnah, vernünftig, logisch, planbar oder sonst etwas das Ganze ist. Deswegen sind die Sherlock Holmes-Geschichten wirklich gut. Es gibt ja moderne Krimiautoren, die kritsieren die teilweise logischen lnkonsistenzen in den Geschichten. Das sehe ich aber nicht. Ich glaube eher, dass die modernen Krimiautoren nicht raffen, welche Prinzipien dahinterstecken und nicht, dass die Geschichte durch die Spurensuche und durch die Zeugenaussagen oder durch logische Kombination auf ein Ziel hin läuft. Das sind also die vier Prinzipien, die ich am Wichtigsten finde.
Du scheinst Dich in den Geschichten gut auszukennen.
Ja, ich habe mir neulich die Gesamtausgabe zugelegt und nochmal gelesen. Wir haben an der Harvard-Universität eine Zeitschrift, bei der wir einmal im Jahr Spaßnobelpreise verleihen für Sachen, die echte Forschung sind, die sich aber aber lustig anhören. Da haben wir das letztgenannte Prinzip übernommen. Bei Sherlock Holmes heißt es ja, egal wie unwahrscheinlich es ist. Wir haben das als Motto übernommen. Es hat aber zehn Jahre gedauert, bis ich gerafft habe, dass das auch für Arbeit bedeutsam ist.
Das bedeutet, Du bist schon in jungen Jahren zu Sherlock Holmes gekommen.
Ja, ich muss da irgendwie als Kind schon dazu gekommen sein und habe es jetzt nochmal aufgegriffen.
Viele Erfahrungen des Autors fließen ja in die Sherlock Holmes-Geschichten hinein. Doyle hat ja viele Erfahrungen, die er durch Bell, seinem Mentor, gemacht hat, übernommen. Die Prinzipien sind gleich, aber was hat sich Deiner Meinung nach radikal verändert.
Das ist schwer zu sagen. Mit der Industrialiserung ist es so gekommen, dass völlig klar war, dass technische Prinzipien Erfolge haben. Man kann damit Geld verdienen, Arbeiter ernähren, man kann damit Städte aufblühen lassenn. Es war klar, dass Geld, Macht, Erfolge daran gekoppelt sind. Das hat sich überall widergespiegelt. Das sieht man bei Conan Doyle auch. Zum Beispiel bei Bram Stokers DRACULA hat man den ganzen Aberglauben, über den man geschmunzelt hat, der aber doch sehr mächtig und vorhanden war, wie heute auch noch. Hente ist es zum Beispiel Homöopathie und so was, worüber sich die Leute irgendwann totlachen werden. Deshalb tauchen bei Bram Stoker auch Sohreibmaschinen auf, was damals ja total crazy war. Als Zeichen für die technische Entwicklung. Da prallt Logisches und Irraionaes aufeinander. Bei Sherlook Holmes ist es so, dass das gar nicht auftaucht. Da gibt es nur eine düstere Atmosphäre, die ja manchmal auch in Filmen aufgegriffen wird, aber er selber ist der Kauz, der Nerd. Und mit der Industrialisierung war auf einmal der Kauz nicht mehr der, den man umbringen möchte. Vorher waren Köhler oder Müller immer die zwielichtigen Figuren, die am Stadtrand gewohnt haben, die teilweise aber auch schräg oder intelligent sein konnten. Das waren Spinner, Störenfriede und die wurden an den Stadtrand gedrängt oder einfach umgebracht.
Mit der Industrialisierung wurde der Sonderling, solange er genützt hat, sympathisch. Der größte Nutzen, den ein Sonderling haben kann, ist als Techniker oder als Kriminalitätsaufklärer. Dadurch wird die Gesellschaft stabilisiert, wenn man weiß, da ist einer, der kann Verbrechen aufklären. Das war immer da. Die Spezialisten gab es immer, aber erst durch die Industrialisierung wurde das auf einmal sexy oder cool. Zum Bespiel bei den neuen Verfilmungen (Downey) ist es ja so, wenn man mit jungen Frauen spricht, die finden den sexy. Oder bei der neuen BBC-Serie. lch würde sagen, der Typ ist ein arrogantes Arschloch, ich weiß nicht, was daran sexy ist.Aber dann heißt es immer, nee, der ist so kIug und sportlich und so. Also wenn ich einen Typen in der Schule gehabt hätte, ich hätte den total bekloppt gefunden. Bei Arthur Conan Doyle ist Sherlock Holmes ja noch sonderlich und kauzig, drogenabhängig, schizoid, schmuddelig und so. Heute ist der Nerd sogar sexy geworden.. Bei den anderen Krimis wird es ja meistens so gelöst, dass der Todesermittler durch irgendetwas traumatisiert ist. Deswegen ist er nicht mehr Teil der Gesellschaft, sondem Todesermittler. Das Thema wird bei Sherlock Holmes überhaupt nicht angeschnitten. So wie Bram Stoker viele Fäden zusammen geknüpft hat, die schon da waren, hat Doyle das nachgemacht. Und auf Deine Frage nach Doyles Mentor, solche Leute gab es auch immer, aber die mussten ihren Platz finden. Paracelsus und Archimedes waren mit Sicherheit genauso. Die Leute gab es immer, sie haben es nur sehr schwer. Nicht umsonst sind viele davon getötet worden. Die Leistung von Conan Doyle ist sehr stark unterschätzt, weil das eigentlich Kriminalistik-Lehrbücher sind, ohne dass das jemand rafft. Doyle macht sie besonders cool. In dem Moment, wo man ein Lehrbuch liest und es nicht merkt, das ist die Königsdisziplin. Besser geht es nicht mehr! Man muss aber noch mehr anerkennen, dass Doyle, der so tief durchdrungen war von seinem Glauben an die Esoterik und wirklichen Humbng, den er eigentlich hätte erkennen müssen, das auf zwei verschiedene Schienen geblickt hat. Ich wüsste keinen Autor, der das jemals wieder schaffte. Das ist eine irrsinnige Leistung. Das private Gedankengebäude dringt normalerweise immer irgendwie in den Text ein.
