Über die Aussagekraft forensisch-entomologischer Untersuchungen bei nicht optimaler Asservierung und weiteren Defiziten

Quelle: Archiv für Kriminologie 253: 16-29 (2024) (← klick für das .pdf)

englische Version des Artikels

Von Kristina Baumjohann & Mark Benecke

1. Einleitung

Insekten, meist Fliegen und Käfer, können menschliche und tierische Körper sowohl zu Lebzeiten als auch nach Eintritt des Todes besiedeln. Findet diese Besiedlung zu Lebzeiten statt, spricht man von sog. Myiasis; sie findet häufig in Fällen von Vernachlässigungen statt; eine Berechnung des Zeitraums der Vernachlässigung ist möglich.

Bei der Besiedlung toter Körper wird die sog. Besiedlungszeit berechnet; der Todeszeitpunkt wird hierbei jedoch nicht ermittelt, da die Insekten den toten Körper meist (manchmal nur wenig) später aufsuchen und nicht zum genauen Zeitpunkt des Todes anwesend sind.

Diese Berechnungen können nur durchgeführt werden, wenn z.B. auch die besiedelnde Fliegenart bekannt ist, da die Entwicklungsgeschwindigkeit bei Insekten temperaturabhängig ist. Larven verschiedener Insektenarten können sich unter denselben Temperaturwerten verschieden schnell entwickeln [1]

Attraktiv für die Eiablage bei Leichen sind natürliche Körperöffnungen und – sofern vorhanden – Wunden. Diese Besiedlungsvorliebe gilt gleichsam für Menschen und Wild- bzw. Haustiere [2, 3]. Bei der Lebendbesiedlung erfolgt die Eiablage bevorzugt in offene Stellen und Wunden oder auch im verschmutzten Windelbereich [4-6].

Grundsätzlich sollte das Absammeln und die anschließende Asservierung der Fliegenmaden getrennt nach dem Ort des Absammelns (Windelbereich, offene Wunden, natürliche Körperöffnungen) vorgenommen werden, um die ggf. unterschiedlichen Entwicklungsalter der Tiere an den verschiedenen Besiedlungsstellen desselben Körpers festhalten zu können.

Auch in Fällen von Tierquälerei und Vernachlässigungen bei Wild- und Haustieren können die von lebenden oder verstorbenen Tieren abgesammelten insektenkundlichen Spuren den Untersuchungsbehörden Informationen zu den Todes- bzw. Besiedlungsumständen eines Tieres und der Berechnung der Mindest-Besiedlungszeit geben [7-12].

Nicht immer lässt der Zustand des asservierten insektenkundlichen Untersuchungsgutes eine problemlose Artbestimmung und damit verbundene Berechnungen zur Besiedlungszeit der Tiere auf einem toten Körper zu. Der hier vorgestellte Fall zeigt, dass trotz mangelhaft gesicherten Spurenmaterials die Berechnung einer möglichen Entwicklungszeit von Fliegenmaden durch Erstellung verschiedener „Temperatur-Szenarien“ eingegrenzt werden kann. Die hier aufgeführten Defizite treten immer dann auf, wenn der Umgang mit insektenkundlichen Spuren unbekannt ist oder zu Beginn einer kriminalistischen Untersuchung noch nicht wesentlich erscheint; daher können diese Defizite  auch in der Fall-Bearbeitung mit menschlichen Leichen auftreten.

2. Fallbeschreibung

Im Zusammenhang mit dem Tod einer weiblichen, etwa zweijährigen Französischen Bulldogge, erging von einer Abteilung für Veterinärwesen Behörde der Auftrag zur Berechnung des Mindest-Besiedlungs-Zeitraumes der vom toten Hund abgesammelten Fliegenmaden.

Die Hundehalterin gab an, sie habe ihren Hund mehrere Tage vor dessen Tod in der Wohnung ihres Onkels gelassen und sich dort täglich während ihrer Arbeitspausen um ihn gekümmert. Zuletzt habe sie den Hund am 23. Juli mit Wasser und Futter versorgt; der Hund habe zu diesem Zeitpunkt noch gelebt. Als sie ihre Hündin am Abend des nächsten Tages, dem 24. Juli bei ihrem Onkel abholen wollte, war die Hündin verstorben.

