Die Tropen-Lösung

Quelle: brand eins, Wirtschaftsmagazin, 2. Jahrgang, Heft 02 März 2000, Seiten 76 – 82 (← klick hier für das .pdf)

Text und Foto: Corinna Bremer

Vietnam ist ein reiches Land. Reich an saftigen Reisfeldern und reich an Traumstränden, die die Touristen lieben. Reich an Tempeln und Palästen, reich an billigen Arbeitskräften.

“Vietnam ist anders als jeder andere Ort dieser Erde”, warnt der amerikanische Vertreter der Biotechnikfirma Amersham Pharmacia Biotech von Bangkok aus. “Vietnam ist die Hölle.”

Vietnam ist ein kommunistisches Land, das sich in Markwirtschaft übt, schon 15 Jahre lang.

1986 beschloss die kommunistische Regierung die Umkehr der Planwirtschaft zur wirtschaftlichen Liberalisierung und Öffnung, das Leitmotiv heißt seitdem Doi Moi (Erneuerung).

Vietnam ist ein tropisches Land. Sein Volk pflegt ein Wirtschaftsverhältnis, das den Lianen im Urwald gleicht: jede kleinste Chance wahrnehmen. Sich von Baumstamm zu Baumstamm schlingen, auch da noch einen Weg finden, wo es nicht mehr weitergeht.

Auch da wachsen, wo der Himmel nicht sichtbar ist.

Im Verborgenen blühen.

Dr. Pham Hung Van ist Mikrobiologe an der Universität für Medizin und Pharmazie in Ho-Tschi-minh-Stadt. In einem Land, wo ausländische Investoren 30 000 Mark Bestechungsgelder einplanen, um alle Kader für die Genehmigung eines Projekts überhaupt nur an einen Tisch zu bekommen, macht Pham Hung Van 20 000 Mark Umsatz im Monat. Ohne jede Firmenstruktur, aber mit internationalen Geschäftsbeziehungen. In einem Hinterzimmer der Universität.

Van steht einem Labor vor, in dem sieben Mitarbeiter Krankheiten diagnostizieren. Und er wartet auf ALF, den bisher größten Coup seiner kleinen Firma. ALF steht für Automated Laser Fluorescence Detection System, liefert Vaterschaftstests und genetische Fingerabdrücke und ist der Aufstieg in die molekularbiologische Zukunft. Und er, Pham Hung Van, wird damit arbeiten, wenn es ihm gelingt, das Ding aus dem Zoll zu eisen.

Es soll die Krönung seiner bisherigen Arbeit sein, einer erfolgreichen Arbeit. Sein Labor ist das molekularbiologische Labor der Universität. Sie wurde in den fünfziger Jahren von den Amerikanern gebaut, ein Zweckbaugeflecht mit Laubengängen. Es ist heiß; auf dem Campus blüht der Oleander. Ho Tschi-minh als Gipsbüste, die Augen überall. Vor dem Hauptgebäude weht die rote vietnamesische Flagge mit dem gelben Stern.

Das Uni-Labor ist ein gutes Geschäft.

Van weigert sich noch immer, in die Kommunistische Partei Vietnams einzutreten. Er ist 46 Jahre alt und ebenso friedlich wie stur. Im Vietnamkrieg hat er nicht gekämpft, sondern Medizin studiert, ein Universitätsangestellter mit 60 Mark Gehalt im Monat, der Vorlesungen halten sollte über Gene und Bazillen. „Aber Vorlesungen langweilen mich", sagt er und steigt behende über die Medizinstudenten, die in den Arkadenschatten Plastikplanen ausgelegt haben und Mittagsschlaf halten. Van öffnet sein Labor zum Rundgang, die Mitarbeiter schlafen. Auf Klappliegen, auf den Tischen, zwischen Pipetten und Petrischalen. Van läuft hin und her, zeigt und erklärt. Er ist das Hirn des Labors, er hat es aufgebaut, hier ist sein Reich.

Foto: Der Ingenieur Mark Benecke und der Mikrobiologe Pham Hung Van – zwei, die sich gefunden haben, um der vietnamesischen Bürokratie zu widerstehen.

