Buchbesprechung: "Henk Schiffmacher: Tattoos 1730—1970" (Überformat)

Quelle: Frankfurter Allgemeine Zeitung (F.A.Z.), Feuilleton, 19. Jan. 2021, Seite 10

TATTOO. 1730s-1970s. Henk Schiffmacher's Private Collection (Überformat), Hardcover, 27. Nov. 2020, von Noel Daniel (Herausgeberin) & Henk Schiffmacher (Autor)

So groß dürfte kein Kaffeetisch sein, dass dieses Buch noch darauf passte. Doch das ist Henk Schiffmacher zum Glück und eh schon immer egal. Das Vorläuferwerk, vor 25 Jahren ebenfalls bei Taschen erschienen, war für damalige Verhältnisse schon ein Buchblock unbekannter Maße und hieß schlicht 1000 Tattoos. Unvergessen darin Henks Widmung: “Für den einzigen Menschen, dem ich traue: mir.”

Für sein übergroßes Tätowier-Museum, in dem auch leibhaftige Tätowiererinnen und Tätowierer arbeiteten, verfrachete Schiffmacher sogar ein ganzes Gebäude aus fernen Landen nach Amsterdam. Er mag es halt groß und into the face, gemäß der nicht nur für Hautbilder geltenden Wahrheit bold will hold.

Auf fast 450 schweren Seiten gestrichenen Papiers hat Henk nun, nachdem er die Grafikerinnen und Grafiker des Verlages angesichts des alten Materials vermutlich in den Wahnsinn getrieben hat, einen deutsch-, französisch- und englischsprachigen Schlusspunkt unter die Tätowier-Wälzer unserer Zeit gesetzt. Vorausgegangen waren die eher auf das Verhältnis von ‘Tatauierungen’ mit ihren Trägerinnen und Trägern zielende, ebenfalls großformatige Werke von Karl von den Steinen Die Marquesaner und ihre Kunst (1923), Herbert Hoffmanns Bilderbuchmenschen (2002), Lars Krutaks Spiritual Skin (2013) sowie die schwerpunktmäßig Tätowiervorlagen behandelnden Sammlungen der Tätowierer Jonathan Shaw (2015), Christian Warlich — zur Ausstellung im Museum für Hamburgische Geschichte (2019) — sowie Herbert Hoffmanns nahezu kommentarloser Band Traditionelle Tattoo-Motive aus dem Jahr 2008.

Da Bilder auf Haut und deren Vorlagen von den Wänden alter Tätowierstuben bildgewaltige Bücher ermöglichen, gibt es auch thematisch engere Zusammenstellungen, etwa die mehrbändige Russian Criminal Tattoo Encyclopaedia, die, ebenfalls hardcovergebunden, nichts als russische Knast-Tätowierungen zeigt. Der derzeit von mehreren deutschen Gerichten verhandelte Unsinn, dass Tätowierungen daher beispielsweise bei der Polizei nichts zu suchen hätten, ohwohl diese eine der meist tätowierten Berufsgruppen ist, fußt auch auf letztgenannter Buch-Serie. Schade nur, dass die geistlos Hautbilder Schmähenden sich bloß mottenzerfressene Belege für ihre Vorurteile suchen.

Denn schon 1912 schrieb Wolfgang Hauschild aus dem Pathologischen Institut in Dresden im bis heute erscheinenden, honorigen Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik: “Wenngleich Tätowierte in den niederen Volksschichten vorherrschen, so ist damit noch keineswegs gesagt, dass sich in den oberen Schichten der Bevölkerung nicht gleichfalls — und zwar nicht wenig! Tätowierte finden lassen.” Auch zu den angeblich oft so tiefen Seelengründen berichtete bereits 1901 Dr. Berger aus Hannover, dass oft genug eher Spaß an der Freude oder Lust am Souverir vorliegen. “Fragt man viel Tätowirte nach dem Warum, Wo, Wie ihrer Tätowierungen”, so der Gefängnis-Arzt, “so antworten sie mit einer sehr bezeichnenden Gebärde, mit einem Achselzucken, einem Lächeln, als ob sie einem die Stelle aus der Strauss'schen Fledermaus vorsingen wollten: ›S'ist mal bei uns so Sitte‹, ›Chacun à son goût‹.”