Das bedeutet, dass Du jetzt als Kriminalbiologe, die Geschichten, die als Kind als Abenteuer gelesen hast, jetzt als Lehrbücher siehst.
Richtig, es gibt ja auch die schöne Liste von Watson, was kann Holmes und was nicht. Das ist eine ganz typische Liste für Spezialisten. Denn eigentlich musste man, wenn man einen Spezialisten sexy findet, erwarten, dass er sich mit allem auskennt. Ich finde es sehr gut dargestellt, dass Holmes sich eben mit fast überhaupt nichts auskennt, außer mit Klatschblättern, Blutanalysen und Chemie. Das ist realistisch und bei mir genauso. Das würde ich nicht als Kriminalbiologe sehen, sondern als jemand, der schon sehr lange sehr komplizierte Fälle bearbeitet. Ebenso wie Sherlock Holmes: Als naturwissenschaftlicher Kriminalist, ein Beruf, den Doyle und Poe erfunden haben.
Wenn man sich hier umsieht, ist das Thema Spiritismus ja allgegenwärtig. Du interessierst dich sehr für Vampirismus.
Ja, aber auch für alle anderen schrägen Sachen. Ich würde das aber nicht als esoterisch ansehen, ich sehe mir auch alle Subkulturen an. Zum Beispiel beim Satanismnus schaue ich: gibts das überhaupt? Und wenn es das gibt, was machen die da überhaupt? Ich würde es eher extreme Randgebieten nennen, weil du sonst die schrägen Fälle gar nicht verstehen kannst. Die breite Kenntnis ist wichtig.
Wenn man die Geschichten aus der Zeit von Stoker oder Doyle liest, ist ja vieles sehr mystisch oder mythisch. Das war damals die Zeit. Wie siehst Du das heute? Ist unsere Zeit entzaubert?
Gerade die viktorianischen Schockeffekte waren ja ein literarischer Kniff. Aber das ist heute noch genauso.Das Gruselige oder die Schockeffekte sind in Krimis heute noch genauso. Die mystischen und mythischen Fehlinterpretationen gibt es heute genauso, hängen sich aber an anderen Sachen auf. Das Rätselhafte und das Gruselige, gekoppelt mit dem, dass man eigentlich viele technische Möglichkeiten hat, die es eigentlich aufklären sollten und dann die daraus folgenden Fehlinterpretationen, das ist genau dasselbe. Und in der Nacht passiert eben auch ganz viel. Quietschende Fenster machen den Leuten genauso Angst wie früher.
Ist es bei Dir im Job genauso, dass viele das für unheimlich und gruselig halten, es aber für Dich reine Routine ist?
Nein, es ist das Gegenteil von Routine und bei Shedock Holmes ist es so, dass er ja höchstbegabt ist und darum ist ihm immer langweilig. Darum nimmt er auch Drogen und hat keinen Bock, aufzuräumen. Ich arbeite öfter mit hochbegabten Jugendlichen zusammen. 80 % davon haben aber keinen Bock und nur 20% sind überhaupt leistungsinteressert. Ich würde sagen, dass Holmes die Routine langweilt und nur, wenn ein spannender Fall kommt, zieht ihn das aus der Lethargie raus. Das ist bei uns ähnlich. Ich bin nicht hochbegabt, aber bei mir ist es so, dass ich früher viel Routinearbeit gemacht habe, zum Beispiel DNA-Analysen. Heute mache ich lieber die schweren, komplizierten Fälle, die kein Mensch machen würde. Und vor Geisteern habe ich keine Angst. Das Holmes-Zitat, wir brauchen keine Geister, ist bei mir ähnlich. Wenn ich welche sehe, und seien es nur die Geister der anderen, dann habe ich keine Angst davor. Das ist die Ähnlichkeit mit Sherlock Holmes. Also wenn etwas Gruseliges passiert, sage ich nicht, ich weiß sofort was das ist und wenn's ein Geist ist, dann lebe ich damit. Ich arbeite erst mal mit der einfachsten Annahme, dass es kein Geist ist. Wenn es aber tatsächlich einer wäre, lasse ich es auf mich zukommen und lebe damit. Die meisten Leute machen es anders. Die sagen, wenn es ein Geist sein könnte, gehe ich gar nicht erst auf den Dachstuhl und schaue, was das ist. Das ist der Unterschied.