Die PCR-Maschine kam zuerst, im Mai 1998, ein Geschenk der University of California, organisiert von einem Auslandsvietnamesen. PCR ist die englische Abkürzung für Polymerase-Kettenreaktion, mit diesem Verfahren kann man vorher bestimmte Teile der Erbsubstanz eines jeden Lebewesens beliebig oft kopieren. Auch die Erbsubstanz von Hepatitis-C-Viren. Damit hatte Van endlich die Möglichkeit, seine Diagnosen elegant und zeitsparend zu treffen: Er programmierte seine Maschine darauf, aus einer Blutprobe Viren-Erbsubstanz zu kopieren. Tat sie das tatsächlich, war das der Beweis dafür, dass in der Patientenprobe Krankheitserreger vorhanden waren. Die neuen Möglichkeiten berauschten Van, er wurde Experte im Fund-Raising für sein Labor und die Amerikaner spendeten bereitwillig. Vom „Social Assistance Program for Vietnam" stammen die Eismaschinen und Hochleistungskühlschränke, von der vietnamesischen Regierung sind die Zentrifugen finanziert. Van ist inzwischen in internationale Wissenschaftsnetze aufgenommen, die „Asian Pacific Research Foundation for Infectious Diseases" hat ihn ins Beratergremium gewählt. Er arbeitet viel, er ist ein guter Mikrobiologe, unersetzlich für die Universität. Er weiß sich zurechtzufinden: „Das ist leicht" ist seine Lieblingsphrase. „Er ist versessen auf Geld", sagen seine Bekannten. Das sind heutzutage alle in Vietnam. In den Industrieländern steht in jedem Kran-kenhaus ein Labor, wie Van es führt; im Ent-wicklungsland Vietnam ist es eine Schatzkammer. Für gleich vier Krankenhäuser, auch in der Hauptstadt Hanoi, diagnostiziert Van Hepatitis B- und C-Viren, Tuberkulose- und Helicobakter-Bakterien und die Erreger des Dengue-Fiebers. Vans grandiose Geschäftsidee: Er produziert die Chemikalien, mit denen man solche Untersuchungen überhaupt erst machen kann: Kits, also Bausätze mit verschiedenen Basis-Lösungen, die man zusammenmixt. Seine Mitarbeiterinnen füllen Schachteln mit Kits zur Fütterung der PCR-Maschinen, mit Kits zur Züchtung von Bakterien kulturell, mit Kits zur Identifizierung von Eitererregern. Dazu kopiert Van einfach die gängigen Produkte aus dem Westen und verkauft sie bis nach Zimbabwe, alles im Namen der Universität für Medizin und Pharmazie in Ho-Tschi-minh- 45 Stadt. Von den 20 000 Mark, die er monatlich einnimmt, zahlt er den sieben Mitarbeitern zwischen 140 und 520 Mark Gehalt im Monat, überlässt 3000 Mark der Universität und kauft für den Rest neue Basischemikalien. Sagt er.

Vietnam ist ein rückständiges Land. Van betont das sehr gern. Ein Reis- und Kaffee-Exporteur und keine Hightech-Industrienation wie die nahen Tigerstaaten Taiwan, Singapur und Süd-Korea, die die meisten Direktinvestitionen in Viet-nam angeschoben haben. „Vietnamesen könnten es sich nicht leisten, jedes Schräubchen aus dem Ausland zu importieren, sie müssten sich selbst helfen", sagt Van. „Und wenn ich West-Produkte kopiere, dann sind meine Chemikalien nicht nur viel preiswerter, sondern auch besser: zum Beispiel die Gummistöpsel hier", sagt er listig und zeigt auf kleine Gläschen mit Stopfen, „die werden bei der Hitze nicht brüchig. Meine Produkte sind dem Klima von Süd Vietnam angepasst!"

Foto: Erstsemester der Universität von Ho-Tschi-minh-Stadt geben ihre Speichelproben ab – gerade haben sie gehört, was genetische Fingerabdrücke im Clinton-Lewinsky-Fall auszurichten vermochten.

Alles wird gut, wenn erst ALF da ist.

