Milzbrandbriefe auch in Deutschland?

Milzbrand-Briefe. Bacillus anthracis auch in Deutschland?

Quelle: Kriminalistik 56:112-6 (2002)

Von Mark Benecke, Martin Moser, Michael Trepkes und Norbert Spauschus

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Im folgenden Bericht wird beispielhaft von der Ermittlungskommission "Briefe" beim Polizeipräsidium Köln berichtet sowie aus kriminalbiologischer Sicht erläutert, welchen Gefahren man im Umgang mit dem Bakterium "Anthrax" ausgesetzt ist und wie man praxisorientiert damit umgehen kann.

Die "Milzbrand-Idioten" und die EK Briefe

Am Freitag, dem 12. Oktober 2001, wurde in Köln ein Briefumschlag mit der Aufschrift "Milzbrand" an einem PKW in der Innenstadt aufgefunden. Eine Politesse der Stadt Köln fand den Briefumschlag hinter dem Scheibenwischer eines parkenden PKW. Sie informierte die Polizei und die Berufsfeuerwehr Köln. Durch die eingesetzten Kräfte wurde der gesamte Straßenzug abgesperrt. Die Feuerwehr erschien mit insgesamt 15 Fahrzeugen unter dem Einsatzstichwort "Biofund 1".

Bevor sich dann jedoch ein voll ausgestatteter ABC-Einsatztrupp in Chemieschutzanzügen an das Fahrzeug begeben konnte (Abb. 3), meldeten sich schon die zwei Täter. Sie konnten durch ihr Geständnis vor Ort den weiteren Einsatz der Feuerwehr verhindern. Sie wurden vorläufig festgenommen. Später wurden sie durch die Medien überregional als die "Milzbrand-Idioten" bekannt. Besonders die Mittelrheinische Boulevardzeitung Express bemühte sich um betont erzieherisch wirksame Einwirkung und berichtete bis zuletzt über die beiden Täter (Abb. 4). 

Nun stiegen die Milzbrand-Verdachtsfälle sprunghaft an. Das führte zu der Einrichtung der EK Briefe. Beim PP Köln wurde die sachliche Zuständigkeit beim KK 13/14 (Brand, Sprengstoff) gesehen, weil man zum einen von der allgemeinen Zuständigkeit im Hinblick auf die gleichgelagerten Fälle der Bombendrohung (§ 126 StGB -- Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten) ausging, zum anderen ausgebildete Brand- und Umweltermittler mit entsprechender Ausbildung und Schutzausstattung zur Verfügung standen. Zunächst wurden 10 Beamte für die EK abgestellt.

Ziel dieser sofort eingerichteten EK war es, durch eine enge Zusammenarbeit mit der Staatsanwaltschaft und den Justizbehörden eine schnelle Verurteilung mit einem hohen Strafmaß und somit eine Abschreckung und damit einen Rückgang der Fälle herbeizuführen.

Um das zu erreichen, wurde durch die EK ein Tatortteam eingesetzt. Aufgabe des Tatortteams war die zeitnahe Erkenntnisgewinnung vor Ort unter Berücksichtigung der Gefahrenlage und die sofortige Weitergabe von vorhandenen Ermittlungsansätzen an die EK und somit an die bereitgehaltenen Ermittlungsteams.

Bei allen Einsätzen trat die grundsätzliche Problematik auf, dass die Polizei von Trittbrettfahrern ausging, jedoch eine mögliche Gefährdung durch einen echten Anthrax-Brief nicht auszuschließen war.

Aus diesem Grund war es für die EK zwingend erforderlich, Informationen von Fachleuten zu erlangen, wie beispielsweise durch Dr. M. Benecke, mit denen ein praxisgerechter Umgang und eine realistische Gefahrenbewertungerarbeitet wurde.

Praktisch angemessene Umgangsweise mit dem möglicherweise ansteckenden Material

Wir versuchten unter anderem, die scheinbar recht verschiedenen Darstellungen deutscher und U.S.-amerikanischer Stellen zum Eigenschutz und dem Schutz der Bevölkerung intelligent und angemessen umsetzbar zu machen. Medien wie der Spiegel hatten Äußerungen aus dem Robert-Koch-Institut stark verkürzt als: "Nicht berühren, nicht einatmen, nicht kosten" wiedergegeben. Das U.S.-amerikansiche Center for Disease Control gab sich auf seiner Website ab dem 12. Oktober 2001 wesentlich nüchterner und riet offiziell:

  • Ruhe bewahren

  • Warum erscheint die Sendung verdächtig? Prominenter Empfänger? Kein Absender? Überfrankiert? Beschmiert (Werkstatt/Labor)?

  • Beachte: Biowaffenfähige Milzbrand-Erreger müssen in stark pulverisierte Form gebracht werden, um viele Menschen am nicht sofort äußerlich erkennbaren Lungenmilzbrand erkranken zu lassen. Es gibt aber kaum Firmen oder Forscher, die das de facto vermögen.

  • Behältnisse mit möglichen Erregern in Pulverform nicht schütteln. Dafür sorgen, dass kein Durchzug (Innenräume) oder sonstige Verwirbelung (im Freien etwa durch Plastikplanen) entsteht.

