Ich sehe das wie Sherlock Holmes

2009-06-10 Neue Presse: Ich sehe das wie Sherlock Holmes
Quelle: Neue Presse, So! Gespräch, Samstag, 10. Juni 2009, Seite 3

Ich sehe das so wie Sherlock Holmes
VON CHRISTIAN PACK

*© Photo by Sedar Mehder  

*© Photo by Sedar Mehder  

Er ist Vorsitzender der Deutschen Dracula-Gesellschaft und Mitglied des Komitees des Nobelpreises für kuriose wissenschaftliche Forschungen. Vor allem ist er aber einer der bekanntesten Kriminalbiologen der Welt: Mark Benecke. Im Sonntagsgespräch redet der Kölner über Detektivarbeit mit Hilfe von Maden, kuriose Kriminalfälle und lustige wissenschaftliche Arbeiten

So!: Herr Benecke, als Kriminalist, Biologe und gefragter Fachmann für Forensik beschäftigen Sie sich mit dem „Lebensraum“ Leiche. Was genau tun Sie?
Mark Benecke: Ich untersuche Insekten, Maden, Käfer und Fliegen, die sich auf einer Leiche angesiedelt haben. Aus der Größe und dem Entwicklungsstadium der Tiere kann ich darauf schließen, wie lange sie schon auf der Leiche leben. Das gibt mir einen Hinweis auf den Todeszeitpunkt. In der Regel sind das Spuren, die mit einem Verbrechen zusammenhängen. Nicht nur, um Täter zu überführen, sondern auch, um Verdächtige zu entlasten.

Also werden Sie nicht nur von der Polizei gerufen?
Nicht unbedingt. Es kann die Polizei sein oder der Staatsanwalt. Das können aber auch Knackis oder Angehörige der Knackis sein. In einem aktuellen Mordfall geht es beispielsweise um einen Verdächtigen, dessen DNA-Spuren in der Wohnung des Opfers gefunden wurden. Er behauptet, er habe dem Opfer seit Jahren die Zeitung geliefert und deswegen seien die Spuren dort. Das muss ich dann überprüfen. Bevor ich anfange, stecke ich aber immer erst die Grundzüge ab. Ich sage den Verurteilten dann immer: „Ich werde mir alle Spuren genau anschauen. Deshalb sagen sie mir jetzt bitte die Wahrheit!“ Denn viele Angehörige kratzen für so eine Untersuchung viel Geld zusammen.

Wie kann man sich Ihren Arbeitsalltag vorstellen?
Das kommt auf den Fall an. Wenn der Tatort noch existiert, gehe ich auf Spurensuche. Wie sind die Blutspuren verteilt? Kann man Spuren für genetische Fingerabdrücke finden? Oder ich gucke mir die Akten an und versuche etwas aus den Verdächtigen und den Angehörigen rauszubekommen.

Sind Sie dabei manchmal auch eine Art Seelsorger?
Nein, den therapeutischen Aspekt lasse ich ganz weg. Beispielsweise hatten wir nach der Tsunami-Katastrophe mehrere Fälle, als betroffene Eltern behauptet haben, dass ihre Kinder gar nicht tot seien, sondern nur entführt. Da brechen wir die Spurensuche ab, versuchen uns auch nicht als Therapeuten. Aber wir legen den Eltern oder Großeltern nahe, mit einem Seelsorger zu sprechen.

Kann man eigentlich bei allen Fällen neutral bleiben?
Das muss man. Ich kann die Trauer der Menschen durchaus verstehen. Aber wenn man nicht neutral bleibt, kann man den Job nicht machen.
Es ist also eine ganz normale Arbeit für Sie?
Ich mache die Arbeit einfach gerne und sehe das so wie Sherlock Holmes: Es interessiert mich einfach. Und als Freiberufler bekomme ich auch das, was ich suche: die kniffeligen Fälle, bei denen die anderen Institute abwinken, weil sie diese zu bescheuert finden.

