Quelle: The Baker Street Chronicle (2)7, Seiten 12 bis 13 (2012)
VON OLAF MAURER
Hallo Mark, Du bist von Anfang an Mitglied in der Deutschen Sherlock-Holmes-Gesellschaft. Wie siehst Du Deine persönliche Beziehung zu dem berühmtesten Detektiven aller Zeiten?
Alle kriminalistischen Regeln, die ich anwende, finden sich bei Sherlock Holmes, und das fand ich, als ich es bemerkte, ganz persönlich strange und gruselig, jetzt aber saucool. Endlich bin ich nicht mehr alleine der Kauz, der so komisch querdenkt und in der Schule als einziger (kein Scherz, war ‘ne echte Umfrage in unserer Schule) Chemie gut fand! ;)
Natürlich ist das mit den kriminalistischen Regeln kein Zufall, denn mehrere Regeln sind altbekannt und implizit sozusagen eine Job-Beschreibung, einige sind aber auch neu oder zumindest so originell, daß ich ihren Ursprung nicht kenne und sie mal auf den juten Sherlock datiere.
Beispiel:
Während in Krimis oft das Einschlußprinzip verwendet wird (gibt‘s auch bei Holmes: „There is nothing like first-hand evidence.‘ -- Study in Scarlet), ist es aber oft genug (bei Holmes) auch andersrum, und das ist sehr aufregend und wichtig, da es genauso beweiskräftig ist:
Erst wenn man alles ausgeschlossen hat, was nicht sein kann, muß das, was übrig bleibt, stimmen, egal wie unwahrscheinlich es ist.
Dieser Satz kommt bei Holmes öfters und in Varianten vor, und man könnte Tage damit verbringen, ihn auszulegen. Er nimmt alles Mögliche vorweg, beispielsweise das Falsifikationsprinzip von Popper und schließt einiges Ungemütliche ein, beispielsweise, daß es nicht so ganz einfach ist, alles auszuschließen. Am wichtigsten im kriminalistischen Alltag: daß man nie fragen soll, was wahrscheinlich ist oder lebensnah. Das führt Annahmen ein, und die führen dann zu zwar logischen, aber auf einer falschen Grundannahme beruhenden Gedankenkette:
Man kann solche Zitate eigentlich gar nicht genug erwähnen. Das Dumme ist nur, daß man beim ersten Lesen gar nicht rafft, how very elementary far beyond any poetic truth das alles wirklich ist (zumindest habe ich es am Anfang nicht gerafft).
Ich nehme jetzt einfach wenige, relativ bekannte Zitate von einer der zahlreichen Sherlock-Holmes-Zitate-Seiten im Internet:
a.
You see, but you do not observe. The distinction is clear.‘ (SCAN)
Kommentar: Man liest dieses Zitat, aber man versteht es nicht. Ein großer Unterschied ;) – Wie am Tatort: Alles voll Blut, aber man muß die Besonderheiten in diesem Meer an Selbstverständlichkeit (Halswunde: Blutaustritt: langweilig) erstmal erkennen, etwa Blut an einer zwar erwartbaren Stelle, aber unerwartbar geformt.
b.
He [Holmes] loved to lie in the very centre of five millions of people, with his filaments stretching out and running through them, responsive to every little rumor or suspicion of unsolved crime. (RESI)
Das trifft beispielsweise im Knast zu. Wenn man da mit einer Person redet, redet man eigentlich mit allen. Es ist ein Netz, in dem viele Taten miteinander zu tun haben, in dem es Kontakte nach innen und außen gibt und in dem die Einzeltat wirklich kaum eine Rolle spielt und man versuchen muß, die jahrelangen Verbindungen der Menschen dort zu verstehen. Ich höre also oft und gerne einfach zu.
c.
‚My mind is like a racing engine, tearing itself to pieces because it is not connected up with the work for which it was built.‘ (TWIS)
„My mind,“ he said, „rebels at stagnation. Give me problems, give me work, give me the most abstruse cryptogram or the most intricate analysis, and I am in my own proper atmosphere. I can dispense then with artificial stimulants. But I abhor the dull routine of existence. I crave for mental exaltation. That is why I have chosen my own particular profession,—or rather created it, for I am the only one in the world.“ (SIGN)
Kenne ich. Mir ist nie langweilig, ich finde immer was zu tun, notfalls putze ich oder sortiere Kram um. Befriedigend und beruhigend ist es aber nur, komplizierte Spuren zu untersuchen.
d.
‚Nothing clears up a case so much as stating it to another person.‘ (SILV)
‚I confess that I have been blind as a mole, but it is better to learn wisdom late than never to learn it at all.‘ (TWIS)
Ohne meine StudentInnen, MitarbeiterInnen und auch das Publikum bei öffentlichen Vorträgen wäre ich echt aufgeschmissen. Beim Reden werden ganz andere Gehirnbereiche aktiv und viel mehr Verbindungen geknüpft. Wichtig dabei: man muß die anderen Menschen wirklich respektieren und darf NIEMALS glauben, man wäre schlauer. Die meisten Menschen denken aber, daß sie im Kern korrekte und sinnvolle Ansichten haben, viele andere Menschen aber nicht. Über die bin ich also regelrechter Menschenfreund geworden, der gerafft hat, wie cool und wertvoll und oft auch stark andere wirklich sind.