Wo ist denn jetzt für Dich die Schwelle, was ist Arbeit, die Dich herausfordert und DU sagst, da bin ich voll in meinem Element.
Also, ich kann dir mal ein Beispiel nennen. Nehmen wir mal an, es sitzt jemand im Knast - lebenslänglich und rechtskräftig verurteilt. Es besteht keine Möglichkeit mehr, jemand anderen anzuzeigen. Der erzählt mir jetzt etwas, das ist so unglaublich, da müsste er etnweder sehr intelligent sein oder ein sehr guter Lügner oder beides. Er sagt, er habe darüber nachgedacht und erzählt mir eine dermaßen abgedrehte Geschichle, bei der man sich sagt, dass sie als Ausrede nicht funktioniert, denn damit würde er sich nur noch mehr reinreiten. Das ist für mich interessant. Denn an diesen Geschichten hängen oft Spuren dran. Und dann kann man auch nach zehn Jahren nochmal an den Tatort und nach Spuren suchen. Deswegen reist Sherlock Holmes ja auch immer überall hin. Also das ist der Moment, wo es interessant wird: Schräge Geschichte, gekoppelt an eine mögliche Spur.
Was hältst Du persönlich von Sherlock HoImes-Verfilmungen?
Ich habe mir mal die alten schwarz-weiß-Filme geholt und die sind so naja. Aber von der neuen Serie (BBC) habe ich mir nur die ersten drei Folgen angesehen. Das ist mir zu übereichnet. Diese Arroganz ist total übertrieben und die Figur in meinen Augen von den Machern völlig falsch verstanden. ln den originalen Geschichten ist Holmes nicht arrogant, im Gegenteil. Er schmunzelt über die Schwächen der Menschen, so wie wir alle, aber er reduziert es immer auf den sachlichen Gehalt. Es soll in der Serie nachher besser geworden sein, aber das habe ich mir nicht mehr angesehen. Holmes stellt sich nicht über die Menschen, er bettet sich gerne ein, indem er sich zum Beispiel als Bettler verkleidet. Das hat mit Arroganz nichts zu tun. Was allerdings sehr gut gemacht ist und wo der Drehbuchautor die Figur auch verstanden hat, ist im ersten Guy-Richie-Film. Das ist eine sehr gute moderne Umsetzung. Da ist alles drin was wichtig ist.
Du hast ja beruflich viel mit dem Tod zu tun; was sind Deine Gedanken zum Leben und zum Spiritismus wie zum Beispiel bei Conan Doyle?
Also, tot ist tot, aber ich bin offen für jede Art von Gedankenmodell, weil die Welt, die wir als Realität wahrnehmen, ein Konstrukt unseres Gehirns ist und es wäre lächerlich zu sagen, dass derjenige, der ein rationalistisches Weltbild hat wie SherlockHolmes eine realere Realität erlebt, als jemand, der Stimmen hört und Bäume umarmt. Die Frage ist her, welche Methode verwende ich, um Schlüsse zu ziehen. Und darum finde ich es bei Doyle so toll, dass er die Grenzen eingehalten hat. Also: "Woran glaube ich? Ich glaube an Elfen auf Fotos oder Feen. Ich glaube an spiritistische Sitzungen und Ektoplasma. Aber wenn ich Schlussfolgerungen ziehen, die ich darstellen will, zum Beispiel bei Sherlock Holmes, dann lasse ich das komplett raus, weil es da nicht reinpasst." Normalerweise sickert bei Autoren immer etwas aus ihrer eigenen Gedankenwelt ein. Zum Beispiel zeigt Stephenie Meyers TWILIGHT die Vampire als Mormonen. Kein Sex vor der ehe usw., im Grund sind das mormonische Vampire, weil die Autorin Mormonin ist. Das ist bei Doyle nicht der Fall, und das ist eine großartige Leistung.
Abschließend, was würdest Du sagen oder Deinen Studenten raten. Lest lieber Doyle anstelle des modernen Zeugs?
Also moderne Krimis lese und besitze ich nicht. Nicht, dass ich es als Trainer eines kriminalistischen Lehrgangs fordern würde, aber meine Meinung ist, dass man vor Beginn des Studiums mal alle originalen Sherlock Holmes-Geschichten gelesen haben sollte. Auch das Wiederauftauchen nach seinem angeblichen Tod - aus welchen Gründen auch immer, was ja auch in DALLAS und anderen Serien tausendfach verwendet wurde, dass der scheinbar Tote wieder aufersteht - ist eine gute Schule dafür, welche Wendungen kriminalistisch passieren können, eben durch Notwendigkeit: Dinge, die keinen Sinn ergeben, di aber trotzdem passieren. Ich kann jetzt nicht sagen, dass man das andere nicht lesen soll, ich kann aber sagen, dass Sherlock Holmes völlig ausreicht und es keinen Grund gibt, etwas anderes zu lesen.
Dem haben wir nichts hinzuzufügen. Vielen Dank für dieses Interview.
