Brillanz im Schlafrock

2016 05 Kleine Zeitung Graz: Brillanz im Schlafrock
Quelle: Kleine Zeitung Graz, Sonntagsmagazin, Ausgabe vom 15. Mai 2016, Seiten 12 bis 13

Von: Susanne Rakowitz
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Da pfeift er drauf: Gewohnte Pfade sind seine Sache nicht. Meisterdetektiv Sherlock Holmes und seine Logik sind noch immer aktuell. Ein Experte nimmt ihn unter die Lupe.

Glühende, Funken sprühende Augen in finsterer Nacht, irgendwo hinten, im Nebel, hört man das tiefe, dunkle Knurren eines Untiers. Die Gänsehaut kommt, die Augen weiten sich, das Herz rast – eine Geschichte, die punktgenau den Nerv des viktorianischen Zeitgeistes und der Leserschaft trifft. Märchen, Monster, Mythen! Da hilft nur mehr ein Mirakel, um aus dieser Situation noch einmal heil herauszukommen. Doch Lektion Nummer 1: Wunder gibt’s nicht. Und ein großer, hagerer Mann namens Sherlock Holmes bringt Licht in die ohnehin dünne Nebelsuppe: Das Untier entpuppt sich in „Der Hund von Baskerville“ – eine der populärsten Sherlock-Holmes- Geschichten – als halb verhungerter Bluthundmischling, angepinselt mit einem Phosphorpräparat, losgelassen im Moor. Eben noch hat der Leser alle Dämonen zwischen Himmel und Hölle beschworen, hat Holmes ihnen den Teufel schleunigst ausgetrieben – mit einer höchst gefährlichen Waffe – der Wissenschaft.

Wir schreiben das Jahr 1887: Der britische Arzt Arthur Conan Doyle schwingt die Feder und erfindet den legendären Detektiv Sherlock Holmes. Ein Eigenbrötler, gewiss, aber einer, der auch 130 Jahre nach seinem ersten Auftritt noch die Menschen begeistert. Nicht mit Charme, sondern mit Intellekt – und das in einer hoch technisierten Welt. „Arthur Conan Doyle und Edgar Allan Poe haben den modernen Detektiv, den naturwissenschaftlichen Kriminalisten, den wir noch heute kennen, eigentlich erfunden“, so der bekannte deutsche Forensiker und ausgewiesene Sherlock-Holmes-Experte Mark Benecke, der den Meisterdetektiv längst als wichtigen Impulsgeber für sich entdeckt hat.

Es werde Licht!

Mit der Erfindung von Holmes, einem ehemaligen Chemie-Studenten, der die Lust am Wissen geradezu zelebriert, stellt Doyle die Wissenschaft ins Rampenlicht und vertreibt so die Irrlichter der düsteren viktorianischen Zeit. Es ist eine ganze Reihe von kriminalistischen Herangehensweisen und Prinzipien, die die Logik von Holmes so einzigartig macht – die wohl berühmteste ist die sogenannte Deduktion, auch Ausschlussprinzip genannt. Salopp gesagt, zäumt Holmes dabei das Pferd von hinten auf: Er beginnt nicht mit der klassischen „Wer war es?“-Frage, sondern mit „Wer war es nicht?“. Schritt für Schritt wird das ausgeschlossen, was nicht sein kann – das, was übrig bleibt, stimmt – auch wenn es noch so unwahrscheinlich ist. Oder in seinen Worten: „Es gibt nichts Trügerisches als eine offensichtliche Tatsache“ (Das Geheimnis von Boscombe Valley).

Diese Vorgehensweise hat sogar Semiotiker (Experten der Wissenschaft der Zeichen) beeindruckt – darunter Umberto Eco und Thomas A. Sebeok, letzterer vergleicht die Holmes-Methode sogar mit jener von Charles S. Peirce, dem Gründungsvater moderner Semiotik. Ein erstaunlicher Fußabdruck für eine Romanfigur. Aber mit einem realen Vorbild: Joseph Bell, Dozent des Holmes-Erfinders und dessen späterer Vorgesetzter an der Universität von Edinburgh. Schon zu Lebzeiten war der Mediziner berühmt für die Exaktheit seiner Diagnosen. Doyle setzt ihm mit dem Meisterschnüffler ein Denkmal: „Der Held behandelte Verbrechen so, wie Dr. Bell Krankheiten behandelte.“

Aber Holmes ist keinesfalls nur ein Theoretiker – ganz im Gegenteil: „Die meisten Leute, die Sherlock Holmes nicht gelesen haben, glauben, er macht reine Deduktion, also reine logische Ableitungen, aber das stimmt gar nicht“, betont Mark Benecke, für den Holmes als Berufskollege durchgeht: „Er ist ein ganz klassischer Forensiker. Und wir als Forensiker sind immer vor Ort, verlassen uns nicht auf die Intuition – gerade weil wir wissen: Jeder ist zu allem fähig und du kannst keinem was glauben – niemandem.“

Selbst sehen, selbst probieren

Ein Praktiker, der alles selbst sehen und ausprobieren muss. Dafür geht Holmes schon einmal in eine Opiumhöhle oder schlüpft in die Rolle eines Bettlers. Angewandte Wissenschaft in bestem Sinne. Nicht zu vergessen eine seiner wichtigsten Leitlinien: „Die kleinen Dinge sind unendlich wichtig.“ Und selbstredend hält man den inneren Ratefuchs auf Abstand: „Nein, nein, aufs Raten lasse ich mich nie ein. Das ist eine empörende Angewohnheit – verderblich für das logische Denken!“

Doch einen wichtigen Punkt darf man bei Sherlock Holmes nicht außer Acht lassen – die Versenkung, das natürliche Schmiermittel seiner Logik. Tagelang zieht sich der Meisterdetektiv zurück, spielt im Schlafrock Geige, lässt seinen Geist flanieren. Sein Kompagnon Doktor John Watson beschreibt dieses Abdriften als notwendigen Motor für dessen Brillanz: „Zwischen äußerster Schlaffheit und alles verzehrender Energie pendelte seine Natur hin und her, und seine Kräfte zeigten sich am deutlichsten, wenn er tagelang zwischen seinen Folianten gehockt und auf der Geige improvisiert hatte.“ Management-Experten von heute sehen das vermutlich nicht anders. Gerade hier könnte man ansetzen, um den eigenen inneren Sherlock zu erwecken.

Auch ein Blick in die 56 Kurzgeschichten und vier Romane können nicht schaden. Für Benecke ist das Alltag, er nennt die Holmes-Geschichten Sachliteratur, sie haben einen Fixplatz in seinem Labor: „Du kannst alles daraus lernen – jedes Lehrbuch der naturwissenschaftlichen Kriminalistik, das ich kenne, kann man komplett durch die Sherlock-Holmes-Geschichten ersetzen.“ Der Meisterdetektiv sieht es pragmatisch: „Die Wissenschaft von Deduktion und Analyse lässt sich wie andere Künste nur durch ausgedehntes und geduldiges Studium erlernen. Ein Leben ist nicht lang genug, als dass der Sterbliche je höchste Vollkommenheit darin erreichte.“ Zumindest könnte man ja einmal damit beginnen.

Mit herzlichem Dank an Susanne Rakowitz und die Redaktion für die Freigabe und die Genehmigung zur Veröffentlichung.


“Der Madendoktor”

Kölner Medienpreis | 2004