Quelle: Kriminalistik 10/2000:680–682, den Artikel gibt es hier als .pdf
Fälle, fachliche Fortschritte sowie aktuelle Asservierungshilfen
VON MARK BENECKE
Seit Erscheinen der beiden Artikel Forensische Zoologie (Kriminalistik 50:55-57) und Detektive nutzen sechs- und achtbeinige Helfer (Süddeutsche Zeitung 101/1996:35) hat sich der rechtsmedizinisch-kriminalistisch-gerichtliche Einsatz von Insektenuntersuchungen an Leichen stark ausgeweitet. Dennoch gibt es nach wie vor Verbesserungsmöglichkeiten bei der Asservierung der insektenkundlichen Beweise. Der folgende Überblick schildert wichtige Ereignisse der Forschungszweiges aus den vergangenen fünf Jahren und bietet einen Überblick über neuere Entwicklungen und Serviceleistungen.
Vier ausgewählte Fälle
Nach wie vor werden forensisch-entomologische Untersuchungen vorwiegend in schwierigen Fällen herangezogen. Daher liegen häufig wenige auswertbare Beweisspuren vor. Dennoch gelang es uns in mehreren deutschen Fällen, bei der Rekonstruktion von Tatabläufen mitzuwirken. In anderen Fällen war eine Auswertung wegen fehlender Spuren nicht mehr möglich, wie die folgenden Fallanrisse zeigen.
Fall 1
In dem seit 1986 juristisch und journalistisch langjährig behandelten Fall Weimar stellte sich die Frage, ob entweder die Mutter oder der Vater die einzigen Kinder der Familie -- zwei Töchter -- erdrosselt hatten. Vor Gericht wurde zunächst zwar eine Indizienkette, die gegen die Mutter sprach, als glaubhaft angenommen, das Verfahren ging später aber in die Wiederaufnahme.
Dem rechtsmedizinisch-kriminalistischen Insektenkundler wurden im Jahr 1996 Aktenauszüge mit der Frage vorgelegt, ob aus der Madenbesiedlung der im Freien abgelegten Leichen eine Liegezeitbestimmung möglich sei, um die Alibis der beiden verdächtigen Personen zu prüfen. Mit klassisch-rechtsmedizinischen Mitteln war eine solche Zeiteingrenzung nicht möglich.
Prinzipiell wäre die insektenkundliche Methode geeignet gewesen, um Details der zeitlichen Tatrekonstruktion zu stützen oder zu widerlegen; leider war aber kein Insektenmaterial mehr verfügbar, das eine Artbestimmung der Maden erlaubt hätte. Die vorhandenen Fotos selber reichten mangels Auflösung nicht aus, um eine sinnvolle Schätzung der Madenkörperlänge und damit der Lebensdauer der Tiere auf den Leichen durchzuführen. Der bis heute nicht zufriedenstellend geklärte Fall hätte mithilfe der forensischen Entomologie mit einiger Wahrscheinlichkeit geklärt werden können.
Fall 2
Der evangelische Geistliche Geyer wurde beschuldigt, seine Frau im Sommer 1997 erschlagen und in der Nähe des Tatortes am Rand eines schattigen Wäldchens in einem Abschußgraben abgelegt zu haben. In Anbetracht von Fäulniserscheinungen machten die Obduzenten keine Angaben zum Wundalter.
Der Tatverdächtige hatte für den als Tötungszeitpunkt angenommenen Zeitraum kein Alibi, jedoch für die gesamte Zeit danach. Daher sollte überprüft werden, ob die angenommene Tatzeit anhand der Madenbesiedlung bestimmt werden könnte. Die Maden waren vor der Obduktion in eine Tötungs- und Lagerungsflüssigkeit überführt worden. Unter Berücksichtigung der Temperatur- und Wetterbedingungen errechnete sich anhand der größten an der Leiche beobachteten Maden eine Liegezeit, die mit dem angenommenen Tatzeitraum teils überlappte. Aus Sicht des Gerichtes stützte dies die kriminalistisch angenommene Tatzeit.
Einen weiteren Sachbeweis stellte der Fund einer Ameise am Stiefel des Verdächtigen und der Bluse der Verstorbenen dar. Es handelte sich um flugunfähige Arbeiter, die sich nur wenige Meter vom Nest entfernen. Unmittelbar am Tatort lag eine individuenstarke Kolonie der Tiere. Da auch auf den Tatortbildern der Leiche hunderte Ameisen derselben Art zu sehen waren, und da bei der Obduktion Ameisenfraßspuren gefunden wurden, kam ein zufälliges Zusammentreffen nicht infrage. (Ameisenkundliche Untersuchung: Bernd Seifert, Görlitz.)