Mit herzlichem Dank an Ralf Bilke, Marcus Konrad und die Redaktion des Sherlock Holmes Magazins für die Freigabe und die Genehmigung zur Veröffentlichung.
Doktor Made mags einfach (Migros Magazin)
Quelle: Migros Magazin, Saisonküche, Nr. 6. 6. Februar 2012, Seiten 84-87
Doktor Made mags einfach
Die Fötzelschnitten der «Saisonküche» sind genau nach seinem Geschmack: einfach, gut und wohlriechend. Nur im Beruf mags Kriminalbiologe Mark Benecke gerne knifflig. Und gegen schlechte Gerüche ist er dann immun.
Text: Dora Horvath
Köln, Südstadt, Landsbergstrasse 16. «Dr.Mark Benecke - Consulting, Kriminalbiologische Forschung und Beratung» ist auf einem Messingschild an der Hausfassade zu lesen. Wir treffen uns an Beneckes Arbeitsplatz, einer zum Labor umfunktionierten Drei-Zimmer-Wohnung.
Sie befindet sich in der dritten Etage eines freudlosen Wohnblocks aus der Zeit des Wiederaufbaus der frühen Nachkriegsjahre. Beim Eintreten erfüllt ein dezenter Weihrauchduft aus Mark Beneckes dunkel möbliertem Büro die ganze Wohnung. Was für eine Überraschung für «Saisonküche»-Köchin Janine Neininger. Hatte sie doch vielmehr einen olfaktorischen Keulenschlag befürchtet, einen Geruch nach Verwesung, womit Mark Benecke (41) bei seiner täglichen Arbeit immer wieder konfrontiert ist.
«Hi! Soll ich Kaffee machen?», begrüsst er uns. Seine kölsche Kumpelhaftigkeit, die schwarzlederne Kluft, die Tattoos und die drei Silberringe passen nicht zum gängigen Klischee eines Naturwissenschafters seines Kalibers. Der vereidigte freiberufliche Sachverständige, der schon beim FBI und in der New Yorker Rechtsmedizin gearbeitet hat, gehört zu den renommiertesten Spurenkundlern und gefragtesten gerichtlichen Insektenforscher der Welt.
Zu seinem Job gehört es, an einem Tatort sämtliche biologischen Spuren zu untersuchen, unter anderem Insekten und Insektenlarven auf und um Tote.
Entsprechend publikumswirksam wird er in Talkshows, Radiosendungen und Vortragsreisen, die ihn immer wieder auch in die Schweiz führen, als «Dr.Made» gehandelt. Madenhirte ist ihm aber lieber. «Ich mag wirbellose Tiere. Überall da, wo es andere Leute eklig und gruselig finden, gibt es für mich Neues zu entdecken», erzählt Benecke. Während Janine Neininger in der Küche die Äpfel für das Kompott rüstet, ist plötzlich ein Zischen zu vernehmen.
Beneckes vielfach miteinander verschwägerte Madagaskar-Fauchschaben, die in einer grossen Plastikbox leben, sind am Erwachen. Die nachtaktiven Tierchen haben schon etliche Auftritte im Fernsehen hinter sich. Doch Mark Beneckes Beruf ist alles andere als spektakulär. Er löst keine Fälle und überführt auch keine Täter wie seine Berufskollegen in der TV-Serie «CSI». «Ich halte mich an die Fakten und vermeide es, die Fakten über das Faktische hinaus zu interpretieren.»
Oft beschäftigt er sich mit Fällen, die Jahre zurückliegen und wieder aufgerollt werden. Auftraggeber können ebenso verurteilte «Knackis», Angehörige, Opfer wie auch die Staatsanwaltschaft oder die Polizei sein. Beneckes Methode: alle bisherigen Erkenntnisse zurück auf null stellen, quer denken, zweifeln. Beispielsweise fragt er sich, ob die Insekten, die damals am Tatort eingesammelt und konserviert wurden, tatsächlich in der Gegend vorkommen. Oder ob das Verbrechen an einem anderen Ort geschah. «Erst wenn alles ausgeschlossen ist, was nicht sein kann, muss das, was übrig bleibt, stimmen. Egal, wie unwahrscheinlich es ist», zitiert er Arthur Conan Doyle, den Schöpfer von Sherlock Holmes. «Ich gehe mit dem Verstand eines Vierjährigen und mit der Verfassung eines dementen Greises an die Fälle heran.
Dazwischen gibt es nichts. Mir ist sowieso alles viel zu kompliziert.» Während er Janine Neininger verrät, dass er es auch beim Essen einfach mag, nehmen die Brote Farbe an. Gerade beim Einfachen zeigt sich die Kunst der professionellen Köchin: Die «Armen Ritter» sind picobello angezogen. Benecke beisst, bevor sie angerichtet sind, schon hingebungsvoll hinein. Nur eines gelingt Janine Neininger an diesem Tag nicht: dem waschechten Kölner beizubringen, dass es Fotzelschnitten und nicht Fötzelschnitten heisst.
