Quelle: Draussenseiter, Nr. 249, Februar 2024 (← klick für das .pdf)
Gespräch und Fotos: Gregor Nick | Titelfoto: Jürgen Bedaam
Mark Benecke ist so einiges: Kriminalbiologe, Tierschützer, Schriftsteller, Schauspieler, Politiker, Donaldist. Und was viele nicht wissen: Er setzt sich für Autist*innen ein. Ob er selbst zum Autismus-Spektrum zu zählen ist, lässt er einfach offen. Aber er kennt sich im Thema so gut aus, dass er unserem freien Mitarbeiter Gregor Nick ein paar Tipps verraten hat für den Umgang mit Menschen, deren Gehirn „einfach autistisch verdrahtet“ ist, wie er es nennt. Sein erster Ratschlag sollte auch außerhalb des Spektrums gelten: „Keine Lügen, auch keine nett gemeinten. Nur die Wahrheit. Ehrliche, vollkommene Offenheit.“
Draussenseiter: Du bist seit Jahren engagiert im Verein White Unicorn e.V., der sich für die Entwicklung eines autistenfreundlichen Umfelds stark macht. Bist Du denn selbst auf dem Spektrum / vom Autismus betroffen oder woher rührt Dein Wissen und Dein Einsatz für Menschen, die betroffen sind?
Mark Benecke: „Betroffen“ finde ich zu unfreundlich, es ist ja eine Wesens-Art: Das Gehirn ist einfach autistisch verdrahtet. Ich habe mich nicht testen lassen. Mehrere Autist*innen, mit denen ich befreundet oder verwandt bin, haben mich darauf angesprochen, ob ich auch einer bin. Inzwischen kenne ich mich so weit aus, dass ich in unserem Forschungs-Team dazu arbeiten, auf Kongressen dazu sprechen und Videos mit Autist*innen angemessen führen kann*.
Vorträge und Forschungen führe ich nicht aus meiner Sicht durch, sondern sachlich. Daher fördern unter anderem auch das Bundesministerium für Bildung und Forschung und Aktion Mensch unsere Arbeit. Wir haben auch tolle Partner*innen an der Humboldt-Universität in Berlin und der Goethe-Uni in Frankfurt/Main. Die haben es zwar nicht immer leicht mit uns, weil wir sagen: Wir forschen als Autist*innen mit Autist*innen. Mir macht es aber super viel Freude, weil Autist*innen bei allen Umfragen mega mitmachen, so wie sie übrigens auch meist sehr gerne lernen (das ist unser Forschungs-Schwerpunkt), wenn mensch sie einfach mal machen lässt und ihnen zuhört.
Ist es für prominente Betroffene einfacher, offen damit umzugehen und wurdest Du bereits mal Opfer von Ausgrenzung/Diskriminierung allgemein, vielleicht aufgrund einer anderen Eigenschaft/Zuschreibung?
Ich nehme es nicht ernst, wenn Menschen irgendetwas nicht gefällt, was sie nicht betrifft. Da zanke ich nicht rum und ärgere mich auch nicht. Ich verlasse einfach jede Umgebung, die andere ausgrenzt. Unter solchen Menschen will ich eh nicht sein.
Was ich allerdings nicht mag, das ist, wenn sich Ausgrenzung gegen Schwächere wendet. Das habe ich schon erlebt, hautnah bei Autist*innen in der angeblich „normalen“ oder integrativen Schule. Dort heißt es manchmal beispielsweise: „Stell dich nicht so an, das helle Licht stört doch sonst auch niemanden“. Das ist so sinnvoll wie zu einer durstigen Person in der Sommer-Hitze zu sagen, dass sie sich nicht so „anstellen“ und kein „Theater machen“ soll.
Unangenehm sind auch manche „Therapien“, wenn sie Autist*innen dazu bringen sollen, sich gegen ihr Wesen zu verhalten und angepasst zu wirken. Das ist für Autist*innen fürchterlich anstrengend und bewirkt danach einen noch stärkeren Zusammenbruch.
Nach Auffassung aller Autist*innen, die ich kenne, sind diese „Therapien“ unfair und ausgrenzend. Besser wäre es, Stärken zu fördern und eine angenehme Umgebung für alle Menschen, auch für Autist*innen, zu schaffen. Wie das geht? Einfach zuhören oder, wenn die Autist*innen nicht sprechen möchten, dann mit Bildern arbeiten. Wir haben dazu jede Menge Hefte mit Zeichnungen zum draufzeigen und reinschreiben, was angenehm ist und was nicht — ist alles gratis auf unseren Websites.