Die Verurteilung des Angeklagten wurde erstmals im deutschsprachigen Raum zu großen Teilen auf eine kombinierte Spuren- und Liegezeitanalyse mittels Insekten gestützt.
Fall 3
Die Leiche einer Frau, die im Sommer 1998 zwei Abende vor ihrem Fund lebend gesehen worden war, wurde in Gesträuch aufgefunden. Der Erkennungsdienst maß eine Außentemperatur von 31,4°C neben der Leiche sowie im Bodenbereich 33°C. Im Tatortfundbericht sind "unzählige Maden auf der Leiche" erwähnt; in der Schambehaarung fanden sich Fliegeneier.
Abends wurde die Leiche in einem Leichenbergesack in einen Kühlraum überführt, der in der Regel eine Temperatur von etwa 6 °C aufweist. In der Nacht kam es jedoch zu einem Defekt der Kühlanlage; das Ausmaß der dadurch bedingten Erwärmung war nicht zu ermitteln. Bei der Obduktion am kommenden Tag wurden zufällig mitsamt einiger Gewebeproben Maden in Formalin überführt. Diese Tiere konnten vom Berichterstatter später sichergestellt und untersucht werden. Anhand von Fotos der Leiche, in denen ein Millimeterband sichtbar war, konnte eine maximale Madenkörperlänge von 5,3 mm ermittelt werden.
Weil eine präzise Bestimmung der Entwicklungszeit von Maden nur möglich ist, wenn die genauen Temperaturverhältnisse bekannt sind, konnten im Gutachten wegen der unbekannten Temperatur im Kühlhaus nur ungefähre Aussagen zur Leichenliegezeit gemacht werden.
Die Asservierung der Tiere war aus insektenkundlicher Sicht zwar notfalls ausreichend. Wären die Tiere jedoch bereits am Tatort (anstatt in der Rechtsmedizin) eingesammelt sowie mit einem Makroobjektiv und einem Maßstab fotografiert worden, so hätte die Lagerung im Kühlraum keinen Einfluß auf die insektenkundliche Auswertung gehabt.
Fall 4
Eine männliche Leiche wurde im Sommer 1999 in einer Wohnung aufgefunden. Der Körper wies offene, schwere Verletzungen im Brustbereich auf. Auf den Fotos des Gesichtes der Leiche am Fundort und in der Rechtsmedizin waren deutlich eine Madenschicht sowie Einzeltiere wahrnehmbar. Ein Maßband war nur im Bereich der Wunden, nicht aber im Gesicht mitabgelichtet.
Um das Alibi des Beklagten zu prüfen, wurde eine Längen- und Altersbestimmung der Maden durchgeführt. Die größten Tiere im Brustbereich maßen etwa einen Zentimeter, wie der Vergleich mit der auf den Fotos sichtbaren Skala ergab. Zur Bestimmung der Körperlänge der Maden im Gesicht mussten als Hilfsrnaßstab zwei Augenbrauenpiercings benutzt werden. Obwohl der Piercingring mit der Leiche beerdigt worden war, bezifferte eine erfahrene Berufspiercerin den Innendurchmesser des Schmuckstückes anhand von Fotos der lebenden Person und der Leiche sicher auf minimal elf bis maximal dreizehn Millimeter. Damit übereinstimmend errechnete sich eine Tierlänge von 7,2 mm bis 11 mm. Mehrere der auf den Fotos sichtbaren Larven waren noch nicht im Vorverpuppungsstadium, das am entleerten Darmtrakt deutlich erkennbar wäre.
Aus dem in der Rechtsmedizin als Asservat aufbewahrten und daher noch vorhandenen Haarschopf wurden nach vorsichtigem Ausklopfen etwa zwanzig mumifizierte Fliegenlarventeile und eine Fliegenpuppe in 70 Prozent Alkohol asserviert. Diese Tiere eigneten sich wegen der trocknungsbedingten Veränderungen des Körperäußeren zunächst nicht für eine detaillierte Artbestimmung. Aus einem von der Leiche abgenommenen Abklebeband (der Körper war am Tatort zur späteren Faserauswertung komplett abgeklebt worden) wurde mithilfe eines heißen Skalpells eine Made ausgeschmolzen.
Durch dieses Vorgehen wurde das Klebeband zu keiner Zeit von seiner Plastik-Auflagefläche, auf das es vom Erkennungsdienst zu Transportzwecken aufgebracht worden war, entfernt. Das dabei sichergestellte Tier konnte nach Untersuchung seiner Mundwerkzeuge unter fünfzigfacher Vergrößerung mit einer Stereo-Vergrößerungslupe als Larve im zweiten Stadium der Gattungen Calliphora spec. oder Lucilia spec. bestimmt werden. Aus diesen beiden Gattungen stammen typische Erstbesiedler von Leichen.
