Lügen interessieren mich nicht

Quelle: Max, Ausabe 4, 2024, Seiten 120-122 (← klick für das .pdf)

Mark Benecke ist bei Verbrechen der Mann für spezielle Fälle. Dabei geht der Kriminalbiologe auf ungewöhnliche Art und Weise auf Spurensuche, um die Wahrheit zu finden.

INTERVIEW NINA PONATH

Es ist Sonntagabend, 18 Uhr. Ein ungewöhnlicher Zeitpunkt für ein Interview? Nicht für Mark Benecke. Der Kölner Kriminologe, der aus Fernsehformaten wie „Medical Detectives“ bekannt ist, hat eine volle Agenda: 80 Stunden die Woche arbeitet der Kriminalbiologe an seinen Fällen, dazu ist er Autor und Politiker der „Partei“. Zuletzt war der 52-Jährige aufgrund seiner Begegnungen mit dem Serienmörder Luis Alfredo Garavito, der in den Neunzigerjahren mindestens 138 Kinder getötet hat, in den Medien. Ein in der Begegnung ehrlicher Mensch und dennoch ein Psychopath, wie Benecke auf seinem Instagram-Account schrieb. Dabei ist diese Art von Unvoreingenommenheit keine Entschuldigung, sondern vielmehr die Basis und Voraussetzung für Beneckes Arbeit: Wenn er von der Polizei zu einem Leichenfundort gerufen wird, sammelt er ohne Vorannahmen alle wichtigen Spuren und Fakten, die die Wahrheit ans Licht bringen sollen.

MAX: Viele Menschen kennen den Beruf des Kriminalbiologen nicht. Wie sieht Ihr Alltag aus?

Mark Benecke: So etwas wie Alltag haben wir nicht. Es ist ein bisschen wie bei Sherlock Holmes. Tina, meine Mitarbeiterin, ist Watson, dann kommt irgendjemand rein – heutzutage natürlich elektronisch – und dann ist das irgendwas Schräges, was sehr viel zusätzliche Information hat: Religion, Kultur, Meinung, Trauer, Aufregung. Dafür sind wir nicht zuständig, wir sieben aus diesem ganzen Wust nur die biologischen Spuren. Uns geht es darum: Gibt es Textilfasern, Blut, Sperma, Haare, Erbgut? Wir kriegen die Fälle, an die keiner so richtig glaubt.

MAX: Sie haben Biologie, Zoologie und Psychologie studiert. Sind Sie hochbegabt, oder hatten Sie ehrgeizige Eltern?

Benecke: Weder noch... Mir ist einfach langweilig, wenn nichts los ist. Ich habe Biologie studiert, da war das Hauptfach Zoologie und das Nebenfach war Psychologie. Mehr war das gar nicht. Ich war früher auch Schülersprecher und Chefredakteur der Schülerzeitung. Dann haben mich Leute, die auch künstlerisch unterwegs waren, gefragt, ob ich da auch mitmachen will, und ich habe öfter Ja gesagt. Aber immer nur, wenn’s Spaß gemacht hat.

MAX: Wie sieht ein typischer Fall, in den Sie Klarheit bringen sollen, aus?

Benecke: Bei einem Sexualdelikt könnte es sein, dass das Opfer festgestellt haben möchte, dass es keine Hilfe geholt hat, weil es in Schockstarre war. Mal angenommen, es gab ein Sexualdelikt in einem öffentlichen Gebäude, und das Opfer hätte nur gegen die Wand treten oder sonst wie Lärm machen müssen, und der Täter behauptet, der Geschlechtsverkehr war einvernehmlich; dann fragen wir das Opfer, welche Spuren jetzt noch vorhanden sein könnten. Da kann es schon sein, dass es zu unserer Überraschung noch alle Spuren gibt, obwohl die Polizei gesagt hat, „Sie haben, obwohl rundherum zwanzig Leute waren, weder gegen die Tür getreten, noch einen Mucks gemacht. Das ist kein Kriminalfall, schönen Tag noch.“ Dann müssen wir gucken, ob man faktisch etwas ausschließen kann. Sagt das Opfer zum Beispiel, der Täter hat ejakuliert und das Ejakulat in ein Handtuch geschmiert, der Täter sagt aber, er habe gar nicht ejakuliert, wird es interessant. Dann haben wir Raum, Zeit und eine biologische Spur und können Aussagenein-oder ausschließen. Ob das dann hinterher rechtlich was bewirkt, ist eine andere Frage, aber für die Opfer selbst macht es einen Unterschied zu sagen: „Siehst du, es stimmt, was ich gesagt habe.“

MAX: Haben Sie in Ihrem Beruf inzwischen ein Gefühl dafür, wann etwas wahr ist und wann nicht?

Benecke: Nee. Das spielt oft auch keine Rolle. Vor ein paar Tagen ist ja Luis Alfredo Garavito gestorben, der war zu mir total ehrlich und aufrichtig, ein ganz angenehmer Gesprächspartner, während andere Menschen, die sich für gut und normal halten, von morgens bis abends lügen und das gar nicht bemerken. Lüge oder nicht interessiert mich deshalb gar nicht, wenn jemand zu mir kommt. Ich schaue so oder so nach den messbaren Tatsachen.

MAX: Ist die Interaktion mit Menschen für Kriminologen wie Sie, die viel im Labor arbeiten, schwierig?

