Ungeklärte Todesfälle: Vorwort zu 'Totgeschwiegen' von Thomas Trescher

Totgeschwiegen. Warum es der Staat Mördern so leicht macht. Addendum / Edition QVV, Hardcover, Erscheinungsdatum 31. Oktober 2019, 208 Seiten, ISBN 978-3-200-06546-8, 22,00 Euro

Ein Vorwort von Dr. Mark Benecke

Fehler passieren. Depressive Piloten ermorden ihre Passagie­rinnen und Passagiere, indem sie die Maschine gegen einen Berg oder in den Ozean fliegen. Autorennende Menschen töten Reisende oder Fußgängerinnen und Fußgänger, die ihnen in den Weg kommen. Passiert. Müsste es aber nicht.

Kein Verbot der Welt verhindert, dass Menschen sich unsozial und tödlich verhalten. Ebenso wenig gibt es ein Gesetz gegen unbemerkte Fehler. Nach einer übersehenen Spur fragt niemand. Denn ob Speichel, Sperma, Insektenflügel oder eine Blutspur am Tatort waren, das erhellt nur die­ oder derjenige, der sie wahr­ genommen hat. Was ich dort nicht gesehen und eingesammelt habe, taucht später weder in der Akte noch im Labor auf. Es gibt keine Liste der nicht eingesammelten Tatort­-Spuren.

So kommt es, dass nicht immer klar sein kann, ob ein Mensch getötet wurde. Es könnten ja auch ein Unfall, eine Selbsttötung oder eine Erkrankung – der „natürliche Tod“ – zum Tod geführt haben. Um das zu klären, müssten alle toten Personen „durch­sucht“, also aufgeschnitten, durchleuchtet und untersucht wer­den. Auch ihre räumliche Umgebung müsste auf Spuren des Täters, der Täterin oder eben deren Abwesenheit durchkämmt werden. Viel Arbeit, die viel Steuergeld kostet. Doch wollen Sie ger­ne mehr Steuern zahlen? Oder drücken Sie sich mit hundert Tricks davor, die staatliche Spurensuche durch Ihren Anteil zu fördern?

Das also ist Problem Nummer eins: Geld. Ausbildung, Tatort­-Lampen, Büros und Labors kosten Geld. So weit, so einfach.

Mit Zeit, Geld und Ausrüstung müssen aber alle Menschen und somit auch „der Staat“ haushalten. Als in Görlitz beispiels­weise einmal ein Jahr lang fast alle Toten untersucht wurden, zeigte sich, dass auch bei sicher natürlichen Toden fast die Hälfte der im Totenschein eingetragenen „Grundleiden“ nicht mit dem Labor-Befund übereinstimmten. Das wäre mit Geld und Ausbildung sehr leicht zu lösen. Es kostet aber Steuergelder oder Krankenkassenbeiträge.

Die zweite Schwierigkeit ist kniffliger: falsche Grundannahmen. Ein Ehepaar hat so richtig Krach, es knallt, die Leiche des einen wird später gefunden, die Lebensversicherung hat schon gezahlt? Dann sieht es für den lebenden Partner oder die lebende Partnerin finster aus. Ein junger Mann, dauernd pleite, lügt sich und seinen Verwandten sein ganzes Leben zurecht. Dann stirbt seine steinreiche Tante, und er war in der Nähe. Ziemlich klarer Fall.

Wir wissen aber, dass alleine in den USA seit den 1990er Jah­ren jährlich etwa zehn Personen aus den Todeszellen oder aus lebenslanger Haft – und damit ist in den USA oft tatsächlich „das gesamte restliche Leben“ gemeint – entlassen werden, weil zwar alles durch alle Instanzen sonnenklar war. Doch dann werden Jahre oder Jahrzehnte alte Spuren untersucht, die das Gegenteil beweisen, also zeigen, wer die Tat wirklich begangen hat.