Noch am selben Abend holte der Tierbestatter den toten Hund ab und fror ihn im Bestattungsinstitut – laut seiner Aussage – bei -3 °C ein. Dem Bestatter waren bei der Übergabe des Hundes „haufenweise Maden“ auf dem toten Körper aufgefallen; die Hündin sei zu diesem Zeitpunkt bereits stark verwest und abgemagert gewesen. Der Bestatter übergab den Hund am 25. Juli an das zuständige Veterinäramt; der Hund wurde dort bei unbekannten Temperaturen tiefgefroren. Am 30. August wurde das Tier an ein Institut für Veterinär-Pathologie versandt und dort am 2. September untersucht. Die vom Hundekörper abgesammelten Fliegenmaden wurden bis zum Versand bei -20 °C eingefroren.

3. Veterinär-pathologische Untersuchung des Hundes

Laut Stellungnahme des Veterinär-Pathologen befand sich der Hund bereits in einem hochgradigen Zustand der „Autolyse bis Fäulnis“. Auf dem Körper des Hundes waren zahlreiche Fliegenmaden, im Fell befanden sich Nissen (Eier von Läusen), es wurde eine beginnende Skelettierung des rechten Oberkiefers festgestellt.

Der Hund verfügte über kein Unterhautfett und keine Baufettdepots: Es fehlten das Nierenkapsel-, das Herzkranz- und das Darmgekrösefett. Der Magen war leer; das Tier befand sich in einem „hochgradig reduzierten Ernährungszustand“ (Abb. 1).

Beide Augen des Hundes waren aufgelöst, in den Augenhöhlen und dem Rest der Kopfkapsel lagen zahlreiche Fliegenmaden vor. Das Gehirn fehlte weitestgehend als Erscheinung fortgeschrittener Verwesung (Abb. 2).

Die nur hinreichend genügende Bildqualität der Abbildungen 1 und 2 ist dem Umstand geschuldet, dass der zuständige Veterinär-Pathologe die Verwendung seiner Original-Bilder untersagte, so dass auf Kopien der Bilder aus dem Bericht des zuständigen Veterinäramtes zurückgegriffen werden musste.

Die pathologische Stellungnahme konnte die Aussage der Halterin, ihre Hündin habe einen Tag vor ihrem Tod noch gelebt und „normal“ gefressen, nicht bestätigen.

4. Forensisch-entomologische Untersuchungen

4.1 Material und Methoden

Die Probe aus dem Institut für Veterinär-Pathologie umfasste 146 einzelne Fliegenmaden und acht Cluster von mehreren Maden, die miteinander verbunden (wie verklebt) waren.

Die zuvor eingefrorenen Fliegenmaden wurden uns vom zuständigen Veterinärmediziner in 96% Ethanol zugesandt und erreichten uns am 16. Januar 2023. Die aufgetauten Maden waren überwiegend braun bis schwarz verfärbt (Abb. 3), das Gewebe war gummiartig verändert und die Tiere überwiegend verkrümmt. Die Verfärbungen und Verformungen erschwerten die Artbestimmung der Tiere, da hierzu bestimmte Körpermerkmale sichtbar sein müssen. Die Länge der gestreckten Made wird zur Altersbestimmung herangezogen und kann nicht korrekt gemessen werden, wenn die Tiere ge- und verkrümmt sind.

Eine fachgerechte und sofortige Aufbewahrung der Fliegenmaden beim Tierbestatter hätte die Verfärbungen und Gewebeverformungen verhindern können [13]. Ein Drittel der Maden wurde daher in eine 8 %ige Kaliumhydroxid-Lösung (KOH) gegeben. Das Gewebe der Maden war derart fest und zäh, dass es erst nach etwa einer Woche weich genug wurde, um es präpieren zu können. Die über die Zeit ebenfalls einhergehende Aufhellung durch das Kaliumhydroxid bewirkte, dass bestimmungsrelevante Körpermerkmale weitestgehend wieder sichtbar wurden (Abb. 4).

Bei 20 Schmeißfliegenmaden wurden die Länge gemessen, das Entwicklungsstadium ermittelt und deren Art bestimmt (siehe 4.2). Nach der Untersuchung wurden die Maden – mit den bei der Untersuchung abgetrennten Körperteilen (Analplatte, Kopfkapsel, Mundwerkzeuge) – in je ein Eppendorf-Reaktionsgefäß (1,5 ml) überführt.