Die Zuschreibung als solche ist für Autist*innen kein Problem, so wie es für eine Bäckerin auch nicht schlimm ist, wenn du sie Bäckerin nennst. Es stimmt ja. Es gibt aber falsche Zuschreibungen. Die nerven. Bei Austist*innen gibt es beispielsweise die Erwartung, dass sie immer hochbegabt sind und dass sie sich dann für einfach alles interessieren müssten. Oder, dass sie sich an für sie zu starke Reize „gewöhnen“ müssen. Oder dass sie „dumm“ sind, obwohl sie nur in der lauten und stark riechenden Schule nicht lernen können; woanders könnten sie es aber einwandfrei.
Neben der Arbeit für und mit Autistinnen und Autisten engagierst du Dich ehrenamtlich auch in vielen anderen Projekten, beispielsweise bei der sehr guten Partei Die PARTEI, den Donaldisten, beim IG Nobelpreises, im Tierschutz, in der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin. Wie bekommst Du persönlich das alles unter einen Hut und wie schätzt Du allgemein die Bedeutung von ehrenamtlicher Tätigkeit ein?
Ich halte mich erstens aus allem, was Diskussionen ergibt, raus, und mache nur mit, wenn schnelle und klare Entscheidungen absehbar sind. Somit werde ich in 99% aller Fälle nicht benötigt. Zweitens plane ich lange im voraus. Drittens sage ich nie vereinbarte Termine ab.
Und viertens arbeite ich 365 Tage im Jahr durch. Mehr ist es nicht.
Zum Ehrenamt kann ich nicht so viel sagen, da ich einfach etwas tue und nicht lange danach frage, wie das Amt heißt oder ob es Arbeit ist oder „zu viel“ oder „zu wenig“ Aufwand oder dienstlich oder privat. Donald Duck (bzw. die Übersetzerin Dr. Erika Fuchs) meint ganz richtig: „Nehmt euch ein Beispiel an den Ameisen! Die fragen nicht erst lange, was sie tun sollen, sondern die tun eben was.“
Empfehlen kann ich diese Technik nicht jedem und jeder, es ist einfach nur meine Art.
Eine praktische Frage: Wir alle können sehen, wie beispielsweise Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrern geholfen wird, indem Gebäude mit Rampen ausgestattet werden. Oder wir hören dieses „tok-toktok“ an Verkehrsampeln, das Menschen mit einer Sehbeeinträchtigung hilft. Aber was können nicht-autistische Menschen tun, um Menschen aus dem Autismus-Spektrum das Leben leichter zu machen?
Vorher ankündigen und besprechen, was geplant ist. Danach so wenige Umplanungen und Änderungen wie möglich durchführen.
– Wie bei allen Menschen: Zuhören, was die Person wünscht und was nicht und es ernst nehmen, anstatt es zu bewerten.
– Rückzugs-Räume schaffen, also wörtlich ruhige Räume.
– Im Kino oder Supermarkt Vorstellungen für ruhigere Menschen anbieten, wo es weniger laut und hell ist und keine starken Gerüche herrschen.
– Autist*innen erlauben, dass sie etwas zum Herumspielen verwenden dürfen, um sich zu beruhigen oder Kopfhörer aufsetzen dürfen.
– Autist*innen fragen, welche Inhalte sie interessieren und diese fördern.
– Am wichtigsten: Nicht versuchen, aus ihnen Menschen zu machen, die sie nicht sind. Gerade Mütter sind oft supergestresst, wenn sie sich an uns wenden. Sie erwarten unbedingt bestimmte „Meilensteine“ im Leben ihrer Kids: Schul-Abschluss, Freund:innen, Ausbildung, Beruf, bestimmte Tages-Abläufe und Freizeit-Wünsche, Partnerschaft, Hochzeit, Enkel, Geburtstage, Jubiläen. Oft sind das aber nur die Wünsche eines Eltern-Teils, nicht der Kids.
Hast Du Tipps, worauf Nicht-Autisten achten können, wenn es für sie einmal holprig wird beim entspannten Umgang mit einer Autistin oder Autisten?
Ja, erstens keine Lügen, auch keine „nett gemeinten“. Nur die Wahrheit. Ehrliche, vollkommene Offenheit. Zweitens: Autist*innen in Ruhe lassen, wenn sich „Ausfälle“ durch Überforderung anbahnen, beispielsweise erkennbar als Wort-Verluste oder scheinbares Stocken im Denken. Jede*r ist anders, aber diese beiden Tipps räumen vieles schon beiseite, bevor es auftritt und dann wirklich alle stört. Und noch ein Geheim-Tipp: Niemals Redewendungen benutzen. Denn die sind mehrdeutig und daher für Autist*innen meist unverständlich oder sinnleer.