Unter Berücksichtigung der sommerlichen Temperaturen und der vergleichsweise geringen Fäulnis der Leiche war es wahrscheinlich, daß die zahlreichen auf den Lichtbildern sichtbaren Maden aus Eiern stammten, die etwa zwei Tage vor Fund der Leiche abgelegt wurden. Die einzelne Puppe könnte sich erst nach der Asservierung aus einer Larve im dritten Larvalstadium entwickelt haben. Sollte sie sich bereits unter regulären Bedingungen auf der Leiche selbst entwickelt haben, so wäre eine Entwicklungszeit von etwa acht Tagen anzunehmen.
Befunde und deren Deutungsmöglichkeiten
Im Prozess zitierte die Verteidigung Passagen aus einem "rechtsmedizinischen Lehrbuch", das kurz die Leichenliegezeitbestimmung mittels Insekten streift und sehr grobe Anhaltspunkte für eine derartige Untersuchung gibt. Dabei ist von vergleichsweise langen Leichenliegezeiten die Rede, die den Beklagten im tatsächlichen Fall entlastet hätten. Diese Angaben sind jedoch wissenschaftlich weder anwendbar noch als Rechengrundlage gedacht. Das Büchlein ist als grober Überblick für Interessenten außerhalb der Rechtsmedizin zusammengestellt, was sowohl aus dem Buchtitel ("für Kriminologen, Ärzte, Juristen und Studierende") und dem Vorwort ("die wesentlichen Themen [H.] in äußerst konzentrierter Form darzulegen") als auch der vor Gericht zitierten Textpassage selbst ("nur ein vereinfachtes Beispiel") eindeutig hervorgeht.
Praktische Asservierungshilfen
Um das Sammeln von auswertbaren Insektenbeweisen zu vereinfachen, schlagen wir folgende Goldene Grundregeln vor, die gleichermaßen für die polizeiliche wie die rechtsmedizinische Arbeit gelten.
Wichtig: Auch wenn später nur Teilasservate erhältlich sind, kann die kriminalistisch relevante Frage vielleicht gelöst werden!
Goldene Grundregeln
1) Außentemperaturmessung an der Leiche vom Fundort bis zur Obduktion, so häufig wie möglich.
2) Fotodokumentation der madenbefallenen Körperbereiche, immer mit Maßstab: detailscharfe Nahaufnahmen!
3) Bei der Fundortbeschreibung: Auch auf erwachsene Fliegen achten und gegebenenfalls asservieren. In Wohnungen: Fenster geöffnet? Himmelsrichtung? Erwachsene Fliegen wo anzutreffen?
4) Ansprechpartner bei der örtlichen Schutzpolizei für Detailfragen zur Fundortumgebung angeben.
5) Einige der größten Maden so bald wie möglich in 70 Prozent Ethanol überführen (notfalls auch Brennspiritus' Schnaps oder Rum). Kein Formalin! Genaue Beschriftung der Lagerungsgefäße: Entnahmeort und -zeit. Kühlung nicht zwingend notwendig.
6) Falls möglich, einige lebende Maden in ein sauberes Schraubdeckelglas (z. B. gespültes Marmeladenglas) mit feuchtem - nicht nassem - Papier und stecknadelgroßen Luftlöchern im Deckel sicherstellen und sofort zur Zucht an Insektenkundler weiterleiten.
7) Forensischen Insektenkundler jederzeit sofort telefonisch kontaktieren. Oft genügt ein kurzes Gespräch, um eine später hervorragende Asservierung zu gewährleisten!
8) Auch eine rasche, unvollständige Asservierung von Insektenmaterial kann im Einzelfall genügen, um eingegrenzte kriminalistische Fragen zu beantworten.
9) Wenn möglich, verschiedene Körperbereiche getrennt sammeln.
