Rainer Biesinger & Max Klute: Toxisch
1. Aufl.: 13. Juli 2020, Sachbuch Medizin und Gesundheit. Springer / Nature, Heidelberg & Berlin, XXV, 270 S., 38 Abb., mit Online-Extras, Druck-Ausgabe ISBN 978-3-662-60677-3, S. VII—IX.
Medizin-Studierende lernen auf Speed, in Berlin sind die Nächte schneeweiß, in Dresden und Regensburg geistert Crystal durch die Partys, und ganz im Westen gibt’s noch Shore und Gras. Der (gute) Rapper Finch Asozial macht so selbstverständlich Witze über Pillen in der Bauchtasche, dass Oma und Opa, wenn sie denn Rap hörten, vielleicht nachdenklich würden. Ich selbst habe schon 1997 für die Zeitschrift Kriminalistik MDMA-Kids befragt, die freiwillig ihr Ecstasy weggetan haben, weil sie keinen Bock mehr auf kuschelige Freundinnen und Freunde hatten, an die sie sich später nicht mehr erinnern konnten.
In den USA sterben zehntausende von Menschen (derzeit täglich 130) an künstlich hergestellten Beruhigungsmitteln. Als ich auf der größten forensischen Tagung – bei der American Academy of Forensic Sciences – direkt neben dem Leiter des wohl größten Gift-Untersuchungslabors der Welt stand, hatte er Tränen in den Augen. „Die meisten dieser Menschen“, sagte er zu mir, „sind ganz normale Leute, die von Medikamenten abhängig geworden sind.“
Und jetzt? Leider nichts „und jetzt“. El Mencho aus Mexiko, auf dessen Kopf im Moment (2019) zehn Millionen Dollar ausgesetzt sind, verdient mit Koks so viel Geld, dass er im Jahr 2012 neun seiner Gegner – vier Frauen und fünf Männer – erhängt von einer Straßenbrücke baumeln ließ. Er kann machen, was er will, und genau das tut er auch. Falls Sie sich fragen, wie viel Geld er wohl verdient: Je nach Schätzung werden weltweit zwischen dreihundert (Interpol) und fünfhundert (Staatsanwaltschaft Halle) Milliarden Dollar mit illegalen Drogen umgesetzt — ohne Alkohol, versteht sich. Denn der ist ja in den meisten Ländern legal.
Das Bundeskriminalamt und der Bund Deutscher Kriminalbeamter besprachen schon im Jahr 2014 offiziell, dass Drogenverbote nichts bringen, da der „Kampf“ – Zitat von der Titelseite der Fachzeitschrift der kriminalist – „aussichtlos“ ist. Kurz zuvor hatten 123 Strafrechtsprofessorinnen und -professoren, auch mit Verweis auf eine Untersuchung der Vereinten Nationen von 2008, eine Erklärung des Schildower Kreises unterschrieben. Sie stellt fest, dass Drogenverbote zwar verhindern, dass Menschen über die Eigenschaften von Substanzen aufgeklärt werden, sonst aber keinen Nutzen haben. O-Ton: „Die Prohibition fördert die organisierte Kriminalität und den Schwarzmarkt, behindert eine angemessene medizinische Versorgung, und es erodieren staat- liche Grundstrukturen.“ Das wusste man zwar schon seit der Alkohol-Prohibition in den USA in den 1920er-Jahren, aber hey. Ist ja schon was her.
Neuerdings stellt sich in den USA heraus, dass der legale Verkauf von Cannabisprodukten – nicht von Cannabisfaser-Ökoprodukten, sondern solchen mit dem Wirkstoff THC – mehr Steuereinnahmen bringt als der Verkauf von Alkohol. Im Jahr 2018 nahmen die Staaten Washington, Kalifornien, Oregon und Colorado zusammen eine Milliarde Dollar an Steuern aus legalen Marihuana-Verkäufen ein. Dieses Geld wird unter anderem zur Erneuerung von Schulen und für Drogenaufklärungsprogramme eingesetzt. Zack!
