Diskussion zu "Tätowierungen und Kriminalität"

Quelle: Kriminalistik, Heft 5/2010, Seiten 315 bis 316



Replik und Erwiderung: Diskussion zu "Tätowierungen und Kriminalität von Gerhard Schmelz in KRIMINALISTIK 2/2010, S. 102-110

Von Mark Benecke, Dirk-Boris Rödel und Ewelin Wawrzyniak

Die Aussage im o. g. Artikel, dass sich aus Tätowierungen "häufig" und "zweifelsfrei" Rückschlüsse auf das soziale Umfeld ziehen lassen, ist unrichtig und wird durch die vorgestellte Studie nicht gestützt.

Richtig ist hingegen die ebenfalls aus dem Artikel stammende Aussage, dass "ein (direkter) Zusammenhang zwischen Kriminalität und Tätowierungen (...) nur in Ausnahmefällen" besteht. Wir würden sogar weiter gehen und sagen, dass der Zusammenhang überhaupt nicht nachweisbar ist. [Nachtrag: Dies wurde erneut Jahr 2014 auch durch die Bochumer Studie gezeigt.]

1. Mangelnde Logik der Studie

Ein Beispiel: Deutlich mehr Studierende, die tätowiert sind, sind auch eher sexuell aktiv (2,5). Gibt es aber einen Zusammenhang zwischen diesen Tatsachen? Nein, denn der scheinbare Zusammenhang kann viele Gründe haben: Die gesellschaftspolitische Ausrichtung der Jugendlichen (ein Konservativer wird eher als ein Liberaler Sex vor der Ehe ebenso wie Tätowierungen ablehnen), das Persönlichkeitsmerkmal "Experience Seeking" (Experience Seeker haben mehr Sexualpartner) (12) aus der persönlichkeitspsychologischen Forschung [1] oder sogar die Anzahl der Umzüge (wer früher umzieht, hat mehr Sex) (5). Es ist also völlig unmöglich, ohne Kontrollgruppe herauszufinden, wer warum welches Tattoo hat.

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Ein weiteres Beispiel: Je nach Bundesstaat in den USA sind die meisten tätowierten Jugendlichen gleichzeitig häufige Kirchgänger (5). Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun.

2. Ausnahmefälle

Die im Artikel genannten "Ausnahmefälle" sind Menschen, die Verbrechen begehen und zufällig auch tätowiert sind. In aller Regel sind Tätowierte aber ganz normale Menschen, wie jede der Hunderten von Tattoo-Conventions der vergangenen Jahre zeigt.

Die Anzahl tätowierter Polizisten und Polizistinnen ist nach unserer Kenntnis sogar höher als in anderen Berufen — vielleicht deswegen, weil sich hier Menschen mit Interesse an einer besonderen, oft aufregenderen Tätigkeit zusammenfinden, oder auch, weil es sich um Menschen handelt, die ganz im Gegenteil an besonders starker Struktursicherheit interessiert sind. Man sieht: Es ist wegen der vielen unbekannten Einflüsse unmöglich, hier Ursache und Wirkung festzustellen.

TätowierMagazin, Heft Januar 2019 (Jubiläumsheft "50 Jahre TM"), S. 30—32 (mit Dank an Boris "Bobs" Glatthaar)

3. Stichprobenfehler

Durch die mangelnde Beteiligung von Tätowierstudios (nur drei Studios von europaweit vielen tausend Studios haben teilgenommen) und die fehlende Befragung "normaler Menschen" ist selbst eine qualitative Auswertung außerhalb der in der Studie entstandenen Stichprobe - nämlich vorwiegend Delinquenten - nicht möglich.

Auch, dass als direkte Referenz bloß die Russian Criminal Tattoo Encyclopaedia aufgeführt und als einzige Abbildungs-Quelle verwendet wurde, zeugt von dieser blinden Stelle der Untersuchung. Was haben die Gewohnheiten von Straftätern, die in Russland einsitzen, mit den kulturell und sozial davon völlig unterschiedenen, zentraleuropäischen Verurteilten zu tun? Wie genau setzen sich die beiden Gruppen zusammen, wie grenzen sie sich ab, sind es überhaupt kriminalistisch sinnvoll beschreibbare Gruppen? Warum tragen Hunderttausende Nicht-Krimineller in Deutschland die in der Studie beschriebenen Symbole als Tattoos?

3. Erkennungsdienstliche Aspekte

Die vorgestellte Studie hat in sehr engen Bereichen der Kriminalität (etwa unter russischen Gefangenen oder bei unidentifizierten Leichen) eine ganz normale erkennungsdienstliche Bedeutung — vergleichbar mit der Augenfarbe, der Struktur der Iris oder ähnlichen biometrischen Merkmalen. Das ist jedem Kriminalisten klar.