Aus dieser Zeit, in der noch nicht die Namen verstorbener Angehöriger, sondern die Erinnerung an ein Liebchen jenseits des Ozeans, ‘Jail Bait’ — zu junge Geliebte oder solche, die gefängnisträchtigen Ärger bewirken —, Segelschiffe, Anker, Schlangen, Adler und Drachen die Häute der Menschen verschönerten, stammen die Bilder und kurzen Erläuterungen im vorliegenden Werk. Hautverzierende Narbenmuster, “primitive Südseeornamenik” (von den Steinen), japanische oder japanisierte Tätowiervorlagen und hervorragend bearbeitete Studio-Fotos finden sich ebenfalls überreichlich in diesem Werk der Liebe zum Hautbild und seinen Trägerinnen, Trägern und Herstellern.

Es macht richtig viel Spaß, im Buch stilistische Vergleiche beispielsweise zwischen den Zeichnungen von Erzminen-Arbeiter und Schildermaler Alfred Hunter Mingins und jenen des Briten Joseph Hartley anzustellen. Wo bei Mingins der oft starre Blick zu Betrachterin und Betrachter herrscht, springen bei Hartley nackte Damen in roten Absatzschuhen Hoppereiter, verbiegen sich wie im Zirkus oder stürzen bekleidet samt einer soeben abgerissenen Schaukel auf einen beleibten Monokelträger. Ganz schön was los im Buch.

Selbst, wer sich in die deutsche Tätowiergeschichte eingefuchst hat und daher sowohl das Werk von Tattoo Samy a.k.a. Horst Streckenbach aus Frankfurt am Main als auch das Altherren-Trio Herbert Hoffmann, Karlmann Richter und Albert Cornelissen aus St. Pauli — verfilmt im Jahr 2004 als “eine der anrührendsten Geschichten, die je in einem Dokumentarfilm dargestellt worden ist” (Kinozeit) — kennt, wird bei Schiffmacher & Daniel neue Welten entdecken. Denn dass Lady Viola in den 1920ern sechs Präsidenten und das Capitol auf ihrem Leib trug und Nelly Artura sich in den 1930ern erst sechs Monate lang von ihrem Mann tätowieren ließ, um dann mit Yekoba “the Wild Man” Ryan, durchzubrennen, durfte ich erstmals aus den treffenden und kurz gefassten Bildtexten neben den erstklassig wiedergegeben Fotografien entnehmen. Etwas bekannter könnte ‘Lydia, the Tattooed Lady ’ aus dem gleichnamigen Lied von Groucho Marx aus dem Jahr 1939 sein, die zwar selber unbekannt bleibt, aber in Gestalt vieler damals die Menschen an- oder ausziehender und eben tätowierter Frauen durch den Band geistert: “When her Robe is unfurled / She will show you the world.”

Natürlich kommen auch Kerle vor. Nicht nur waren Tätowierer damals ohnehin männlich, sondern auch die Kunden meist Jungs aus jeder heute ‘sozioökonomisch’ genannten Schicht. Ole Hansen etwa, nicht der einzige damalige Tätowierer, der in oder unter einer Bar arbeitete — sein Laden besteht nach einigen Kämpfen, an denen auch ich beteiligt war, übrigens noch immer als älteste Tätowierstube der Welt im Nyhavn in Kopenhagen — ist auf einem fantastischen Großformat-Foto ebenso vertreten wie seine erstklassigen Tattoovorlagen, die im besten Sinne oldschooliger nicht sein könnten.

Das alles ist gigantomanisch, wunderschön und zum Niederknien.

Mark Benecke ist Vorsitzender von Pro Tattoo und Ehrenmitglied des Institutes für Deutsche Tattoogeschichte. Bis zur Einstellung des Tätowiermagazines im Jahr 2020 war Benecke dessen Autor. Er trägt eine der letzten Tätowierungen Herbert Hoffmanns und allerlei im Amsterdamer Rotlichtviertel gestochen Seemännisches auf seiner Haut, die seit einer Ausstellung im Grassi-Museum für Völkerkunde in Leipzig sogar digitalisiert zu betrachten ist.





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