Das allerdings ist noch Glück im maßlosen Unglück, denn die Spuren waren dann noch gelagert und auffindbar. Oft genug sind sie es aber nicht, besonders wenn der Fall als behördlich abge­schlossen gilt. Den Kommissar, der mit hochgeschlagenem Kra­gen über regennasse Straßen geistert und nach Feierabend auf eigene Faust die Spuren sucht, gibt es nicht. So etwas ist verbo­ten.

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Und den Platz, alle Spuren auch nach der Verurteilung auf­zubewahren, hat auch kaum jemand. Denn Platz kostet erstens Geld, und zweitens wird er auch für etwas anderes gebraucht. Wohnraum, Krankenhäuser oder Spielplätze beispielsweise. Kurz gesagt, es gibt viele andere gesellschaftliche Interessen als gerichtliche Gerechtigkeit.

Abgesehen von ungeprüften Grundannahmen, dem Glauben an das Gute und anderen eigentlich gut untersuchten Fehlerquellen ist eine häufig gestellte und ganz praktische Frage die der im deutschsprachigen Raum vorliegenden unentdeckten mehr oder weniger absichtlichen Tötungen. „Mehr oder weniger“ deswegen, da Kinder von aufgeregten, verwahrlosten oder unsozialen Eltern auch ohne Absicht, aber doch mit Wut oder Gleichgültig­keit getötet werden, etwa durch Totschütteln, wenn das Kind zu viel lärmt oder sonstwie lästig scheint.

Da aber plötzliche, „natürliche“ Kindstode zu den häufigs­ten Todesarten sowohl in der Kriminalistik als auch der Rechts­medizin und Kinderheilkunde zählen, und da die Ursachen dafür erstens vielfältig – Zigaretten rauchende Eltern gehörten dazu – und zweitens nicht endgültig erforscht sind, könnten hier besonders viele verdeckte Tötungen vorliegen. In England schätzt man bis zu ein Achtel der plötzlichen Kindstod­-Fälle als unerkannte Gewalttaten ein.

Als für eine deutsche Studie zum plötzlichen Kindstod eine große Zahl toter Kleinkinder rechtsmedizinisch untersucht wur­de, fanden sich circa drei Prozent bis dahin unerkannte Tötungen unter den zunächst als „natürlich“ eingeordneten Krippen­toden oder Meldungen wie „Bauchschmerzen“, die allerdings nach Leichenöffnung und Haar­-Untersuchungen als Darmriss, durch Fußtritte, absichtliche Vergiftung mit Tabletten und Ähnliches erklärt werden konnten.

Durch solche wissenschaftlichen – das heißt nicht von der Staatsanwaltschaft beauftragten – Leichenöffnungen in zu­nächst unverdächtigen Todesfällen wurde dieselbe Menge an Tötungen erkannt wie bei bestehendem polizeilichem Verdacht. Sie haben richtig gelesen. Eigentlich müsste jede Kinderleiche seziert werden.

Das allerdings behagt manchen Menschen aus religiösen oder kulturellen Gründen nicht. Manchmal liegt es also auch nicht am Geld.

Zuletzt noch zur häufigsten Frage, die zumindest mir in die­sem Zusammenhang gestellt wird: Wie viele Erwachsene sterben durch Gift, Gewalt oder Hassausbrüche, ohne dass es auffällt?

Es kommt darauf an. Die Augen aller richten sich bei­spielsweise weniger auf einsame, nervenkranke, verkauzte oder sozial vergessene Menschen. So kommt es, dass bei „Wohnungs­leichen“, die einmal Menschen mit wenigen Sozialkontakten waren, vermutlich besonders häufig nur Zufälle bewirken, dass eine angebliche Verstopfung der Lungenadern als Stromunfall erkannt wird: Die tote Person lag bei diesem Fall neben einer neu gekauften Lampe. Der im Nachhinein auffällige Lageort ist allerdings an der Leiche auf dem Edelstahltisch im Institut nicht zu erkennen. Nur die Beschreibung des Fundorts hilft hier weiter.