In Großbritannien wurde 2018 eine Studie veröffentlicht nach der 12 Prozent von dort untersuchten Obdachlosen Merkmale aus dem Autismus-Spektrum aufwiesen. Der Anteil autistischer Menschen in der Bevölkerung wird auf 1 Prozent geschätzt. Das führte die Wissenschaftler zu der Annahme, dass es einen Zusammenhang zwischen Autismus und Obdachlosigkeit gibt. Deckt sich das mit Deinen persönlichen Erfahrungen oder hast Du sogar eine Erklärung für diesen Zusammenhang?
Wenn ich sehe, wie oft Eltern und Schulen in Abwehr gegen Autist*innen gehen, und wenn ich sehe, wie oft sie sexuellem Missbrauch ausgesetzt sind, dann wäre es kein Wunder, wenn viele von ihnen ohne Schul-Abschluss und die üblichen gesellschaftlichen Verbindungen ihren eigenen Weg suchen oder auf die Straße gespült werden.
Die Untersuchung „Adult Autism in Homelessness: Prevalence, Experiences and Support Needs in an Irish Context — A Mixed Methods Study“ aus dem Jahr 2020 zeigt in Einklang mit der von dir genannten Erhebung, dass bis zu ein Zehntel der zuvor nicht fachlich untersuchten Obdachlosen Autist*innen sind oder sein können.
Das Leben im Allgemeinen und das Arbeitsleben im Speziellen wird immer digitaler. Es gibt Menschen, die das begrüßen und solche, die sich damit schwer tun. Bietet diese Entwicklung Chancen für Menschen aus dem Autismus-Spektrum oder tun sich neue Hürden auf?
Es stimmt schon, dass viele Autist*innen gerne nerdig unterwegs sind, also kauzig und lieber im Internet vernetzt als auf Parties mit echten Menschen in einem Raum. Da sowohl wegen der Corona-Heimbüros als auch durch den Fachkräfte-Mange im digitalen Bereich vermehrt nach Autist*innen gesucht wird, könnte die Digitalisierung etwas bringen.
Das gilt auch für volldigitale Kassen im Supermarkt, bei denen man nicht mit einem Menschen sprechen muss. Jene verbreiten sich ja derzeit auch. Das alles klappt aber nur, wenn Autist*innen als Kids nicht durch Unverständnis und Stress erzeugende Therapien innerlich zerstört werden, so dass sie als Erwachsene dann wegen dem jahrelangen „Gewitter“ aus der Umgebung als irgendwie „unbrauchbar“ gelten oder — auch das haben wir schon erlebt — in einer Werkstatt arbeiten sollen, in der sehr einfache Tätigkeiten gewünscht sind, die für manche geistig behinderten Menschen angenehm sein können.
Wichtig ist auch, von den klassischen Berufs-Abschlüssen abzurücken. Autist*innen haben nun einmal oft Spezial-Interessen. Wozu müssen sie Fächer erlernen, die sie ablehnen? Ich konnte in der Schule beispielsweise Sport, Mathe und Kunst abwählen, dafür aber Chemie, Biologie und Deutsch sehr vertieft betreiben und Projektwochen, unsere Schülerzeitung und den Schüler*innen-Rat leiten.
Meine Eltern haben mir im Kinderzimmer zudem ein Mini-Chemie-Labor erlaubt, und ein Schulfreund konnte seinen Eltern nach einer Labor-Auflösung auch eine größeres Chemie-Ecke abschwatzen, die ich dann nutzen durfte. Andere Schüler*innen liebten Fächer, die ich nicht mochte, und haben ganz andere Wege beschritten — na und? Ist doch prima. Wir haben alle unser Plätzchen im Leben gefunden. Vielfalt macht jede lebenswerte und sturmfeste Gesellschaft aus.
Du betreibst viel Aufklärung rund um das Thema Autismus und bist mit Betroffenen im Gespräch. Dabei wurde sicher schon Einiges erreicht und vermutlich sind Menschen besser informiert als noch vor 10 Jahren. Wo siehst Du die größeren Herausforderungen in der künftigen Aufklärungsarbeit und wo ist akuter Handlungsbedarf?
Menschen sollen von einem Kind nicht erwarten, dass es die gesellschaftlichen und beruflichen Wünsche seiner Eltern oder der Nachbarn oder von sonst wem umsetzt, weil es dann für alle angeblich „einfacher“ ist. Unterstützt die Kids lieber in ihren Interessen und freut euch gemeinsam an dem, was geschieht.
Vielen Dank für das Gespräch.