Die sich nach Abschluss der Untersuchungen noch in der Kaliumhydroxid-Lösung befundenen Maden wurden zur weiteren Aufbewahrung in ein Gefäß mit Brennspiritus gegeben.

In der Probe befand sich auch eine Made einer Fleischfliegenart. Aus den oben angeführten Gründen wurde auch diese Made für eine Woche in eine 8 %ige KOH-Lösung gelegt und anschließend untersucht.

4.2 Ergebnisse der Artbestimmung

Die Art der Fliegenmaden wurde anhand morphologischer Merkmale mit einem Stereomikroskop (Leica Mz 12.5, Leica S9E) und einem Durchlichtmikroskop (Leica DM LM) mit Bestimmungsschlüsseln von Szpila [14, 15] bestimmt.

Die 20 untersuchten Schmeißfliegenmaden gehörten zur Art Lucilia sericata (Meigen, 1826); die Durchschnittslänge der Tiere betrug 1,3 cm. Alle Maden hatten das dritte und damit letzte larvale Entwicklungsstadium erreicht. Ob die Tiere zum Zeitpunkt der Asservierung ihren Darminhalt bereits als Vorbereitung für die sich anschließende Verpuppungsphase entleert hatten (sog. Postfeeder) oder diesen noch besaßen, konnte aufgrund der dunklen Gewebeverfärbung nicht ermittelt werden.

Die einzelne, 2 cm lange Fleischfliegenmade gehörte zur Art Sarcophaga argyrostoma (Robineau-Desvoidy, 1830) und befand sich im dritten (und letzten) larvalen Entwicklungsstadium.

4.3 Ergebnisse der Berechnungen eines möglichen Eiablage-Zeitpunktes

4.3.1 Temperaturdaten

Fliegenmaden entwickeln sich in Abhängigkeit von der sie umgebenden Temperatur. Für die Berechnungen zum Madenalters werden daher die Temperaturen benötigt, unter denen sich die Tiere bis zum Auffinden des Körpers entwickelt haben.

Zur Rückberechnung der Temperaturen sind im Bestfall folgende Schritte notwendig [16]:

  • Abgleich der stündlichen Temperaturen über einen bestimmten Zeitraum (z.B. drei Tage oder länger) zwischen Fundort und nahe gelegener Wetterstation

  • Berechnung der Abweichungen zwischen diesen Orten

  • Berechnung eines Korrekturfaktors

  • Rückberechnung der Temperaturen für den Fundort eines Leichnams für die Zeit vor dessen Auffinden = Zeit, in der sich die Insekten auf dem Körper entwickelt haben. Hierzu werden die Temperaturdaten der Wetterstation für eben diesen Zeitraum und der zuvor berechnete Korrekturfaktor herangezogen.

Der Deutschen Wetterdienst (DWD) lieferte tägliche Durchschnitts-, Maximal- und Minimal-Temperaturwerte für den Zeitraum Anfang Juni bis Ende Juli, jedoch keine stündlichen Messwerte der Temperaturen.

Eine privat betriebene Wetterstation, die nur 6,8 km Luftlinie zum Wohnort des Onkels der Hundehalterin entfernt lag, übermittelte stündliche Lufttemperaturwerte für den Zeitraum Anfang Juni bis Ende Juli.

4.3.2 Rekonstruktion der Temperaturdaten am Sterbeort des Hundes

Es war nicht möglich, in der Wohnung des Onkels Temperaturaufnahmegeräte auszulegen. Zur Rekonstruktion der Temperaturen am Sterbeort des Hundes fehlten außerdem Angaben darüber, wo genau der Hund zuletzt gelebt oder gelegen hat (z. B. im Haus unter dem Dach bei möglicherweise hohen Temperaturen, im Keller des Wohnhauses bei möglichen niedrigeren Temperaturen gegenüber den Außentemperaturen, in der Wohnung bei ähnlichen Temperaturen wie den Außentemperaturen (Sonneneinfall?), auf dem Balkon oder im Garten bei Außentemperaturen usw.).