Traue ich nach vielen Jahren kriminalistischer Arbeit Menschen zu, offen und vernünftig mit sich selbst und mit Drogen umzugehen? Nicht immer. Glaube ich, dass Demokratie die beste Staatsform ist? Es ist die beste, die wir kennen. Denke ich, dass Cannabis nach all den Jahren auch in Europa legalisiert werden wird? Vermutlich. Es gibt schließlich keinen Grund, es nicht zu tun. Siehe oben.
Ich weiß, dass die Wirklichkeit ohne Drogen – auch ohne Alkohol – auf Dauer bunter, verrückter, liebenswerter und spannender ist als jeder Roman, Film oder Rausch. Drogennotstände wie heute in den USA sind Auswuchs und nicht die Ursache dessen, was in einer überdrehten Welt auf die Menschen herniederprasselt.
Lesen Sie daher gerne den folgenden, persönlich gehaltenen Bericht, der einen strubbeligen, wilden Strauß an Daten und Aussagen liefert. Das Buch dient der Aufklärung – und die müssen Sie nun mal selbst besorgen.
Mark Benecke
Pressemitteilung von Springer Berlin Heidelberg New York
Deutschlands Dilemma mit der Drogenpolitik
Plädoyer für eine zeitgemäße Drogenpolitik | Springer-Sachbuch zweier ‚Brückenbauer‘ erscheint rechtzeitig zum Weltdrogentag am 26. Juni 2020
Heidelberg, 17. Juni 2020 © Springer
In die zerstörerische Abhängigkeit von Drogen begeben sich Menschen aller Gesellschaftsschichten und unterschiedlichen Alters. Tendenz steigend. „Allein in Deutschland ballern sich tagtäglich Millionen von Menschen, angefangen mit Pillen und Alkohol, über Cannabis, Ecstasy, Kokain, Amphetamin, …, bis hin zu den sich tagtäglich neu erfindenden Stoffgruppen sogenannter NPS, Neue psychoaktive Substanzen systematisch aus ihrer subjektiven Realität heraus“, erklärt Rainer Biesinger in seinem Sachbuch Toxisch. Er fährt fort: „In unserer heutigen Gesellschaft ist restlos Alles, was das Drogenherz erfreut, in riesengroßer Auswahl und unüberschaubarer, unbegrenzter Menge kinderleicht verfügbar. Ich wünsche mir, mit diesem Buch aufzurütteln und auf vielfältigste Weise Zugang zum Bewusstsein in der breiten Öffentlichkeit - nicht nur hierzulande - zu erhalten. Nur so wird der verhärtete Diskurs zur offensichtlich gescheiterten, generellen Prohibitionspolitik illegaler Substanzen weiter angeregt.“
Biesinger und sein Ko-Autor Max Klute bezeichnen sich heute selbst als Autodidakten des gelebten Lebens. Zwei Generationen einstiger ‚Drogenwahnsinniger‘ prallen in Toxisch aufeinander; ihre intensiven Lebenserfahrungen fügen sich zu einem umfassenden Erfahrungsschatz in Theorie und vor allem Praxis zusammen. An ihren langjährigen, exzessiven Erfahrungen mit Rauschdrogen aller Art und später ihrem Zustandswechsel in ein (weitgehend) drogenfreies Leben lassen die beiden ihre Leser in durchgängig authentischem Schreibstil teilhaben. Ihr erklärtes Ziel ist es, Brücken zu bauen, um die repressiven, eingefahrenen Standpunkte aus der Schockstarre zu lösen. „Drogen sind grundsätzlich weder gut noch schlecht – das Problem ist, wie damit umgegangen wird“. Die öffentliche Diskussion um die Prävention und Liberalisierung von Drogen muss neu entfacht werden. Deutschland steht aktuell irgendwo zwischen nicht zeitgemäßer Aufklärung von Drogen, gepaart mit entweder Verharmlosung oder auch radikaler Antihaltung bestimmter Substanzen. Der Krieg gegen die Drogen gilt für die Autoren als gescheitert zu erachten! Ergänzend zur Perspektive der Autoren kommen im Buch der Jugendrichter Andreas Müller, der Grimme-Preis-Träger $ick und der Kriminalbiologe Mark Benecke zu Wort.