Ich tüftle gern wie Sherlock Holmes
Quelle: Die Presse am Sonntag, Österreich, 7. Februar 2010, Seite 10
Zum Interview im Landtmann bringt er Schaben mit, und auch sonst ist er eher unkonventionell: Deutschlands bekanntester Kriminalbiologe, Mark Benecke, über Ekel, österreichische Ermittlungen und "postmortales Rumgklugscheißern"
VON TERESA SCHAUR-WÜNSCH
Sie haben gerade Schmarrn zum Frühstück bestellt. Sind Sie Vegetarier?
Mark Benecke: Ja, wegen so eines Falles, den ich mal hatte. Das war ein Blutspurenfall bei einem polnischen Mädchen, einer Prostituierten. Es war überall Blut, es war eklig, nein, erschütternd. Es brannten noch die kleinen Kerzen, die sie angemacht hatte für den Kunden. Aber ich hatte schon vorher wenig Fleisch gegessen.
Das heißt, es gibt doch noch Dinge, die Sie erschüttern?
Total. Bei dem Fall, an dem wir gerade dran sind, hat sich der Sohn den Kopf aus Versehen weggeschossen. Es ist traurig, mit dem Vater zu reden.
Was ist da passiert?
Der Vater ist der Meinung, dass die Polizei nicht ausreichend geklärt hat, dass es ein Jagdunfall war - dass sie nicht ausreichend untersucht hat, wie der Abzug betätigt wurde. Das Gewehr stand hochkant, und es ist an der Grenze zum Unmöglichen, den Abzug zu tätigen. Jetzt ist aber eine Besonderheit bei Jagdgewehren, dass der Abzug sehr sehr leicht geht. Da mussten wir dazulernen, dass es vielleicht schon reicht, wenn man mit Textilien ankommt. Dann hat er noch viele andere Fragen. Einer der Zeugen will den Schuss nicht gehört haben. In dem Moment ist aber auch ein landwirtschaftliches Gerät vorbeigefahren. Das heißt, da machen wir Experimente, wie laut ein Schuss im Vergleich zu dem Gerät ist. Ganz im Hintergrund steht die Frage, ob nicht doch jemand anders den Auslöser betätigt hat.
Das hat aber wenig mit den Insekten zu tun, auf die Sie spezialisiert sind?
Diese Fälle sind weit weg von dem, was wir ursprünglich machen. So etwas kommt immer mehr, weil wir die einzigen sind, die das als Freiberufler machen. Sonst ist ja niemand zuständig, die Polizei nicht - und auch die Richter nicht. Dieses Sherlock-Holmes-mäßige Tüfteln macht mir Spaß. Ich habe auch eine andere Sichtweise auf die Fälle, weil ich mehr auf die Spuren achte. Die sozialen Zusammenhänge raffe ich nicht: A hat gesagt, dass B gesagt hat, dass C einmal das gemacht hat. Das ist mir zu kompliziert, ich verstehe auch keinen Kinofilm, in dem mehr als drei Personen vorkommen.
Warum machen Sie immer mehr Tatortermittlungen?
Das Problem ist: In Deutschland gibt es keine Möglichkeit für die Leute nachzufragen. Ihr in Österreich habt hier wenigstens noch Berufsdetektive, mit Ausbildung und Zertifikat. Aber bei uns ist jeder, der will, Berufsdetektiv. Deshalb mache ich in komplizierten Fällen auch Beratungen. Neulich wollte ich bei einem Fall noch ein paar Details nachfragen - und dann saß der Vater von dem getöteten Kind da mit einer komischen Lippe. Und hat gesagt: "Ja, ich hab keine Zähne mehr, die sind mir nach dem Tötungsdelikt alle ausgefallen." Das war psychosomatisch.
Das geht?
Klar, so wie Leute auch kreisrunden Haarausfall haben können, oder Gelenkschmerzen. Alles stressbedingt. Aber darum geht es ja gar nicht, weil den Leuten ja etwas tausendmal Schlimmeres passiert ist. Das relativiert sich so, dass etwas, was in unserer Welt schon das Krasseste wäre, was einem so im Alltag passieren kann, überhaupt keine Rolle mehr spielt.
Wie kommen Sie an die Fälle?
Ein typischer Fall, wie wir ihn in letzter Zeit oft haben, ist, dass wir Akten kriegen, und dann sagt entweder der Angehörige oder der Staatsanwalt oder der Polizist oder Journalist: Guck mal, hier stimmt etwas nicht. Was, wissen wir nicht. Und dann gehen wir die Akten komplett durch. Da kamen zum Beispiel Leute mit Fußbodenbrettern an und sagten, die Ermittlungen in Österreich seien schlampig gelaufen.
Was war da los?
Ein Junge aus Deutschland ist im Winter nach Österreich gegangen, um als Saisonarbeiter bei einem Skilift zu arbeiten, und hat mit seinem Kumpel bei der Anlage gewohnt. Eines Tages war er weg. Sein Mitbewohner hat erklärt, er sei mit einer Frau verabredet gewesen, wahrscheinlich wäre er durchgebrannt. Dann ist ein halbes Jahr später, als der Schnee geschmolzen ist, in einem Bachbett unter einer Brücke die Leiche gefunden worden. Dann hieß es, er sei besoffen aus seiner Bude raus und von der Brücke gefallen - noch dazu barfuß und mit seiner Matratze. Die Eltern waren einfach nicht damit zufrieden und sind auf eigene Faust dort hin. Haben in dem Raum, in dem der Sohn mit seinem Kollegen gewohnt hat, auf dem Boden Spuren gefunden und wollten wissen, ob es Blutspuren sind. Und haben dann eigenhändig die Dielen - der Lift sollte ohnehin abgerissen werden - mitgenommen.