Benecke: Die von uns besser Angepassten reden noch ganz gern mit der Polizei und dem Gericht. Es gibt aber auch Leute in unserem Beruf, die so kauzig sind, dass sie niemals öffentlich reden würden. Diese Kolleginnen und Kollegen sind sehr wertvoll für unseren Job, aber so doll in dieser Mess- und Zählwelt drin, dass sie fast keine sozialen Fähigkeiten mehr haben. Oder das Soziale strengt sie so sehr an, dass sie es meiden. Bei uns im Team haben die Kolleginnen und ich noch immerhin so viele soziale Fähigkeiten, dass wir auch mit anderen Menschen zielführend sprechen können. Trotzdem ist uns die Welt aus Zahlen und Messungen lieber. Das sieht man auch wirklich. Wenn wir im Labor riesige Mengen an Spuren haben, sieht man sofort die Sternchen in den Augen. Dann kommt sofort Ines an und sortiert, und Tina holt die Mikroskope heraus. Dafür bekäme Tina sofort einen trockenen Hals, wenn sie zum Gericht müsste, und die Ines würde es wohl gar nicht machen.

MAX: Wie fühlt es sich dann an, wenn Betroffene zu Ihnen kommen und ihre Geschichte erzählen?

Benecke: Das sind ja keine sozialen Kontakte, das ist kein Problem. Wenn man uns lässt, dann halten wir versehentlich einen Vortrag über unsere Messungen, das ist unser Fachgebiet, aber sonst halten wir uns zurück. Ines sagt eh nur das Wesentliche und antwortet bei Nachfragen mit einem „Ja, habe ich doch schon gesagt". Deshalb bin meistens ich derjenige von uns, der zum Gericht und zu irgendwelchen Vorträgen geht. Mit Angehörigen kommen wir aber alle gut klar, sogar besser als andere, weil wir uns nicht von Gefühlen übermannen lassen. Teilweise bekommen wir wirklich die schlimmsten Geschichten zu hören, bei denen es anderen viel zu viel und viel zu schrecklich ist. Das Angenehme für die Angehörigen ist, dass wir alle ganz sachlich bleiben. Wir bleiben bei den Tatsachen.

MAX: Kann man Opfern gegenüber auch zu empathisch sein?

Benecke: Ich bin Opfern gegenüber empathisch. Wenn ich etwas wirklich nachempfinde, zum Beispiel, weil eine „Ich verstehe all das Lügen, Verhandeln, die ganze Diplomatie nicht, wenn man doch mit der Wahrheit alles viel schneller und angenehmer gestalten kann."-Spur nicht aufgenommen wurde, sage ich auch mal Dinge wie „Das tut mir leid, das ist echt ein riesengroßer Mist", aber ich wechsele dann sofort auf die Sachebene, sodass der Fall vorangehen kann. Man muss bei den Spuren bleiben. Das tut den Opfern gut; sie haben dann wieder Hand-lungsspielraum und können, egal was pas-siert ist, entscheiden, was sie als Nächstes tun: Ob sie Geld in die Hand nehmen und den Fall aufklären und weitermachen oder eben auch bewusst nicht.

MAX: Kann man sich als Angehörige:r vor Fehlern bei der Ermittlung schützen?

Benecke: Angehörige sind grundsätzlich leider kein wichtiger Teil bei der Ermittlung, deshalb ist das schwierig. Wenn die Leute mit uns reden, kann das was bringen. Manchmal verlassen sich die Angehörigen aber auch darauf, dass die Polizei schon ermitteln wird. Wenn sich die Polizei verrannt hat, kann es sein, dass aus strukturpolitischen Gründen nicht weiter ermittelt wird. Es gibt da einen Schutzreflex, weil kaum jemand. erst recht nicht die Polizei, blöd dastehen will. Das ist für mich nicht nachvollziehbar. Ich weiß nicht, was daran so schlimm ist zu sagen: „Wir haben einen Fehler gemacht." Das ist dasselbe wie beim Fremdgehen, da sagt auch niemand „Ich habe dich betrogen, das war falsch", und stattdessen wird lieber gelogen und geschwiegen. Das verstehen wir bei uns im Team nicht.

MAX: Ist die Wahrheit dann für Sie ein wichtiger Wert?

Benecke: Vielleicht anders herum: Lügen stößt bei mir auf Unverständnis. Nicht, weil ich es bewerte. Das ist eher ein persönliches, grundsätzliches Unverständnis. Ich verstehe all das Lügen, Verhandeln, die ganze Diplomatie nicht, wenn man doch mit der Wahrheit alles viel schneller und angenehmer gestalten kann. Autisten und Autistinnen oder Borderliner haben das auch, dass sie mit Unwahrheiten nicht klarkommen. So ist das bei uns auch. Bei Tina, meiner Mitarbeiterin, ist das so, wenn sie merkt, dass jemand lügt, hört sie nicht mehr zu. Ich werde da eher hellhörig und denke „Ah, das ist jetzt ein interessanter Hinweis". Wir fühlen uns aber alle gestört davon, weil Lügen so sinnentleert ist.


Unschuldige Tochter landet im Gefängnis

Fellbach


Wissenschaftlche Bibliotheken

2024


Was treibt Sie an…

Bochumer Stadtwerke


Der Herr der Maden

Max | 1998