Van genügt das bloße Abkupfern nicht: Die Forscherlust hält ihn im Labor, wenn alle anderen schon weg sind. Für die Entwicklung eines Kits zur Bestimmung von Hirnhautentzündung überreichte ihm die vietnamesische Regierung den „Preis für das wissenschaftliche Produkt des Jahres 1995". Von weiteren Produktinnovationen berichtet Van, als er, klein und flink, wieder nach draußen über seine Studenten steigt: Eine Augenbank zum Beispiel, in der transplantationsfertige Hornhäute gelagert und gehandelt werden sollen. Nur der Aberglaube der Vietnamesen hindere ihn noch daran, sagt Van: „Wem hier nach dem Tod die Augäpfel entnommen werden, der findet den Weg zu den Toten nicht. Er sieht ja nichts." Der Raum, der die Augenbank beherbergen soll, steht leer. Aber einer wie Van hat tausend Projekte zum Laufen gebracht, das selbst geschriebene Computerprogramm für die Bakterienbestimmung zum Beispiel oder die Schaffarm vor Ho-Tschi-rninh-Stadt für die Blutkonservenproduktion. Und dann ist da ja noch ALF: eine Maschine, entwickelt vom schwedisch-britischen Biotechnik-Joint-Venture Amersham Pharmacia Biotech, die in einen Umzugskarton passt und ungeahnte Möglichkeiten eröffnet. Van hat die Finanzierung durch die vietnamesische Regierung erreicht, weil er einen überzeugenden Wirtschaftsplan vorlegen konnte: Mit dem ALF kann man nicht nur Vaterschaftstests machen, die bei den Neureichen in Ho-Tschi-minh-Stadt sicherlich Nachfrager finden werden; mit dem ALF kann man auch Krankheiten mit molekularbiologischen Mitteln bestimmen, Krankheiten von Kindern, die noch gar nicht geboren worden sind. Und auch der Polizei würde mit der Bestimmung von genetischen Fingerab-drücken ein neuer Beweismittelhorizont eröffnet. Die 100 000 Mark, die ALF kostet, werden sich schnell amortisieren. „Das ist leicht", sagt Van. Mit dem ALF hat Van aber nicht nur modernste Biotechnik eingekauft, sondern auch Mark Benecke. Und Technimex.

Mark Benecke soll Vans Mannschaft trainieren, als „support scientist". Amersham Pharmacia Biotech verkauft seine Geräte nach Südostasien nur, wenn der Käufer auch ein Techniktraining mitbucht, denn die Unternehmensphilosophie lautet: Von Pharmacia darf es keine Geräte geben, die nicht bedient werden können. Der 29-jährige Kölner ist Doktor der Biologie und Experte für alle Techniken, die Biologie und Kriminalistik verbin-den. Neben der Bestimmung von genetischen Fingerabdrücken ist das vor allem die Bestimmung der Liegezeiten von Maden auf Leichen.

Fotos: Kit-Röhrchen und Wattestäbchen und Speichelproben, die im Labor vor sich hintrocknen, weil der ALF noch beim Zoll steht.

Technimex empfiehlt einen Urlaub.