Wie ging das aus?
Der Fall ist noch einmal neu aufgerollt worden. Am Ende hat die Mutter des Mitbewohners gestanden, dass sie dabei war, als ihr Sohn den Jungen umgebracht hat. Dabei geht es nicht darum, dass wir die Antischlamp-Unit sind. Wir wissen, dass postmortales Rumklugscheißern witzlos ist. Wir versuchen, eine Spur zu finden und keinen Kommentar zum juristischen, kriminalistischen, kulturellen oder seelischen Kontext zu geben. Das funktioniert verrückterweise fast immer.
Gibt es Dinge, vor denen Sie sich ekeln?
Spinnen finde ich eklig. Mit unseren Untersuchungsobjekten hab ich aber kein Problem. Das sind für uns nur Spurenträger, für Insekten, Blut, Sperma und so weiter. Wir schauen uns auch nicht das Schicksal der Opfer an. Wir fragen nicht, war er gut, war er böse, hat er es sich selbst eingebrockt, gibt es Gott, ist das gerecht, ist das Schicksal?
Wie beurteilen Sie das Niveau der Spurenkundler in Österreich?
In Österreich habt ihr das Problem, dass ihr nur recht wenige Kriminaltechniker für kleine Bundesländer habt. Darum sind sie sehr fantasiereich, im guten Sinne. Zum Beispiel habe ich einmal mit einem Team zusammengearbeitet, das war nur zu dritt, hat sich aber einen Bus a la Inspektor Gadget zurechtgebaut. Das Niveau der Kriminaltechnik an sich ist im deutschsprachigen Raum absolut top, auch was Entwicklungen angeht. Aber weil die Amerikaner immer PR für sich machen, denken alle, die Amerikaner wären vorne.
Was man in "CSI" sieht, gibt es bei uns auch?
Oder gar nicht. Aber ich habe keinen Fernseher.
Was könnte die Polizei von Ihnen lernen?
Ich würde nicht sagen, dass sie etwas lernen muss. Was notwendig ist, ist, dass man miteinander redet. Wichtig wäre, dass man sich schon vor dem Fall kennt. Denn die Minuten, in denen überlegt wird, ob man uns anrufen soll, können entscheidend sein. Wenn eine Wasserleiche zum Beispiel aus dem Wasser gehoben wird, dann sind alle Tiere komplett verändert. Dabei hätten sie verraten, wie lange die Leiche an der Stelle lag. Wenn man die Spuren nicht sofort sichert, sind sie für immer verloren. Und eine Spur, die nicht gesichert ist, vermisst hinterher auch keiner.
Verfolgen Sie, wie die Fälle ausgehen?
Nur, wenn ich in der Zeitung darüberstolpere. Meine Meinung ist: Mich geht es nichts an. Man muss sich das Sammelsurium an Freaks vorstellen, mit denen wir zu tun haben. Zum Beispiel ist in einem schwulen S&M-Club mal einer aus Versehen zu Tode gekommen. Es macht aber Spaß, diese verschiedenen Lebenswelten zu berühren, weil man alle Vorurteile verliert, wenn man überhaupt noch welche hatte. Du merkst, im Grunde - ausgelutschtestes Statement aller Zeiten - sind die Menschen wirklich überall gleich. Ich arbeite ja in vielen Ländern, auf den Philippinen, in China, sehr oft in Kolumbien. Die kleinen Unterschiede relativieren sich so stark - wie die ausgefallenen Zähne im Fall der ermordeten Tochter, die am Dachstuhl des eigenen Hauses festgenagelt war.
Ich sehe das wie Sherlock Holmes
2009-06-10 Neue Presse: Ich sehe das wie Sherlock Holmes
Quelle: Neue Presse, So! Gespräch, Samstag, 10. Juni 2009, Seite 3
Ich sehe das so wie Sherlock Holmes
VON CHRISTIAN PACK
Er ist Vorsitzender der Deutschen Dracula-Gesellschaft und Mitglied des Komitees des Nobelpreises für kuriose wissenschaftliche Forschungen. Vor allem ist er aber einer der bekanntesten Kriminalbiologen der Welt: Mark Benecke. Im Sonntagsgespräch redet der Kölner über Detektivarbeit mit Hilfe von Maden, kuriose Kriminalfälle und lustige wissenschaftliche Arbeiten
So!: Herr Benecke, als Kriminalist, Biologe und gefragter Fachmann für Forensik beschäftigen Sie sich mit dem „Lebensraum“ Leiche. Was genau tun Sie?