4. Symbolgehalt von Oldschool-Tattoos

Den Leser und Leserinnen könnte der starke Stichprobenfehler und die mangelnde Logik der Studie nicht auffallen. Wir möchten daher die Aussage der Studie, dass "ein Tattoo somit grundsätzlich individuell" ist, noch einmal sehr deutlich unterstreichen:

  • Tätowierungen sind heutzutage zum weit überwiegenden Teil Ausdruck von Lebensfreude und Gestaltungswillen und bestenfalls ein persönliches Erkennungsmerkmal, so wie ein Schmuckstück oder der Spitzname einer Person.

  • Die Zuordnung der Tattoo-Motive "Totenköpfe, Blumen (Rosen), Fabelwesen, Herzen, Schlange, Buchstaben, Drachen, Frauen, Kreuze" zur Kategorie "gewalttätig und/oder bewaffnet" sowie "Tiere, Schriftzeichen, Tribals, Herzen, Fabelwesen, Totenköpfe, Kreuze, Blumen" zu "geisteskrank" zeigt, warum die Ergebnisse nicht aussagekräftig sind. Wäre dem so, dann wären die meisten Geisteskranken bewaffnet oder die meisten Bewaffneten geisteskrank — und tätowiert. Übrigens wären damit auch fast alle Tätowierten mögliche Straftäter, weil die obige Liste die gängigsten Motive von weltweit vielen Millionen von Menschen aufführt. Die weit überwiegende Zahl von ihnen hat noch niemals eine Straftat begangen.

  • Wir stimmen der - bei Todesermittlungen ohnehin üblichen - Auswertung von Tattoos als individuelles Erkennungsmerkmal natürlich zu. Der im Artikel geforderten Einrichtung einer Datenbank dürfte aber jeder Wert fehlen, weil Tätowierungen mit den meisten in der Studie genannten Motiven mittlerweile — auch unter Polizistinnen und Polizisten — so weit verbreitet sind, dass der ehemals vielleicht vorhandene (kriminalistisch auswertbare) Symbolgehalt kaum noch ermittelbar ist. Das gilt besonders auch für den abgebildeten Tiger und den Teufel. Dabei handelt es sich um zwei besonders häufige und daher besonders wenig aussagekräftige Tätowierungen (u. a. 11).

Haargenau die in der Studie angegeben Oldschool-Motive sind seit acht Jahren auch die einzigen Stil-Elemente der sehr großen und jedem Jugendlichen bekannten Mode-Marke "Ed Hardy" (2002; seit 2004 "Ed Hardy by Christian Audigier"). Sie wurde von einem der bekanntesten Tätowier-Künstler der Welt — Don Ed Hardy — gegründet, der deutlich mehr Wert auf die künstlerische Komponente als auf subkulturelle Aspekte legt.

Heute werden gerade Stil-Elemente wie ursprünglich "Rache" (Dolch) oder "Kraft" (Tiger) nur noch als Widerhall alter Zeiten verwendet. Die Motive sind mittlerweile massenhaft auf Damentäschchen und Sonnenschutz-Blenden für Autos abgebildet.

Wer mit offenen Augen durch eine beliebige deutsche Stadt oder sogar in Billig-Kleider-Läden geht, wird an einem einzigen Nachmittag dutzende dieser Produkte sehen, deren Träger den ursprünglichen Gehalt der Motive — ob tätowiert oder auf Mode-Produkte gedruckt — oft noch nicht einmal ahnen.

  • Der durch die einseitige Stichprobe ohne Kontrollgruppe konstruierte Zusammenhang zwischen Tätowierungen und Kriminalität (hier: Organisierter Kriminalität, Rechtsradikalismus usw.) war und ist ein reines Artefakt, das schon seit dem neunzehnten Jahrhundert die kriminalistische Gedankenwelt durchgeistert (4, 6-9), aber bereits seit hundert Jahren in der Fachliteratur widerlegt ist (3, 10 & Ergänzungen).

Schon 1912 schrieb Wolfgang Hauschild aus dem Pathologischen Institut in Dresden über die damals modischen Studien zu Tätowierten und Kriminalität im der bis heute bestehenden Fach-Zeitschrift Archiv für Kriminologie (früher "Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik"):

"Für den Gang der anthropologischen Untersuchung genügt es nicht, Stichproben zu machen, sondern die Untersuchungen müssen sich auf ein großes, möglichst gleichwertiges Material gründen und zugleich die Individualität des Untersuchten eingehend in Betracht ziehen.

Die größeren statistischen Erhebungen fußen daher auf ziemlich umfangreichem Material, das entweder Kasernen oder Gefängnissen entnommen ist. Leider haftet infolgedessen diesen Unternehmungen eine gewisse Einseitigkeit an, die leicht zu falschen Schlüssen führen kann.

