Insekten, die über Leichen gehen

Quelle: Tierwelt 03/2023, Seiten 40–43, hier gibt es den Artikel als .pdf

Von KARIN SCHNEEBERGER

Foto: Thomas van de Scheck

Nach dem Tod ist das Leben noch lange nicht zu Ende: Forensische Entomologen wie Dr. Mark Benecke beschäftigen sich mit Insekten und anderen Gliedertieren, die Leichen besiedeln. Der Kriminalpolizei hilft das bei der Aufklärung von Todesfällen. Leserinnen und Leser mit einem empfindlichen Magen sollten die nächsten Seiten lieber überspringen.

Wenn ein Mensch verstirbt, wird die Leiche nicht immer sofort entdeckt. In manchen Fällen ist dies sogar Absicht, etwa, weil ein Suizident nicht gefunden werden will. Oder weil ein Verbrechen stattgefunden hat und der Täter oder die Täterin den Leichnam versteckt hat. Nach dem Tod beginnt unmittelbar der Prozess der Zersetzung, bei dem, je nachdem, wo die Leiche liegt, auch Organismen wie Bakterien, Pilze und Insekten involviert sind. Letztere machen sich forensische Entomologen zunutze.

Das Hauptgebiet der forensischen Entomologie ist dabei die Ermittlung der Liegezeit eines Leichnams. Anhand des Alters, der Anzahl und der Arten der gefundenen Insekten können die Spezialistinnen und Spezialisten Aussagen dazu machen, wie lange ein toter Körper bereits an einer Stelle lag und ob der Mensch auch dort gestorben ist. Auch wenn der Gedanke für viele ekelhaft ist: Insekten nutzen sterbliche Überreste als Nahrungsquelle und Bruststätte und werden bereits innerhalb kurzer Zeit von Leichengeruch angezogen. Je nach Verwesungszustand, Temperatur und Feuchtigkeit findet man dabei verschiedene Arten, ihre Eier und Larvenstadien.

Dr. Mark Benecke ist Deutschlands einziger vereidigter Sachverständiger für Untersuchung, Sicherung und Auswertung von kriminaltechnischen Spuren. Der Fachmann für Kriminalbiologie hat sich insbesondere auf Insekten und andere Gliedertiere spezialisiert und untersucht mit seinem Team Fälle, bei denen die Polizei nicht weiterkommt.

Herr Benecke, sie sind der wahrscheinlich bekannteste forensische Entomologe im deutschsprachigen Raum und werden gerne als «Herr der Maden» bezeichnet. Haben Sie ein Lieblingsinsekt?

Zum einen bin ich Pate der Markusmücke (Bibio marci) im Museum für Naturkunde in Berlin. Die leben auf dem uralten Friedhof gegenüber dem Labor in der alten Zoologie in Köln, wo ich meine Diplomarbeit geschrieben habe. Käsefliegenlarven (Piophila casei) sind auch super, die können springen und krümmen sich vorher wie ein Croissant zusammen. Ausserdem schreien alle im Labor noch lauter, wenn diese Maden aus einem Leichensack springen. Und Rotbeinige Schinkenkäfer (Necrobia rufipes) sehen aus, als wären sie in metallischem Blau lackiert, dazu die rotbraunen Beine, einfach toll. Allerdings sieht die kein normaler Mensch, denn sie sind nur an halb vertrockneten Leichen zu finden.

Sie sehen täglich ganz andere Lebewesen als die meisten von uns. Wie viel Leben steckt in einem toten Menschen?

Ein ganzes Füllhorn voll Leben! Umso mehr, wenn die Leiche zum Beispiel in einem Wald liegt. Dann kommen nebst den Schmeissfliegenmaden schnell noch andere Insektenarten, Spinnen und Gliedertiere dazu. Allerdings findet man inzwischen immer weniger von diesen Tieren an den Leichenfundorten. Ich setze mich darum auch dafür ein, dass etwas getan wird, damit nicht ganze Tiergruppen aussterben. Bei «meinen» Tieren, den Insekten, wird es ja oft belächelt, das Aussterben.