Ging es schief, dann fehlt es am Austausch von Informatio­nen, die beim Blick von allen Seiten schnell seltsam und „ver­dächtig“, sonst aber nebensächlich wirken können. Öfters wür­den uns auch bessere Fotos vom Fundort helfen.

Ob ein einsamer Mensch durch eine Plastiktüte erstickt wur­de, anstatt dem Alkohol zum Opfer gefallen zu sein, ist aber auch auf einem technisch einwandfreien Foto nicht zu erken­nen. Faustschläge, Würgen, Drosseln, Gifte, falsche Geständ­nisse – all das lässt sich durch einen „Anfangsverdacht“ (so heißt es im Behördendeutsch) gut und so in folgende Unter­suchungen gießen, dass die Wahrheit durch Spuren dargestellt werden kann. Wenn kein Anfangsverdacht da ist, würde auch ein brachiales „Immer­-Alles-­Untersuchen“ helfen. Aber Sie wissen schon: Das kostet.

Einige Kolleginnen und Kollegen schätzen das Verhältnis von unerkannten zu erkannten Tötungen in Europa auf 1:1 bis sogar 3:1 ein; wie schon erwähnt besonders bei Kleinkindern. Andere sind sich da nicht so sicher, da sie beispielsweise bei der Untersuchung von Leichen vor der Verbrennung im Kre­matorium auch nach Jahrzehnten nur einmal den klassischen übersehenen Messerstich im Rücken gesehen haben. Die Frage ist nur, wie viele nicht krankheitsbedingte Erstickungen, Fußtritte, als Selbsttötungen erscheinende Erhängungen oder Vergiftungen und unerlaubte Sterbehilfen sich darunter befunden haben.

Große, weltweite Studien würden helfen, da sind sich alle Kol­leginnen, Kollegen und ich einig. Dann werden wir die genauen Zahlen erfahren.

Bis dahin gilt: Jeder Fall ist ein Einzelfall. Ich würde als Krimi­nal-­Praktiker daher dazu raten, dass Sie im Zweifelsfall erstens eine sehr gute, fachlich erfahrene Anwältin oder einen ebensolchen Anwalt hinzuziehen. Sofort und ohne Zögern. Andernfalls ist die Akte geschlossen, sind die Spuren weggespült und die Lei­che gewaschen, begraben oder verbrannt.

An dieser Hürde – der schnellen rechtlichen Beratung – schei­tern die meisten unserer Klienten und Klientinnen. Sie vertrau­en lieber auf den Staat, die Gerechtigkeit oder das Gute anstatt auf Druck von unten.

Zweitens sollte sich niemand scheuen, die Wahrheit aufzuschreiben, notfalls bei einer Notarin oder einem Notar. Einer unserer Klienten hatte sich jahrelang nicht getraut, ein Tötungs­delikt anzuzeigen, weil er kein Gerede im Dorf wollte: Der Täter war einer seiner Verwandten. Am Ende saß der Zeuge selbst im Gefängnis, weil er plötzlich aus anderen Gründen als Hauptverdächtiger galt.

Hätte er von Anfang an offen beschrieben, was er gesehen hatte, so wären die dazu passenden Spuren noch an Ort und Stelle gewesen und hätten seine Aussage bestätigt. Nun waren sie jedoch verschwunden und das Mordzimmer renoviert.

Drittens rate ich dazu, einzusehen, wenn es zu spät ist. Die meisten Kinder aus der DDR, die ihren Eltern weggenommen wurden, sind entweder längst zersetzt, falls sie damals gestorben waren, oder die Kinder haben nie erfahren, dass sie zwangsadoptiert wurden. Manchmal gibt es eben keine Spuren mehr. Oder die Spurensuche ist den Angehörigen zu anstrengend.

Wie schon gesagt: Dinge gehen schief. Sie müssen es aber nicht.

Schauen Sie hin, machen Sie Druck, und sehen Sie ein, wenn es zu spät ist.

Mark Benecke

Kriminalbiologe