Wie sehr interessiert Sie der kriminalistische Hintergrund?
Den bekomme ich oft gar nicht mit. Ich weiß meist nicht, wie die Fälle vor Gericht verhandelt werden. Also, es ist so: Ich interessiere mich natürlich für Kriminalfälle, aber eben nie für den Ausgang der Prozesse, für die ich gearbeitet habe. Da muss man wirklich ganz scharf trennen.

Sie haben noch ganz andere Interessensgebiete. Beispielsweise sind Sie Mitglied des Komitees des „Nobelpreises für kuriose wissenschaftliche Forschungen“. Was kann man darunter verstehen?
Wir vergeben seit 15 Jahren den Preis an lustige, aber ernst gemeinte Forschungsprojekte mit echtem wissenschaftlichen Hintergrund. In den allermeisten Fällen wurden die Arbeiten in hochseriösen Fachblättern publiziert. Die Preisverleihung findet jährlich an der Universität Harvard statt. Wenn es zeitlich passt, fliege ich dorthin. Das ist immer eine lustige, kauzige, bescheuerte Veranstaltung mit verrückten Leuten.

Kann man sich als Wissenschaftler bewerben?
Wir erhalten immer tonnenweise Vorschläge, aber selbst bewerben sich die wenigsten Forscher. Die Wissenschaftler merken ja meist nicht, wie lustig ihre Arbeit auf andere wirkt. Ein Professor hat seinen Studenten beispielsweise mal Kaulquappen zu essen gegeben, um evolutionsbiologische Paarungs- und Tarnungsstrategien aufgrund des Geschmacks im Vergleich zur Hautfärbung der Tiere zu erklären. Das Bild, dass Studenten unzählige Kaulquappen zu sich nehmen mussten, fanden wir total witzig. Der Kollege hat natürlich den wissenschaftlichen Hintergrund gesehen. Es soll ja im Prinzip beides abgedeckt werden. Deshalb sagen wir immer: Erst lachen, dann denken!

Anfangs gab es auch einige Gewinner, die den Preis nicht annehmen wollten. Wie sieht es heute aus?
Mittlerweile freuen sich die meisten, die den Preis bekommen. Wenn überhaupt, ist das prestigeförderlich. Lustig und cool fanden es die Leute eigentlich immer.

Gibt es aktuell witzige Vorschläge?
Die gibt es immer wieder. Zum Beispiel hat ein niederländischer Wissenschaftler an seinem Arbeitsplatz beobachtet, wie eine männliche Stockente gegen sein Museum krachte und tot zu Boden fiel. Kurz darauf kam ein anderer Enterich und begann den Kadaver zu begatten. 75 Minuten lang. Der Kollege berichtete, dass auch nach anderen Studien bis zu 20 Prozent aller Entenpaarungen homosexuell verlaufen und verfasste eine wissenschaftliche Arbeit darüber.

Haben derartige Untersuchungen eigentlich einen Sinn?
Klar, immer. Und abgesehen davon: Lachen hat meiner Meinung nach immer einen Sinn.


Kurz und knapp
Mark Benecke, 39, wurde in Rosenheim geboren. Nach dem Studium der Biologie, Zoologie und Psychologie an der Universität Köln absolvierte er diverse polizeitechnische Ausbildungen im Bereich der Gerichtsmedizin in den USA und arbeitete unter anderem in Manhattan. Benecke wird als Sachverständiger herangezogen, um biologische Spuren bei Gewalt verbrechen mit Todesfolgen auszuwerten. Benecke untersuchte auch Adolf Hitlers mutmaßliche Schädeldecke und Gebiss. Er veröffentlichte mehrere populärwissenschaftliche Bücher, unter anderem über die Kriminalbiologie und das Altern aus biomedizinischer Sicht. Er ist Ausbilder an deutschen Polizeischulen sowie Gastdozent in den USA, Vietnam, Kolumbien und auf den Philippinen.