Quelle: Stuttgarter Nachrichten, Fellbach & Rems-Murr-Kreis, 22. Januar 2024, Seite 17
Der Tatortspezialist und forensische Entomologe Mark Benecke fasziniert im ausverkauften Hölderlinsaal 1400 Menschen mit seiner kurzweiligen Schilderung einer Mordermittlung. Statt zu denken, setzt der 53-Jährige lieber auf Experimente mit echtem Blut.
VON MICHAEL KÄFER
FELLBACH. Für Andreas Mihatsch, den Tourveranstalter von Expedition Erde, ist Mark Benecke schlicht ein Phänomen. Der weltweit aktive forensische Entomologe hat am Freitagabend zum sechsten Mal in der Fellbacher Schwabenlandhalle Station gemacht, und einmal mehr hat die bunt gemischte, tendenziell jüngere und mehrheitlich weibliche Fangemeinde des schmächtigen Wahl-Kölners die 1400 Plätze im ausverkauften Hölderlinsaal gefüllt.
Wer allerdings seine Vorträge üblicherweise begleitet und mit dem Adjektiv „schauerlich“ höchst unzulänglich beschriebene Fotos von verfaulenden Leichen oder darauf krabbelnden Maden erwartet hatte, der war je nach Magenstabilität allerdings entweder erleichtert oder enttäuscht. Stattdessen entführte Benecke sein teils von weither angereistes Publikum in die fränkische Provinz, genauer gesagt in das Örtchen Gramschatz. Bereits der bildhaft geschilderte Weg dorthin bot ein Beispiel für die – in diesem Fall unbewusste – Komik, die einen Teil der Faszination von Mark Benecke ausmacht. Für den führerscheinlosen und fast stets mit öffentlichen Verkehrsmitteln reisenden Benecke , ist Gramschatz ein unbekannter Fleck auf der Landkarte „neben einer schnellen Straße“. Die vielen Autofahrer im Saal nahmen das mit Heiterkeit auf, denn ihnen ist die an der A7 gelegene Ausfahrt „Gramschatzer Wald“ bestens bekannt.
Was sich in dem 560 Einwohner umfassenden Ortsteil des Marktes Rimpar vor etlichen Jahren zugetragen hat, ist indes keineswegs erheiternd, sondern der Schauplatz eines bis heute ungesühnten Schwerverbrechens. Eine alte, pflegebedürftige Frau war in ihrer dortigen Wohnküche mit 50 Messerstichen ermordet worden. Schnell geriet die Tochter in Verdacht, denn das Haus schien verschlossen und anscheinend war keine andere Person zur Tatzeit anwesend.
„Wenn Sie ein geschlossenes Haus haben, einer lebt und einer ist tot, wer war dann wohl der Täter?“, fragte Mark Benecke sein Publikum und lieferte damit zugleich ein Beispiel für eine scheinbar offensichtliche, aber eben falsche Grundannahme, an der sich anschließend die eher lückenhaft geführten Ermittlungen orientierten. Folglich landete die Tochter im Gefängnis, und erst Jahre später kam Mark Benecke mit seinem Team ins Spiel, als eine Bekannte der Verurteilten eine erneute Untersuchung des Tatorts durchsetzte. Möglich war dies nur, weil die Tochter ihr Haus im damaligen Zustand belassen hatte.
Sogar der Kühlschrank lief noch, weil niemand den Strom abgestellt hatte. Schnell stellte sich heraus, dass stets ein Haustürschlüssel auf dem Fensterbrett lag, was ortsweit bekannt war. „Damit war das Urteil zu Pulver zerfallen“, sagte Mark Benecke. Mehr noch: „Es gab fünf problemlose Eingänge zu dieser Wohnung.“ Dennoch blieb der Richterspruch rechtskräftig.
Mark Benecke sicherte weitere Spuren, darunter blutige Fingerabdrücke, Handschuhe sowie Blut, das Fliegen in einen anderen Raum übertragen hatten. Ein anderes Zimmer war von den Ermittlern gar übersehen worden und völlig im Originalzustand. „Ich denke nicht“, sagt Mark Benecke, lieber sind ihm Messungen und Experimente. Auch damals stellte er den Messermord mit echtem Blut und echten Rippen nach. Das Ergebnis war, dass die eher untrainierte Verurteilte physisch gar nicht in der Lage gewesen wäre, ihre Mutter mit der stumpfen Tatwaffe durch die Bettdecke mit 50 Messerstichen zu ermorden.
Der Mörder ist demnach bis heute auf freiem Fuß. „Es wird kein Wiederaufnahmeverfahren geben. Die Frau wird ihr Leben als Muttermörderin verbringen“, sagte der Tat Tatortspezialist und verwies auf zahlreiche weitere Fälle nachweislich unschuldig Verurteilter. In den Vereinigten Staaten kommen nach seiner Kenntnis jedes Jahr zehn zu Höchststrafen verurteilte, aber nachweislich unschuldige Menschen wieder frei. 2014 wurde beispielsweise Ricky Jackson entlassen – nach 39 Jahren in Haft.