‚A man should keep his little brain attic stocked with all the furniture that he is likely to use, and the rest he can put away in the lumber-room of his library where he can get it if he wants.‘ (FIVE)
Interpretiere ich so, daß man zwar neugierig sein soll und wissen, wen man als Experten fragen kann, aber nicht wie in manchen modernen TV-Krimis (CSI) ein Alleskönner sein soll -- es ist viel besser, sich mit wenigen Dingen im Speziellen auszukennen und für den Rest jeweils angepaßte Teams zusammenzustellen und dort offen und einzelfallbezogen zusammenzuarbeiten.
e.
‚It has long been an axiom of mine that the little things are infinitely the most important.‘ (IDEN)
‚It is, of course, a trifle, but there is nothing so important as trifles.‘ (TWIS)
Ist mein Leben.
Nach Deiner Einführung geht es um die Frage bzw. den Umstand, daß Holmes auf Leichen einschlägt, um die Entwicklung von blauen Flecken bei Leichen zu erforschen. (STUD) Wie stehst Du zu solchen Methoden, zu solchen Wegen zur Erforschung von gewissen Umständen?
Da stehe ich sehr zu. Beispielsweise gab es mal einen Bericht darüber, daß der DNA-Gehalt in Strangmarken verändert sein sollte. Das ließ uns keine Ruhe. Also sind ein Kollege und ich hingegangen und haben künstliche Strangmarken an Leichen erzeugt sowie vor allem ganz kleine Hautproben von Suizidenten, die sich erhängt hatten, entnommen.
Ergebnis: durch das Zusammendrücken der Haut ändert sich die Gewebedicke und das -gewicht, aber nicht der DNA-Gehalt pro Zelle.
Das sah man aber erst, als wir a. die Proben veraschten und b. eben den DNA-Gehalt bestimmten. Ergebnis Nummer zwei: der Artikel GRELLNER W & BENECKE M (1997) The quantitative alteration of the DNA content in strangulation marks is an artifact. Forensic Science International 89:15-20
Heute völlig undenkbar, da müßte man vermutlich erst Ethik-Kommissionen usw. befragen, die es evtl. trotz der Korrektur eines Fehlers, der sich bereits in die Fachliteratur eingeschlichen hatte, nicht erlauben würden.
Schon damals wehte ein komischer Wind, wenn man ins Labor Leichengewebe brachte oder einfach mal etwas TESTETE, anstatt immer nur nachzudenken: meine damalige Chefin hat die Hautproben, die ich noch weiter untersuchen wollte, eines Tages einfach weggeworfen. Hammer, ich wüßte bis heute noch spannende, wichtige Fragen, die wir an diesen Proben immer noch prüfen könnten, beispielsweise zur Genetik von Depressionen (ich bin Posterboy für ein Anti-Depressions-Netzwerk: frnd.de).
Engstirnigkeit oder Ekel sind da leider sehr schädlich. Findet Holmes ja auch:
„One‘s ideas must be as broad as Nature if they are to interpret Nature.“ (STUD)
Was wollte Holmes hier genau erforschen (1887)?
Antwort aus dem Original zusammengestellt:
„Holmes is a little too scientific for my tastes—it approaches to cold-bloodedness.(...) He appears to have a passion for definite and exact knowledge (...) but it may be pushed to excess. When it comes to beating the subjects in the dissecting-rooms with a stick, it is certainly taking rather a bizarre shape. [He does it] to verify how far bruises may be produced after death.“
Warum ist dies wichtig?
Wir schlagen (pun intended) uns öfters mit postmortalen Verletzungen rum. Die können vor Gericht tödlich (pun intended – again) sein. Typisches Beispiel: Ehegattin tot, Kratzer am Hals der Leiche, Ehemann kriegt ne fette Auszahlung der Lebensversicherung, die beiden haben sich oft gestritten, er hat kein Alibi.
Sehr dumm, wenn die „Kratzer“ erst nach dem Tod durch Schnecken entstanden sind oder durch Lagerung auf einem Ast, weil die Frau einfach nach einem (Blut)Sturz so hingefallen und liegen geblieben ist. Wirklich ein sehr realer Klassiker vor Gericht. Über sowas sind schon kollegiale Freundschaften zerbrochen, weil der Erstgutachter der Anklage helfen wollte und hinterher rauskam, daß es eben doch nur ein Fleck vom Stock oder ein Hautabrieb von der Schnecke war.
Wie würde man das heute tun – wie würdest DU das tun?
Genau so, wenn ich dürfte. Allerdings wäre es vermutlich illegal, so daß ich notfalls vor Gericht sagen müßte, daß ich das Experiment nicht machen durfte und daher nicht weiß, wie die Antwort lautet. Wenn’s sehr hoch hängen würde, würde ich es einfach im Ausland machen.
Beziehungsweise hättest Du zur damaligen Zeit ggf. ähnlich gehandelt?
Hundert Prozent ja.
Mit herzlichem Dank an Olaf Maurer und die Redaktion des Baker Street Chronicles für die Freigabe und die Genehmigung zur Veröffentlichung.
Das Copyright des im PDF abgebildeten Fotos von Mark Benecke liegt bei Thomas van de Scheck, dem wir an dieser Stelle ebenfalls recht herzlich für die und die Genehmigung zur Veröffentlichung danken!