4.3.3 Berechnung der Entwicklungsdauer der Fliegenmaden

Die bereits aufgeführten Schritte zur Berechnung der Entwicklungszeiten der Fliegenarten konnten in dem hier vorliegenden Fall aufgrund der fehlenden Daten und Informationen nicht durchgeführt werden. Die Entwicklungszeit der Fliegenmaden konnte annähernd eingegrenzt werden, indem verschiedene „Temperatur-Szenarien“ erstellt wurden, die auf den stündlichen Temperaturdaten der privaten Wetterstation und unterschiedlichen konstanten Entwicklungsdaten aus der Literatur beruhten.

4.3.4 Entwicklungsdaten von Lucilia sericata und Sarcophaga argyrostoma

Die Berechnung des möglichen Zeitpunkts der Eiablage von Lucilia sericata erfolgte anhand der Entwicklungsdaten von Wang et al. 2020 [17]. In Tabelle 1 sind die Ergebnisse zur Berechnung der Entwicklungszeit der untersuchten Fliegenmaden von Lucilia sericata unter dem Einfluss verschiedener Temperaturen dargestellt.

Wegen der starken Dunkelfärbung durch Fäulnis der Fliegenmaden konnte nicht ermittelt werden, ob die Fliegenmaden den Darminhalt zum Zeitpunkt des Absammelns noch besaßen. Fliegenmaden entleeren ihren Darminhalt vor der Verpuppung (sog. Postfeeder): Maden ohne Darminhalt sind daher älter als solche mit Darminhalt. Ein möglicher Einfluss der KOH-Lösung auf einen eventuell noch vorhandenen Darminhalt (der nach der KOH-Behandlung nicht mehr sichtbar war, weil das Gewebe zu stark aufgehellt wurde) konnte wegen der langen Einwirkzeit nicht ausgeschlossen werden. Diese Information ist jedoch wesentlich für die Einschätzung des Alters der Fliegenmaden.

Den von Wang et al. [17] entnommenden Daten für den Entwicklungs-Übergang vom 2. zum 3. Entwicklungsstadium war für die hier untersuchten Fliegenmaden zu „früh“, weil sich die Maden sicher bereits im 3. Larvalstadium befanden; die Übergänge der Stadien wären anhand morphologischer Merkmale erkennbar gewesen. Der Übergang vom 3. Entwicklungsstadium zum Postfeeder (Made ohne Darminhalt) entspräche dem „spätesten“ Entwicklungszeitpunkt, da sich die Maden höchstens in diesem Entwicklungsstadium befanden (als Postfeeder wandern die Maden vom toten Körper ab, um sich zu verpuppen). .

Weibchen der Fleischfliegen, zu denen auch Sarcophaga argyrostoma gehört, legen lebende Junglarven im ersten Entwicklungsstadium auf verwesendem Gewebe ab [18].

Den Fund der einzelnen Fleischfliegenmade der Art Sarcophaga argyrostoma berichten wir hier im Sinne eines Beifundes. Da sich Fleischfliegenlarven dieser Art aber nicht zufällig an einem Lebewesen aufhalten, sondern auch von zersetztem Gewebe angezogen werden, teilen wir dennoch die Entwicklungszeit bzw. den möglichen Besiedlungszeitpunkt dieser Made anhand der Temperatur- und Entwicklungsdaten von Grassberger & Reiter (2002) [19] mit (Tabelle 2).

4.4 Beantwortung der Fragestellung

Die insektenkundliche Bearbeitung zur Frage nach den Entwicklungszeiten steht und fällt mit vorhandenen bzw. rekonstruierbaren Temperaturdaten. Im vorliegenden Fall wurden den Berechnungen sowohl die im Tagesverlauf schwankenden Temperaturen der 6,8 km zur Wohnung des Onkels entfernten Wetterstation als auch beispielhaft konstante Temperaturen (15 °C → z. B. Kellerraum; 24 °C → z. B. Innenraum im Sommer (tagsüber); 30 °C → Außentemperaturen im Sommer (tagsüber)) zugrunde gelegt.