Mark Benecke: Ich untersuche Insekten, Maden, Käfer und Fliegen, die sich auf einer Leiche angesiedelt haben. Aus der Größe und dem Entwicklungsstadium der Tiere kann ich darauf schließen, wie lange sie schon auf der Leiche leben. Das gibt mir einen Hinweis auf den Todeszeitpunkt. In der Regel sind das Spuren, die mit einem Verbrechen zusammenhängen. Nicht nur, um Täter zu überführen, sondern auch, um Verdächtige zu entlasten.
Also werden Sie nicht nur von der Polizei gerufen?
Nicht unbedingt. Es kann die Polizei sein oder der Staatsanwalt. Das können aber auch Knackis oder Angehörige der Knackis sein. In einem aktuellen Mordfall geht es beispielsweise um einen Verdächtigen, dessen DNA-Spuren in der Wohnung des Opfers gefunden wurden. Er behauptet, er habe dem Opfer seit Jahren die Zeitung geliefert und deswegen seien die Spuren dort. Das muss ich dann überprüfen. Bevor ich anfange, stecke ich aber immer erst die Grundzüge ab. Ich sage den Verurteilten dann immer: „Ich werde mir alle Spuren genau anschauen. Deshalb sagen sie mir jetzt bitte die Wahrheit!“ Denn viele Angehörige kratzen für so eine Untersuchung viel Geld zusammen.
Wie kann man sich Ihren Arbeitsalltag vorstellen?
Das kommt auf den Fall an. Wenn der Tatort noch existiert, gehe ich auf Spurensuche. Wie sind die Blutspuren verteilt? Kann man Spuren für genetische Fingerabdrücke finden? Oder ich gucke mir die Akten an und versuche etwas aus den Verdächtigen und den Angehörigen rauszubekommen.
Sind Sie dabei manchmal auch eine Art Seelsorger?
Nein, den therapeutischen Aspekt lasse ich ganz weg. Beispielsweise hatten wir nach der Tsunami-Katastrophe mehrere Fälle, als betroffene Eltern behauptet haben, dass ihre Kinder gar nicht tot seien, sondern nur entführt. Da brechen wir die Spurensuche ab, versuchen uns auch nicht als Therapeuten. Aber wir legen den Eltern oder Großeltern nahe, mit einem Seelsorger zu sprechen.
Kann man eigentlich bei allen Fällen neutral bleiben?
Das muss man. Ich kann die Trauer der Menschen durchaus verstehen. Aber wenn man nicht neutral bleibt, kann man den Job nicht machen.
Es ist also eine ganz normale Arbeit für Sie?
Ich mache die Arbeit einfach gerne und sehe das so wie Sherlock Holmes: Es interessiert mich einfach. Und als Freiberufler bekomme ich auch das, was ich suche: die kniffeligen Fälle, bei denen die anderen Institute abwinken, weil sie diese zu bescheuert finden.
Wie sehr interessiert Sie der kriminalistische Hintergrund?
Den bekomme ich oft gar nicht mit. Ich weiß meist nicht, wie die Fälle vor Gericht verhandelt werden. Also, es ist so: Ich interessiere mich natürlich für Kriminalfälle, aber eben nie für den Ausgang der Prozesse, für die ich gearbeitet habe. Da muss man wirklich ganz scharf trennen.
Sie haben noch ganz andere Interessensgebiete. Beispielsweise sind Sie Mitglied des Komitees des „Nobelpreises für kuriose wissenschaftliche Forschungen“. Was kann man darunter verstehen?
Wir vergeben seit 15 Jahren den Preis an lustige, aber ernst gemeinte Forschungsprojekte mit echtem wissenschaftlichen Hintergrund. In den allermeisten Fällen wurden die Arbeiten in hochseriösen Fachblättern publiziert. Die Preisverleihung findet jährlich an der Universität Harvard statt. Wenn es zeitlich passt, fliege ich dorthin. Das ist immer eine lustige, kauzige, bescheuerte Veranstaltung mit verrückten Leuten.
Kann man sich als Wissenschaftler bewerben?
Wir erhalten immer tonnenweise Vorschläge, aber selbst bewerben sich die wenigsten Forscher. Die Wissenschaftler merken ja meist nicht, wie lustig ihre Arbeit auf andere wirkt. Ein Professor hat seinen Studenten beispielsweise mal Kaulquappen zu essen gegeben, um evolutionsbiologische Paarungs- und Tarnungsstrategien aufgrund des Geschmacks im Vergleich zur Hautfärbung der Tiere zu erklären. Das Bild, dass Studenten unzählige Kaulquappen zu sich nehmen mussten, fanden wir total witzig. Der Kollege hat natürlich den wissenschaftlichen Hintergrund gesehen. Es soll ja im Prinzip beides abgedeckt werden. Deshalb sagen wir immer: Erst lachen, dann denken!
Anfangs gab es auch einige Gewinner, die den Preis nicht annehmen wollten. Wie sieht es heute aus?
Mittlerweile freuen sich die meisten, die den Preis bekommen. Wenn überhaupt, ist das prestigeförderlich. Lustig und cool fanden es die Leute eigentlich immer.
Gibt es aktuell witzige Vorschläge?
