Quelle: Spiegel, 18.Juli 2024
»Eklig« und »gruselig«: Spinnen haben ein Imageproblem – und keine Lobby. Der Biologe Mark Benecke erklärt, warum Sie trotzdem zögern sollten, bevor Sie den Staubsauger einschalten.
Aufgezeichnet von Veronika Silberg
Dass wir im Schlaf acht Spinnen pro Jahr verschlucken, ist Quatsch, aber ein Mythos, der sich hartnäckig hält. Genau wie Unbehagen und Angst beim Anblick der pelzigen Tierchen. Zu lange Beine, zu gruselig. Natürlich, da hilft nur der Staubsauger. Oder?
Aus dem Bundesnaturschutzgesetz geht streng genommen hervor: Nein. Es ist nicht okay, Spinnen zu töten. Dort steht: »Es ist verboten, wild lebende Tiere mutwillig zu beunruhigen oder ohne vernünftigen Grund zu fangen, zu verletzen oder zu töten.« Und auch der Biologe Mark Benecke findet: Die kleinen Tiere seien viel zu faszinierend, um sie einfach platt zu machen. Warum Spinnen trotz Phobie verschont werden sollten und wieso es bei der Beseitigung vor allem auf die Beinchen ankommt.
Frage für einen Freund
Wie wollen wir leben? Lieben? Unsere Kinder erziehen? Können wir die Welt vielleicht doch nicht retten? Wo beginnen Vorurteile? Es gibt unangenehme Fragen, die wir in Gesprächen ironischerweise manchmal so beginnen: »Frage für einen Freund«. In dieser Serie beschäftigen wir uns mit genau diesen Fragen. Wenn wir uns einen umweltunfreundlichen Urlaub gönnen möchten, wenn wir mitbekommen, wie ein Kollege ungerecht behandelt wird, wenn wir kein Trinkgeld geben wollen: Wie handeln wir dann möglichst richtig – oder falsch? Expertinnen und Experten helfen bei der Antwort – und Sie können abstimmen.
Das antwortet Mark Benecke:
»Ehrlich gesagt hole ich meistens meine Frau, wenn ich in unserer Wohnung eine Spinne entdecke. Ich selbst habe Sorge, ich könnte sie verletzen oder zerdrücken. Das passiert rasch. Achten Sie gerade bei großen Tieren besonders auf die Beine! Etwa bei Hauswinkel- und Kellerspinnen. Die haben wie alle Spinnen ein Außenskelett, wenn das kaputt ist, bleibt es kaputt. Und meist versuchen die sich mit ihren Beinchen irgendwie aus dem Glas herauszuwinden.
Die Spinne einfach töten? Mir ist völlig unklar, wieso man das machen sollte. Man muss andere Lebewesen nicht mögen – aber man kann sie doch trotzdem in Ruhe lassen. Mir ist bewusst, dass viele Menschen Angst vor Spinnen haben. Das sehe ich ein. Aber menschliche Angst und das Leben der Spinne müssen sich ja nicht ausschließen, finde ich. Nur, weil ich sie nicht in meiner Wohnung haben möchte, muss eine Spinne ja nicht sterben. Wenn das Tier unangenehme Gefühle bei mir auslöst, kann ich es einfach nach draußen tragen, wo es sich ein neues Zuhause suchen kann. Am besten ist es, wenn dort mehr als nur ein einzelner Zierbaum steht. Sie können die Spinne für den Transport auch in eine Pappschachtel mit Luftlöchern packen.
Oder Sie behalten Ihren neuen Mitbewohner. Es gibt Spinnen, die sehr gern in Wohnungen leben. Viele Zitterspinnen etwa, die Hauswinkelspinne oder die Kellerspinne. Gerade im Keller stören die niemanden. Meist leben die dort jahrelang, ohne dass wir es überhaupt mitbekommen. Machen Sie das Licht an und treten Sie laut auf, verstecken sich die großen Spinnen meist sofort. Die Tiere haben berechtigterweise mehr Angst vor Menschen als andersherum.
»Die Wahrscheinlichkeit, dass Sie hier auf eine ›gefährliche‹ Spinne treffen, ist in etwa so hoch, wie die Gefahr, dass Ihnen ein Ziegelstein auf den Kopf fällt.«
Zu befürchten haben Sie im Übrigen nichts. In Deutschland sind so gut wie alle Spinnen ungefährlich. Die Wahrscheinlichkeit, dass Sie hier auf eine ›gefährliche‹ Spinne treffen, ist in etwa so hoch, wie die Gefahr, dass Ihnen ein Ziegelstein auf den Kopf fällt. Wenn Sie jetzt über eine Stadt sprechen, betonen Sie auch nicht ständig das Risiko, von einem Ziegelstein erschlagen zu werden, oder? Sie sprechen darüber, wer in der Stadt lebt, welche Gebäude es gibt und wie das Wetter ist.
Spinnen sind beeindruckende Tiere. Darüber reden wir zu wenig. Persönlich fasziniert mich besonders, wie alt ihre Lebewesengruppe ist. Überlegen Sie mal, was diese Art schon alles miterlebt hat! Welche historischen und kulturellen Veränderungen. Vor Tausenden von Jahren sind auch schon Spinnen durch Wohnungen gekrabbelt. Ist es nicht großartig, dass eine so uralte Erbgutprogrammierung sich so lange durchgesetzt hat?
Mich überraschen Spinnen zudem immer noch. Zu Springspinnen etwa wird gerade viel geforscht: Sie können offenbar planen, sich mit anderen austauschen, sich erinnern – vielleicht sogar träumen . Wer sie zu Hause hält, kann sie auf seine Hand springen lassen und wieder zurück.
Wenn Sie dieser Gedanke gruselt, kann ich Sie beruhigen: Eine echte sogenannte Arachnophobie lässt sich behandeln. Sie können zu einer Psychologin oder einem Psychologen gehen, um sich das abzugewöhnen. Oder Sie testen gemeinsam mit Freunden eine Expositionstherapie. Man sieht sich das Tier genauer an und nimmt es langsam und vorsichtig auf den Arm. Meist bieten sich große, eher träge Spinnen an, weil sie nicht so schnell davon krabbeln. Je mehr sie beobachten und lernen, desto weniger Angst haben Sie. Mit mir studierte damals der heutige Leiter der Spinnen-Abteilung des Senckenberg-Museums Frankfurt am Main vorbei und hatte unserem Kurs eine Spinne mitgebracht. Am Anfang wollte keiner so richtig ran, aber spätestens nach zwanzig Minuten wollten sie alle mal anfassen. Am Ende musste man die Spinne vor den ganzen Studierenden retten.
Tatsächlich hat sich die Einstellung gegenüber Spinnen über die vergangenen Jahre hinweg stark verbessert. Neuerdings werden sie vor allem im Internet zunehmend beliebter. Springspinnen besonders, mit ihren dunklen Kulleraugen. Leider liegt die neue Freude an Spinnen jedoch auch daran, dass es schlicht weniger gibt als früher. Ihre Nahrung stirbt aus – und damit auch zahlreiche Spinnenarten. Wir leben in der Zeit des größten Artensterbens, seit es Leben auf der Erde gibt.
Klar, eine getötete Spinne macht da für manche keinen großen Unterschied mehr. Aber ist das nicht Grund genug, sich mit den Tieren zu beschäftigen, die um uns herum leben? Sehen Sie genau hin, solange Sie und die Spinnen noch da sind.«