Als praktische Materialhilfen stehen derzeit im deutschsprachigen Raum zur Zeit zur Verfügung:
• Handliche, aufklebbare, hochfeste PVC-Millimeterskalen, die problemlos auch an Faulleichen einsetzbar sind;
• von der insektenkundlichen Abteilung des Forschungsinstitutes Senckenberg der Universität Frankfurt/M. zusammengestelltes, bequemes Asservierungskit;
• preiswerte, allgemeinverständliche Einführung in das Thema in Form des Buches "Kriminalbiologie" (Bergisch Gladbach 1999);
• Informationspaket Forensische Entomologie der Kriminalbiologischen Forschungsgruppe in Köln;
• Onlinehilfe unter benecke.com/asservierung
Arbeiten der kriminalbiologischen Forschungsgruppe in Köln Die kriminalbiologische Forschungsgruppe arbeitet kontinuierlich und international daran, die rechtsmedizinisch-kriminalistische Gliedertierkunde in die gerichtliche, (staats)anwaltliche und polizeiliche Arbeit fest einzugliedern. Neben praktisch ausgerichteten Vorträgen und Kursen gehört dazu auch die Zusammenstellung der stark verstreuten wissenschaftlichen Quellen sowie intensive Tatort-Arbeit. Die Forschungsgruppe betreut die weltweit einzige komplette Artikelsammlung zum Thema, die sowohl in Papierkopie als auch als elektronische Quellendatenbank allen KollegInnen zur Verfügung steht (inklusive der Beiträge der in russischer, indischer und türkischer Sprache erschienenen Arbeiten). Damit einhergehend wurde die komplette historische Aufarbeitung des Feldes (zusammen mit Marcel Leclerq) durchgeführt.
Die Wissensweitergabe wird durch Gastdozenturen und Kurse an Instituten für Rechtsmedizin in anderen Ländern, darunter Kolumbien (Bogota) und den Philippinen (Manila) sowie der FBI Academy (Quantico) und der Mounted Police (Ontario) gewährleistet. Daneben finden regelmäßig Schulungen mit Polizeifortbildungsinstituten, örtlichen Kriminalpolizeien, Instituten für Rechtsmedizin und Erkennungsdiensten statt.
Zu den wichtigsten neuen Forschungsergebnissen zählt ein von uns praktisch erprobtes und veröffentlichtes System zur DNA-Typisierung von Maden sowie ein mit dem Lincoln Police Department (Nebraska, USA) und der insektenkundlichen Abteilung der Universität von Nebraska erarbeitetes System zur Unterscheidung von echten Blutspritzern von durch Fliegen verschleppten Bluttropfen.
Ausblick
Die in den letzten fünf Jahren erzielten kriminalistischen Ergebnisse mittels Insektenuntersuchungen sind sichtbar an einem Wendepunkt angelangt. Die Methode ist im deutschsprachigen Raum wieder allgemein bekannt und hat in mehreren schwierigen Fällen geholfen, den Hergang von Kapitaldelikten zu rekonstruieren. Auf dem Weltkongress der Insektenkundler im August 2000 in Iguazu Falls, Brasilien, wurde das Wissen der weltweit arbeitenden KollegInnen erstmals zusammengefasst und in neue Forschungsbahnen gelenkt.
Literatur unserer Forschungsgruppe, oft mit Fallbeschreibungen aus dem deutschsprachigen Raum; alle Texte sind erhältlich über den Autor, Forensic Consulting, Postfach 250422, D-50520 Köln, Fax +49-221-660-2644, E-mail: forensic@benecke.com.
Literatur
(1997) Asservierung von Insekten-, Spinnen- und Krebsmaterial für die forensisch-kriminalistische Untersuchung. Archiv für Kriminologie 199:167-176.
(1998) Rechtsmedizinisch angewandte kerb- und spinnentierkundliche Begutachtungen in Europa: Eine kurze Übersicht über Ursprünge und den aktuellen Stand der Forschung. Rechtsmedizin 8:153-155.
(1998) Six forensie entomology cases: description and commentary. Journal of Forensie Sciences 43:797-805;43: 1303.
(1998) Random Amplified Polymorphie DNA (RAPD) typing of necrophageous insects (Diptera, Coleoptera) in criminal forensie studies: validation and use in praxi. Forensie Science International 98:157-168.
(1999) Ursprünge der modern angewandten rechtsmedizinisch-kriminalistischen Gliedertierkunde bis zur Wende zum 20. Jahrhundert. Rechtsmedizin 9:41-45.
(1999) Forensische Entomologie am Beispiel eines Tötungsdeliktes. Eine kombinierte Spuren- und Liegezeitanalyse. Archiv für Kriminologie 204:52-60.
(2000) Leichenbesiedlung durch Gliedertiere. In: Brinkmann, B, Madea, B. (Hrsg.), Handbuch Rechtsmedizin. Kapitel 2.2.: Die Leiche. Leichenerscheinungen und Todeszeitbestimmung. Springer, Heidelberg, New York, Tokyo, in Druck.
(2000) Molecular techniques for forensically important insects. In: Byrd, J. H, Castner, 1. L. (eds.), Entomological Evidence: Utility of Arthropods in Legal Investigations. CRC Press, Boca Raton.
(2000) Forensie entomology in a murder case: Blood spatter artifacts caused by flies, and determination of post mortem inverval (PMI) by use of blowfly maggots.Zoology. Analysis of Complex Systems 103 Supp!. III: 106.