Die gibt es immer wieder. Zum Beispiel hat ein niederländischer Wissenschaftler an seinem Arbeitsplatz beobachtet, wie eine männliche Stockente gegen sein Museum krachte und tot zu Boden fiel. Kurz darauf kam ein anderer Enterich und begann den Kadaver zu begatten. 75 Minuten lang. Der Kollege berichtete, dass auch nach anderen Studien bis zu 20 Prozent aller Entenpaarungen homosexuell verlaufen und verfasste eine wissenschaftliche Arbeit darüber.
Haben derartige Untersuchungen eigentlich einen Sinn?
Klar, immer. Und abgesehen davon: Lachen hat meiner Meinung nach immer einen Sinn.
Kurz und knapp
Mark Benecke, 39, wurde in Rosenheim geboren. Nach dem Studium der Biologie, Zoologie und Psychologie an der Universität Köln absolvierte er diverse polizeitechnische Ausbildungen im Bereich der Gerichtsmedizin in den USA und arbeitete unter anderem in Manhattan. Benecke wird als Sachverständiger herangezogen, um biologische Spuren bei Gewalt verbrechen mit Todesfolgen auszuwerten. Benecke untersuchte auch Adolf Hitlers mutmaßliche Schädeldecke und Gebiss. Er veröffentlichte mehrere populärwissenschaftliche Bücher, unter anderem über die Kriminalbiologie und das Altern aus biomedizinischer Sicht. Er ist Ausbilder an deutschen Polizeischulen sowie Gastdozent in den USA, Vietnam, Kolumbien und auf den Philippinen.
2003 SeroNews /(1): Ein Ausflug zum Sherlock
Quelle: SeroNews 7(1):20-22 (2002)
Nachtrag zur Jahrestagung der Dt. Ges. f. Rechtsmedizin (DGRM) in Interlaken 2001
Von Mark Benecke
Von den einen als Mut machend, spannend, tiefschürfend, originell und lehrreich empfunden, von anderen mit plakativer Absens bedacht -- das war einer der interessanten Aspekte der Jahresversammlung der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin in Interlaken (September 2001). Das ungewöhnliche Programm, zu dem Prof. Dirnhofer neben einem exzellenten Wirtschafts- und Management-Experten auch einen Bergführer als Redner geladen hatte, war in der Tat und im besten Sinne bewußtseinserweiternd.
Ungewöhnlich war, dass nur wenige TeilnehmerInnen für die skurrilen Freizeit-Angebote zu haben waren: Unter anderem konnte man per Bahn auf einen Gletscher fahren und dann auch noch in diesen hineingehen. Die mangelnde Beteiligung lag wohl daran, dass es während des Kongressprogrammes keine Sekunde Freizeit gab. Im Namen der SeroNews hat der Autor daher am Tag seiner Abfahrt eine halsbrecherische Tour nach Meiringen unternommen, das dem Tagungsort zwar nahe liegt, aber nur durch eine schon unwirklich pittoreske Bahn-Fahrt zu erreichen ist. Dort brausen die Wasserfälle, in denen Sherlock Holmes zu Tode gekommen ist. Außerdem gibt es ein kleines Museum, das aus unerklärlichen Gründen im Keller einer alten Meiringer Kirche liegt.
Das Museum wird von einer gutmütigen Dame behütet, die je nach Besucherzahl (es befinden sich offenbar nie mehr als drei bis vier im Museum) ein japanisches, stark englisches oder deutsches Band laufen lässt, das den Staunenden erklärt, was im Wohnzimmer des Sherlock zu sehen ist. Wohnzimmer? Richtig -- im Kirchenkeller ist mit viel Liebe ebendieses aufgebaut, samt aller Utensilien wie einer originalen Zeitung von einst, der Nachdenke- und Drogenrausch-Liege des Detektives, seinem Schreibtisch, alten Büchern, Pfeife, Tabak und so fort. Wie die Museumshüter es geschafft haben, die Bude so gemütlich und verstaubt nachzubilden, dass sie hundertprozentig echt wirkt, ist ein Rätsel. Vielleicht ist es doch das echte Zimmer?
In einem kleinen Vorraum stehen Orden von Watson aus dem Wüstenkrieg sowie vor allem der Spazierstock des in den Tod gestürzten Holmes. Wie die SeroNews-LeserInnen wissen, ist der Stock das einzige Zeichen, das nach dem Kampf an den Reichenbach-Fällen übrigblieb, als unseres mutiger Detektiv mit seinem Erzfeind Moriarty in die donnernde Tiefe stürzte.
Doch genug der Worte (vor allem der Adjektive) -- eine kleine Bilder-Serie soll allen, die den wunderschönen Weg nach Meiringen in diesem Leben nicht mehr antreten, einen kleinen Eindruck davon geben, wie einer von uns gelebt und gestorben ist (bevor er dann wegen LeserInnen-Protest noch einmal auferstehen musste).
Übrigens, falls die SeroNews-LeserInnen es wünschen, werde ich an dieser Stelle auch gerne verraten, was Arthur Conan Doyle, der Schöpfer Holmes’, mit dem Zauberkünstler Houdini zu tun hatte, und warum die beiden sich erst sehr mochten, dann aber bis zu ihrem Tod aus dem Weg gingen.
Aufforderungen ggf. bitte an forensic@benecke.com.