Technimex ist ein vietnamesisches Staatsunternehmen, das dem Gesundheitsministerium untersteht und die Amersham-Pharmacia-Biotech-Produkte von Hanoi aus vertreibt. In Vietnam gibt es immer noch 6000 Staatsbetriebe. Sie heißen Vinamilk, Vinataba, Vinacoal oder eben Petrolimex oder Technimex und erwirtschaften 40 Prozent des vietnamesischen Bruttoinlandsprodukts. Sie schlucken enorme Subventionssummen und fahren vor allem Verluste ein. Die Staatsbetriebe sind bei allen, die von ihnen abhängen, gefürchtet. Benecke trifft Anfang Dezember in Ho-Tschi-minh-Stadt ein und findet in Pham Hung Van einen Seelenverwandten. Er ist beeindruckt von Vans Labor und seiner Findigkeit, im vietnamesischen Wirtschaftsdickicht zu operieren. Als er aber mit dem Training für Van und seine Mitarbeiter, die zum großen Teil promoviert sind, beginnen will, schlägt ihm der Ingenieur von Technimex vor, erstmal Urlaub zu machen. Ho-Tschi-minh-Stadt sei wunderbar und Ausflüge ins Mekongdelta oder zu den Vietnamkrieg-Schlachtfeldern im Dschungel sehr zu empfehlen. Benecke fragt nicht. Als er vier Tage später wieder im Labor auftaucht, steht der Raum für den ALF so leer wie die Augenbank nebenan. Ein paar Schwierigkeiten mit dem Zoll im Flughafen von Ho-Tschi-minh-Stadt, erklärt Van im Auftrag von Technimex, Benecke solle sich keine Sorgen machen. „Morgen kommen die Sachen ganz sicher", sagt Van. Und verschweigt, dass der Dekan persönlich nach Hanoi geflogen ist, um mit seinen Kontakten im Gesundheitsministerium den ALF aus dem Zoll zu eisen — was Technimex im eigenen Haus nicht geschafft hat. Benecke unterrichtet Vans Mannschaft also ohne den ALF. Erzählt von der Relevanz genetischer Fingerabdrücke im 0.J.-Simpson-Fall, fragt sie, warum die Erbsubstanz DNS Desoxyribonukleinsäure heißt, aber aus Basenpaaren besteht. Sie fragen ihn, wieso er einen Ohrring trägt und einen klobigen Ring am Finger. Er bringt ihnen bei, dass man bei Erbsubstanz-Sequenzierungen immer Handschuhe anzieht, um Verunreinigungen mit eigener DNS zu vermeiden. Van verzieht das Gesicht bei dem Gedanken an die hohen Kosten für viele ungepuderte Handschuhe. Der ALF steht im Zoll. Benecke, selbst ein Getriebener, macht für Van eine Populationsstudie: 100 Vietnamesen will er zu Speichelproben einladen, um Besonderheiten der Erbsubstanz des vietnamesischen Volkes zu untersuchen. „Das ist leicht", sagt Van, „besuchen Sie die nächste Medizinvorlesung." Benecke erzählt den Erstsemestern von der Relevanz genetischer Fingerabdrücke im Clinton-Lewinsky-Fall und hingerissen speicheln die Studenten. Die Wattestäbchen trocknen im leeren ALF-Labor. Irgendwann hat Benecke nichts mehr zu tun. Ein Tag vergeht, ein nächster -und noch einer. Jeden Morgen startet Benecke mit der Fahrradrikscha vom Luxushotel aus, jeden Morgen um Punkt acht steht er im Labor. Van empfängt ihn freundlich und hilflos, reicht Kaffee und erklärt, der ALF komme morgen ganz sicher. Nur noch eine winzig kleine Formalität sei zu lösen. Und Benecke gleitet zurück zum Hotelpool, zwischen Mopedschwärmen und Oberschülerinnen in seidenweißen Nationalgewändern, aufrecht auf ihren Fahrrädern sitzend, langsam und sachte. In der Hitze keine Energie verschwenden. Technimex hat versprochen, Benecke 140 Mark pro Tag zu zahlen. SO viel wie Vans Mitarbeiter im Monat verdienen. Benecke wartet drei Wochen. Der ALF kommt kurz vor Weihnachten. Der Ingenieur von Technimex ist unfähig, die Maschine richtig aufzubauen, das übernimmt Benecke für ihn. Zum Schluss fehlt der zugehörige Computer. Technimex hat ihn nicht auf die Bestell-Liste gesetzt. „Das war ungefähr so, als hätte mir einer einen Kuli ohne Mine verkauft", sagt Benecke. Nach drei Wochen Stümpereien des Staatsbetriebes, habe er Wellen empfangen von Van, Wellen, die besagten: „Es reicht, Technimex", erzählt Benecke. Zwei Stunden später hat der Ingenieur einen brandneuen Computer organisiert. Van und Benecke fangen an zu arbeiten. Van will den ALF ohne störende Mitarbeiter kennen lernen, er will die Kontrollhoheit über sein neuestes Spielzeug wahren. Langsam und sorgfältig pipettiert er DNS-Substanz und kopiert sie mit seiner PCR-Maschine. Dann beladen sie den ALF und programmieren ihn auf einen Zehn-Stunden-Lauf. Zehn Stunden lang wird jetzt die zerstückelte DNS, elektrisch angezogen, durch ein Gel rutschen, größere DNS-Stückchen langsamer als kleine, und zum Schluss soll das unverwechselbare Muster eines genetischen Fingerabdrucks entstanden sein. Wenn der ALF funktioniert. Wenn die Chemikalien nach den drei ungekühlten Wochen im Zoll nicht unbrauchbar geworden sind. Es ist Weihnachten.

Van nimmt Benecke auf seiner Honda mit auf eine der ungezählten Partys in Ho-Tschi-minh-Stadt. Nicht mehr lange werde er abhängig sein von Staatsbetrieben wie Technimex und von Kollegen, die seinen Erfolg neiden, sagt Van. Und erzählt vom größten Projekt, das er je gewagt hat: »Ich werde meine eigene Firma gründen." Endlich will er mit Leuten arbeiten, die seine Ideen teilen. Seine Frau, Biologin, soll mitarbeiten, sein Sohn, Klassenbester in Physik, soll das Geschäft eines Tages erben. Drei Gesellschafter sind gefunden und 200 000 Mark Startkapital. Van und Benecke hält es nicht in der Stadt, sie wollen wissen, ob der ALF läuft. Auf dem Campus zirpen die Grillen, der Pförtner sitzt in der Abendkühle bei Bananenschnaps. Die beiden öffnen die Vorhängeschlösser zum Labor, starten das ALF-Programm. Und sehen auf dem Bildschirm viele feine Zacken: Der ALF funktioniert. Am nächsten Morgen meldet Van seine Firma an.


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