Da bereits die genauen / „echten“ Temperaturen, unter denen sich die Fliegenmaden auf dem Hund entwickelt haben, unbekannt waren bzw. nicht rekonstruiert werden konnten und die angestellten Berechnungen auf verschiedenen Temperatur-Annahmen beruhten, wurden bei der Bestimmung des Besiedlungszeitpunktes andere, möglicherweise auf die Eiablage und Larvenentwicklung Einfluss nehmende Faktoren wie beispielsweise Regen [20-23] oder eine Eiablage bei Nacht bzw. Dunkelheit [23-29] etc. außer Acht gelassen. Es ist aus biologischer Sicht wichtig im Einzelfall zu prüfen, ob diese Einflüsse von Bedeutung sind oder nicht.

Die Fragestellung zur Berechnung des Mindest-Besiedlungs-Zeitraumes der Fliegenmaden auf dem Hund konnte daher wie folgt beantwortet werden: Die untersuchten Maden beider Fliegenarten hatten bereits das dritte und damit letzte Entwicklungsstadium als Larve (vor der Verpuppung zur Fliege) erreicht. Die Tiere konnten sich nicht innerhalb eines Tages (z. B. vom 23. auf den 24. Juli) von der Eiablage bis zum vorgefundenen Entwicklungsstadium entwickelt haben.

Ob der Hund zum Zeitpunkt der Eiablage noch gelebt hat, war nicht zu beurteilen. Es besteht die Möglichkeit, dass der Hund vernachlässigt und gegebenfalls vorhandene Wunden bereits zu Lebzeiten von Fliegenmaden besiedelt wurden. L. sericata und S. argyrostoma sind Fliegenarten, die auch lebende, vernachlässigte Körper besiedeln [9].

Ob die zur Untersuchung zugesandten Fliegenmaden zu den ältesten Maden gehörten, die sich auf dem Hund entwickelt haben (= Zeitpunkt der Eiablage der ersten Fliegen), ist ebenfalls nicht bekannt. Damit handelte es sich bei den berechneten Zeiträumen um den Mindest-Entwicklungs-Zeitraum der Larven.

Auch die Aussagen der Veterinärmediziner zur fortgeschrittenen Verwesung der Hündin zum Zeitpunkt der Abgabe beim Bestatter („ausgedehnter Madenbefall der Maulhöhle, autoylsebedingter Substanzverlust an der Schnauze, starker Verwesungsgeruch“), der den Körper direkt im Anschluss daran eingefroren hat, sprachen gegen die Annahme, dass der Hund am 23. Juli noch gesund gewesen sein bzw. gelebt haben könnte.

5. Diskussion

Zunächst sollen die möglichen unbekannten Faktoren auf die hier vorliegenden Untersuchungen kritisch betrachtet werden. Im Anschluss versuchen wir trotz der begrenzten Informationen Schlussfolgerungen zu ziehen, da uns der Fall schwerwiegend erschien.

5.1 Temperaturen

Es fehlten Temperaturdaten vom Besiedlungsort des Hundes. Rein rechnerisch konnten daher die Temperaturen, beidenen die Insekten den Hund vor dem 24. Juli besiedelt hatten, rein rechnerisch nicht rekonstruiert werden. .

5.2. Besiedlungsort des Hundes

Unklar blieb, ob der Hund im Inneren des Hauses oder draußen besiedelt wurde. Sollte der Hund im Haus lebend (Wunde) oder tot besiedelt worden sein, bleibt offen, ob beispielsweise die Fenster des entsprechenden Raumes oder der angrenzenden Räume geöffnet oder geschlossen waren. Auch geschlossene Türen können grundsätzlich Zugangsmöglichkeiten für Fliegen darstellen, da sie sich durch alte Schlüsselochöffnungen oder Spalten zwischen Tür und Fußboden hindurchzwängen können.

5.3 Fliegenmaden

Es ist unbekannt, zu welcher Besiedlungswelle die vom toten Hund abgesammelten Fliegenmaden gehörten. Unklar blieb auch, ob sich in der Umgebung des Hundes ältere Entwicklungsstadien der Fliegen oder auch andere Insekten befanden, und von welchem Bereich des Hundekörpers die Fliegenmaden stammten. Ebenfalls unbekannt war, ob die Fliegenmaden zum Zeitpunkt des Absammelns durch den Bestatter bereits tot waren oder noch gelebt haben.