Wenngleich die Tätowierten in den niederen Volksschichten vorherrschen, so ist damit noch keineswegs gesagt, dass sich in den oberen Schichten der Bevölkerung nicht gleichfalls — und zwar nicht wenig! Tätowierte finden lassen. "

(Nachträgliche Ergänzung; nicht im Original-Artikel enthalten; M.B., 16. April 2013, mit Dank an Achim Reisdorf / Bericht des Gefängnis-Arztes von Hannover, Dr. Berger aus dem Jahr 1901:)

"Leppmann bestritt ebenfalls die anthropologische Einheit in der Art der eingestochenen Zeichen, er führt die Häufigkeit des Vorkommens von Tätowirungen bei Gefangenen mehr auf äussere, als auf innere Ursachen zurück. (...)

Fragt man viel Tätowirte nach dem Warum, Wo, Wie ihrer Tätowierungen, so antworten sie mit einer sehr bezeichnenden Geberde, mit einem Achselzucken, einem Lächeln, als ob sie einem die Stelle aus der Strauss'schen Fledermaus vorsingen wollten: s'ist mal bei uns so Sitte, Chacun à son goût"

5. Schluss

Die Entscheidung für ein Tattoo, einschließlich der Wahl der Motive, ist seit gut fünfzehn Jahren derart frei und oft auch zufällig bis geschmäcklerisch, dass die kriminalistische Erfassung in Bezug auf deren Symbol-Wert — außerhalb der ohnehin schon seit Jahrhunderten üblichen, sozusagen biometrischen EinzelfaIIbetrachtung (Leichenidentifizierung, Fahndung) — in Datenbanken (vgl. 4) ohne jeden Nutzen und daher fachlich kriminalistisch, aber auch aus psychologischer und kultureller Sicht, als unrichtig, anachronistisch und seit einem Jahrhundert erledigt abzulehnen ist.

Wir hoffen, mit diesen Hinweisen und dem Bezug auf alte und neue Quellen einen Gedanken-Anstoß in Richtung kriminalistisch aussagekräftigerer, modernerer Studiendesigns bewirken zu können.


Quellen:

(1) Amelang, M., Bartussek, D., Stemmler, G., Hagemann, D. (2006) Differentielle Psychologie und Persönlichkeitsforschung. 6., vollst. überarb. Auflage, hier: S. 328 ff. (Sensation Seeking)
(2) Benecke, M. (2009) Sex mit tätowierten Christen. In: Warum man Spaghetti nicht durch zwei teilen kann. Lübbe, Köln, S. 15-17.
Ergänzung, April 2013 → Berger (1901) Tätowirung bei Verbrechern. Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medicin und öffentliches Sanitätswesen, 3. Folge, 22. Bd., 56-62
(3) Hauschild, W. (1912) Zur Tätowierungsfrage: Ein Fall von Tätowierung des Hinterkopfes. Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik 45: 60-80 (hier: S. 64-65)
(4) Jager-Amberg, J. (1905) Tätowierungen von 150 Verbrechern mit Personalangaben. Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik 18: 141-168 (tabellarische "Datenbank")
(5) Koch, J. R., Roberts, A. E., Armstrong, M. L., Owen D. C. (2005) College students, tattoos, and sexual activity. Psychological Reports 97: 887-890
Ergänzung, April 2013 → Leppmann (o.J.) Die criminalpsychologische und criminalpraktische Bedeutung des Tätowirens der Verbrecher. Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medicin und öffentliches Sanitätswesen, 8. Bd., 2. Heft
(6) Littleton Robins, W. (1902) Tätowirung. In Eine Studie über Postamtsverbrecher. Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik 8: 248-259 (hier: S. 257)
(7) Lombroso, C. (1874) Sul tatuaggio in Italia, in inspecie fra i delinquenti. Archivo par I'antropologia e la etnologia 4: 389-403
(8) Lombroso, C. (1896) The Savage Origin of Tattooing. Popular Science Monthly 4: 793-803
(9) Näcke, P. (1902) Tätowierungen bei Geisteskranken. In: Die Hauptergebnisse der kriminalanthropologischen Forschung im Jahre 1901. Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik 9: 141-148
(10) Renneville, M. (1994) L'anthropologie du criminel en France. Criminologie 27: 185-209
(11) Rödel, D. B. (2004) Alles über japanische Tätowierungen. Die japanische Tätowierkunst der Edo-Zeit und ihre Entwicklung bis zur Gegenwart. Arun-Verlag, Uhlstädt/Huber Verlag, Mannheim, 170 S.
(12) Wawrzyniak, E. (2009) Ist das Persönlichkeitskonstrukt "Experience Seeking" bei Sadomasochisten stärker ausgeprägt als bei Nicht-Sadomasochisten? Eine Betrachtung des Experience Seeking und anderer psychologischer Faktoren. Ruhr-Universität Bochum, Fachbereich Psychologie, 180 S.  


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