Toxisch bietet dem Leser zunächst eine detaillierte Übersicht, legaler und illegaler Drogen samt ihrer Wirkungen. Die Autoren thematisieren eindringlich, was die jeweiligen Rauschdrogen mit dem einzelnen Menschen machen, wie auch die entscheidenden Fragen: Wo liegen die Ursachen eines inadäquaten Konsumverhaltens, bzw. warum können Menschen in eine gefährliche Abhängigkeit geraten.
Bei der bislang extrem vernachlässigten Frage nach der Motivation, die Drogenpolitik in Deutschland auf den Prüfstand zu stellen, fordern sie Experten aus Medizin, Pharmakologie, Psychologie, Soziologie, Rechtswissenschaften, Neurowissenschaften und Biochemie auf, sich intensiver einzubringen. Nur im interdisziplinären Ansatz kann es wirklich nachhaltige, ehrliche, zeitgemäße Aufklärung und Liberalisierungsmaßnahmen geben, die nicht nur die Jugendlichen selbst niederschwellig in ihren jeweiligen Lebenswelten abholt. Über die gesellschaftliche Relevanz des allgemeinen Drogenkonsums hinaus legen die beiden die Perspektive sowohl auf die Politik und ihre Verantwortung, genauso wie sie an die selbstermächtigte Eigenverantwortung der Konsumenten appellieren.
Wie könnte erfolgreiche Jugendpolitik aussehen, um junge Menschen tatsächlich, kompetent, auf Augenhöhe und ohne den erhobenen Zeigefinger, ehrlich aufgeklärt auf dieses sensible Thema vorzubereiten? Warum sperren sich viele Stellen, wenn es um die (teilweise) Legalisierung von Drogen geht? Steht hier womöglich Lobbyismus vor der Verantwortung am einzelnen Menschen? Ein generalisierter Blick alleine und eine Instant-Lösung wird nicht viel helfen. So gehöre jede Droge einzeln auf den Prüfstand, um einerseits den Konsumierenden zu schützen, aber auch um mit den richtigen Maßnahmen kriminelle Strukturen zu schwächen oder gar zu zerstören. Durchgehend bringen die Autoren mögliche Strategien und Vorschläge ein, ihre Forderung: eine zeitgemäße Gesetzgebung durch eine mutige Regierung, die sich – vor allem im Interesse unserer, mit ihren persönlichen Themen vielfach alleine gelassenen, sich selbst erziehenden, Jugend – frei macht von wirtschaftlichen oder anderen Interessen. Zum Schluss richten sich die beiden in authentischer Manier mit einem Appell an ihre Leser - den Drogenkonsumenten, Eltern, Lehrer, Therapeuten, Arzt, Sozialarbeiter aber auch an alle Interessierten und an Entscheider wie Juristen und Politiker: „Macht‘s Maul auf!“ - „Antreten ist angesagt!“
Rainer Biesinger – Der Heavy Metal Coach®, Baujahr 1966, ist einer der auffälligsten Persönlichkeitstrainer, Schriftsteller und Vortragsredner im deutschsprachigen Raum. Im zarten Alter von 52 Jahren absolvierte der einstige Schulverweigerer und Politoxikomane erfolgreich das Studium zum „Master der kognitiven Neurowissenschaften“.
Max Klute, Baujahr 1994, ist in Herne im Ruhrgebiet geboren. In seiner Pubertät ist er mit verschiedensten Substanzen in Kontakt gekommen und hat diese äußerst exzessiv und selbstzerstörerisch konsumiert. Im Laufe seines noch jungen Leben ist er mit unzählig vielen anderen Konsumenten zusammengetroffen und hat die Wirkung verschiedenster Rauschdrogen an sich selber und im Umgang mit anderen intensiv erfahren und beobachtet. Im Guten wie im Schlechten.