Maden gelten als unsexy und ekelig. Dabei sind es hoch angepasste und schöne Lebewesen. Das Insektensterben ist ein weiterer Beweis für den Zusammenbruch ganzer Ökosysteme. Und viele wissen auch nicht, dass zum Beispiel viele Pflanzen von Fliegen bestäubt werden.

Macht die Abnahme der Insektenvielfalt die kriminalbiologischen Untersuchungen ungeklärter Todesfälle schwieriger?

Diverse Fliegen- und Kurzflüglerarten besiedeln Leichen. Sie geben den Forensikern Hinweise zu Todesart, Liegezeit und bei einem Tötungsdelikt vielleicht sogar zum Täter.

Ja. Mal abgesehen davon, dass dadurch auch die gesamten Lebensnetze zusammenbrechen und wir dann nichts mehr zu essen haben. Allerdings: Ohne Menschen gäbe es auch keine Verbrechen mehr. Vor 19 Jahren ist mir das Insektenproblem erstmals aufgefallen. Damals starben uns im Sommer die Schmeissfliegen weg, deren Larven wir als kleine Uhren zur Leichenzeitbestimmung verwenden. Und wenn wir uns alte Fälle ansehen, dann staunen wir, was da alles an Insekten, Spinnentieren, Asseln, Schnecken und Krabblern aller Art an den Leichen war.

Nebst den Insekten da draussen haben Sie selber auch Insekten zu Hause.

Ja, Fauchschaben (Gromphadorhina portentosa). Die heissen so, weil sie fauchen können, also eigentlich zischen. Davon haben wir so um die 150 bis 200 Stück. Sie haben mich bis vor drei Jahren auch oft zu Vorträgen begleitet, seitdem dürfen sie wegen der oft unerträglichen Todeshitze chillen und gehen nicht mehr auf Reisen.

Helfen die Ihnen auch bei der forensischen Arbeit?

Nein, die unterhalten mich nur. Beziehungsweise: Ich unterhalte sie. Sie sind total gelehrig. Viele denken vielleicht, dass Schaben gar nicht das Nervensystem dafür haben. Aber sie merken, wie ich an ihrem Terrarium entlanglaufe, ob ich das Licht anmache, weil sie etwas zu fressen kriegen oder einfach nur so. Entsprechend reagieren sie. Umgekehrt lerne ich auch etwas von ihnen, zum Beispiel, dass sie ein Sozialverhalten haben.

Trotzdem finden viele Leserinnen und Leser die Tiere und Ihre Arbeit sicher ekelig. Zu Recht?

Verwesung ist nichts Widerliches, sie ist notwendig für den Kreislauf des Lebens, sonst würden sich überall tote Menschen und Tiere stapeln. Maden und Schaben sind aufrechte, coole, vernünftige Gegenüber. Sie sind wichtige, schöne, informative, biologisch sinnvolle Lebewesen. Überhaupt zerlegen Insekten Stoffe und machen sie so verfügbar für die Natur. Ich mag alle Tiere. Überflüssig sind nur wir Menschen, sowohl von der Biomasse als auch von der Artenvielfalt her. Der Mensch ist ein kleiner, guter, freundlicher Witz der Evolution.

Und wie ist das, wenn man praktisch jeden Tag Leichen sehen muss?

Für mich ist eine Leiche ein Spurenträger. Mein Gehirn filtert alles heraus, was keine Spuren sind. Das ist aber ein Persönlichkeitszug, das kann man nicht lernen. Ich betrachte das Ganze nicht vom Gefühlsstandpunkt aus, sondern rein wissenschaftlich. Wenn ich einen Tatort oder eine Leiche untersuche, dann habe ich dabei keine weiterführenden Gedanken. Schon eher, wenn ich bemerke, dass bei der Aufklärung eines Falles Fehler gemacht wurden und etwa die falsche Person verurteilt worden ist.

Wie oft helfen Insektenspuren tatsächlich bei der Lösung eines Falles?