Die Farbveränderungen und Verkrümmungen der Maden ließen eine verlässliche Längenmessung nicht zu; auch die Artbestimmung wurde dadurch erschwert. Die gemessenen Längen waren Mindestlängen.

5.4 Zur Aussage der Hundehalterin

Unbekannt war, ob die Aussagen der Hundehalterin zuverlässig waren bzw. überprüft wurden. Ob der Hund nicht ggf. in ihrer Wohnung gestorben und nach dem Tod in die des Onkels verbracht wurde, blieb unbekannt.

5.5 Fazit

Die vorgestellten Untersuchungen zeigen trotz der fallbedingt geringen, nichts desto weniger aber vorhandenen Informationen, dass der Hund am 23. Juli abends nicht mehr gelebt haben kann. Dazu kann über die forensisch-entomologischen Untersuchungen hinaus auf den stark verwesten und zersetzten Zustand des Hundegehirns („Gehirn fehlt weitgehend (verwest)“; pathologisches Gutachten) verwiesen werden.

Der Hund wurde spätestens am 21. Juli morgens von Leichenfliegen besiedelt; sollte sich das tote oder lebende Tier in einer kühleren Umgebung als 30 °C Außentemperatur aufgehalten haben, dann könnte die Besiedelung wesentlich früher stattgefunden haben.

Das Gericht verwarnte die Hundehalterin und verurteilte sie zu einer Zahlung über 1200 Euro an eine gemeinnützige Einrichtung; ihr gegenüber wurde ein Tierhaltungsverbot von einem Jahr ausgesprochen.

Es ist sinnvoll, vorsichtige Schlüsse aus forensisch-entomologischen Fragestellungen und Untersuchungsmaterialien zu ziehen, auch wenn das Untersuchungsmaterial in einem sehr schlechten Zustand ist und nicht alle Daten vorliegen oder in wünschenswerter Weise rekonstruiert werden können.

Es ist bedeutsam, auch Veterinärmediziner und -pathologen für die Asservierung und Dokumentation insektenkundlicher Spuren zu sensibilisieren.

Zusammenfassung

Eine Hündin sei einen Tag vor ihrem angeblichen Tod noch gesund und lebendig gewesen. Der fortgeschritten verweste Zustand des toten Hundekörpers und die insektenkundlichen Spuren widerlegten diese Aussage der Hundehalterin jedoch. Das zuständige Veterinäramt initiierte ein Verfahren gegen die Hundehalterin wegen Tierquälerei und beauftragte eine forensisch-entomologische Begutachtung zur Berechnung des Mindest-Besiedlungs-Zeitraumes der Fliegenmaden des nun toten Hundes. Schwierigkeiten bei der Fallbearbeitung lagen in einer starken Dunkelfärbung und Verformung der Fliegenmaden sowie unzureichender Temperaturdaten. Dennoch gelang eine Eingrenzung möglicher Zeiten der Eiablage anhand der Erstellung von Temperatur-Szenarien.

Schlüsselwörter: Asservierung, forensische Entomologie, insektenkundliche Spuren, Mindest-Besiedlungszeitraum, Vernachlässigung

Forensic entomology under suboptimal conditions – A case report

Summary

A female dog had allegedly been alive one day before the day of death stated by the owner. The statement of the dogs’ owner was falsified due to the advanced state of decomposition and insects found on the dogs’ body. The veterinary office thought about accusing the dog’s owner for animal cruelty. They commissioned a forensic-entomologic expertise for calculation of the minimum time of insect colonization on the dogs’ body.

Strong darkening and deformation of the fly maggots as well as insufficient temperature data made case work tricky. Nonetheless, we worked through the case by creating forensic entomological „temperature scenarios“; the court used the entomological evidence and issued a penalty order.

Key words: forensic entomology, insect traces, minimum time since death, neglect, sampling


Neglect of the elderly

Forensic entomology cases and considerations


Flies and ants

A case of neglect from Calabria, Italy


Mind your decompositional assumptions

Forensic Sciences


Schussverletzung oder Käferfraß?

Rechtsmedizin


Insects under the skin?

Ziploc and matchbox evidence in the expert forensic stain laboratory


Study of maggots helps solve crimes

Yorkshire Live | 2003


Mit Maden dem Täter auf der Spur

Das Goldene Blatt | 1999