Das hängt vom Interesse der Ermittlerinnen und Ermittler ab. Wir haben Jahre gehabt, da sind wir im Sommer jeden Tag rausgefahren, weil es etwas für uns zu tun gab. Heute gibt es andere Schwerpunkte, und wir arbeiten eher mit Blutspuren, Fingerabdrücken, DNA und so weiter. Darüber berichten aber nicht so viele, weil es nicht so spannend ist.

Halten sich Tote heute länger, zum Beispiel weil wir mit Chemie vollgepumpt sind oder mehr rauchen?

Nein, was Tote länger haltbar macht, ist Vertrocknung.

Durch die Klimaveränderung könnte das in Zukunft häufiger passieren. Ausserdem stimmt das mit der Chemie nicht ganz. Man denke etwa daran, dass früher viele Leute in Bergwerken gearbeitet haben, deren Lungen oder die Haut waren letztlich voll mit Schwermetallen.

Früher konnten sich viele Menschen keine richtigen Beerdigungen leisten, sodass man sie oft nicht so tief begraben hat. Manche wurden dadurch von Tieren ausgebuddelt, und dann ging es halt schneller mit der Verwesung.

Gibt es eine Möglichkeit, nachhaltig zu sterben, also mit einem kleinen ökologischen Fussabdruck?

Am besten wäre, wenn die Leute nach dem Tod einfach verwesen würden. Das würde auch sehr schnell gehen. Wir entziehen dem Kreislauf ständig die Stoffe, auch wenn wir uns kremieren lassen. Wenn wir verbrannt werden, wird sehr viel in die Luft geblasen, was für lange Zeit nicht mehr für den Kreislauf des Lebens verfügbar ist. Ausserdem kostet es viel Energie, so einen menschlichen Körper zu verbrennen.

Wenn eine Leiche verwest, leben dann ihre Zellen gewissermassen nach dem Tod weiter?

Egal, ob man erdbestattet oder kremiert wird, das Endergebnis ist immer die völlige Auflösung bis auf die Atome. Diese werden recycelt. Zellen und Moleküle bleiben nicht übrig, aber die Atome «leben» gewissermassen weiter.

Verstehe ich das richtig, Sie glauben also an ein Leben nach dem Tod?

Aber sicher, da kommen noch Käfer, Fliegen, Larven, Bakterien und vieles mehr. Der Tod ist nicht das Ende. Das führt uns wieder zu den Krabbeltieren.

Gibt es eigentlich auch irgendetwas, das Sie eklig finden?

Haare im Abfluss und tierische Nahrungsmittel. Ich lebe selbst seit Langem vegan.

Was halten Sie als Madenspezialist und Veganer denn davon, Maden als Ersatz für konventionelles Fleisch zu essen?

Ich finde es keine gute Idee, denn am Ende des Tages muss man die Tiere ja ernähren. Das führt eine zusätzliche Stufe des Wasser- und Energieverlustes ein. Jede Monokultur von Tieren oder Pflanzen ist total störanfällig, man muss massenhaft Antibiotika draufkippen, was auch volks- und betriebswirtschaftlich Kosten verursacht. Es gibt zwar viele Kulturen, in denen Insekten schon immer gegessen wurden. Man greift aber zu tief in natürliche Ökosysteme ein, um eine genügende Menge Eiweiss zu erzielen, wenn man auf Monokulturen verzichten will und die Tiere aus der Natur nimmt. Damit zerstört man Nahrungsnetze. Egal, wie man es dreht und wendet, es funktioniert mit Tieren als Nahrung nicht.

Sie beschäftigen sich nicht nur mit Insekten, sondern auch mit anderen Spuren. Unter anderem haben Sie 2003 den Schädel von Adolf Hitler untersucht. Reizt es Sie, diese Untersuchungen weiterzuführen?

Eigentlich nicht. Also das Einzige, was mich daran noch reizen würde, wäre eine Studie zu Erbsubstanzbestandteilen, die auf einer Serviette von einem Verwandten Hitlers gefunden wurden. Daraus ging hervor, dass er von einer Linie nordafrikanischer Juden abstammt. Das wäre für mich tatsächlich der einzige interessante Grund.

Man könnte Hitlers Zähne aufzubohren, um das endgültig zu beweisen. Wenn das tatsächlich so ist, dann lach ich mich tot.


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