  • Umschläge o.ä. in (ggf. dicht schließende) durchsichtige Plastiktüten bringen, erst dann näher betrachten oder, falls notwendig, in der Tüte öffnen.

Diese realistischen Regeln konnten auch besorgten Bürgern nahegebracht werden, die nach Erhalt eines ihnen verdächtig erscheinenden Briefes den Polizeinotruf gewählt hatten.

Uns war bewusst, dass Gummi-Handschuhe, Schutzanzüge und ggf. auch Atemschutz vor Ort zwar sinnvolle Schutzmaßnahmen darstellen, um das Risiko von Hautkontakt und Einatmen des Erregers zu verringern. Sie können aber kein perfekter Schutz sein, weil die Sporen sich auch in Haaren, Falten usw. verfangen können. Aus kriminalbiologischer Sicht wurde daher vorgeschlagen, notfalls auch ohne erkannten Kontakt mit dem Erreger auf mögliche Krankheitserscheinungen zu achten und im Zweifel sofort einen Test in einem Krankenhaus dauerhaft und sicher auszuheilen. Für die Fundort-Beamten besteht unter diesen Bedingungen selbst bei Gegenwart des Erregers in der Luft und auch ohne Tragen von Vollschutz keine Lebensgefahr. Auch in den USA kam es nur dann zu Todesfällen, wenn die Krankheit nicht rechtzeitig erkannt wurde.

Außerdem wurde in der EK einige Handgriffe mikrobiologischen Arbeitens gemeinsam betrachtet, die wiederum sehr einfach klingen, aber wirkungsvoll sind:

  • Beim Verbringen des untersuchten Objektes stets Packpapier (Einweg) unterlegen.

  • Arbeitsflächen abschließend stets mit reichlich um etwa ¼ mit Leitungswasser gestrecktem Brennspiritus abwischen.

  • Beim Arbeiten vor allem die Hände schützen, ggf. mit doppelten Einweghandschuhen.

Wichtig für die Gefahrenabschätzung am Fundort war, dass Milzbrand eine leicht mit Antibiotika zu behandelnde Krankheit ist, die nicht im Sinne einer Seuche von Person zu Person ansteckend ist. Die Krankheit kündigt sich zudem durch erkältungsartige Zeichen (Ermattung, Fieber) an und kann innerhalb kurzer Zeit – beispielsweise in einer Universitätsklinik – diagnostiziert werden.

Milzbrand war früher übrigens eine Berufskankheit (etwa bei Abdeckern). Auf der Haut (nicht aber im Körperinneren) konnte lange unbehandelter Milzbrand von selbst abheilen. Erst, wenn er durch eine Wunde von der Haut ins Körperinnere gelangte, wurde der Keim ebenfalls tödlich.

Biowaffenfähige Milzbrand-Stämme, die gegen heutige Antibiotika mehrfach unempfindlich sind, finden sich in der Natur praktisch nicht. Selbst mit großem Personalaufwand können sie in einem modernen Labor kaum und ganz sicher nicht in möglichen Wüsten-Labors hergestellt werden.

Kriminalistische Überlegungen

Aus kriminalistischer Sicht erschien es uns, dass mögliche Täter die nur begrenzt verfügbaren Milzbrand-Sporen mit sehr großem Aufwand hergestellt oder erworbenen haben müssten. Diese Person(en) würden, wenn sie terroristische Erfolgsabsichten hätten, das aus ihrer Sicht wertvolle Material eher nicht in auffallenden – erst recht nicht in markierten Briefen – versenden, sondern in unauffälligere Sendungen verstecken oder ganz anders verteilen.

Lebende Milzbrand-Kulturen lasen sich praktisch sinnvoll als Biowaffe einsetzen, da sie schon durch den Transport mit der Post oder durch zufällige Lagerung der Sendung absterben können. Daher liegt vor allem die Verbreitung in der Luft als Sporen nahe. Sporen sind ein stabiles Ruhestadium von Milzbrand-Erregern (und anderen Bakterien). In diesem Zustand können sie Jahre ausharren, bis sie durch Feuchte wieder in aktives Leben übergehen.

Eine bereits erfolgte Verteilung von Milzbrandsporen durch die Luft würde allerdings nicht mehr in den Aufgabenbereich der EK fallen können. IM Grunde gilt das auch schon für Briefe, die durch die Post befördert wurden, denn in den USA wurden mit hoher Wahrscheinlichkeit Sporen innerhalb der Brief-Sortiermaschinen verteilt.

Der in den USA übergelaufene Leiter des russischen Biowaffenprogramms „Ken Alibek“ berichtet andererseits, dass auch mit viel Erfahrung kaum Menschen durch das Verstreuen der Sporen in der Luft anzustecken sind.

Die in den USA deutlich erhöhte Sicherheitsstufe (Abb. 5) beim Fund möglicher Antrax-Sendungen erklärte sich nur aus kriminalistischen Gründen (Zielland der Terroristen), aber nicht, weil dort andere biologische Überlegungen gemacht wurden. Es war aber wesentlich wahrscheinlicher, dort wirkliche Milzbrand-Erreger anzutreffen. In den USA gibt es nach Angaben des FBI auch mehrere tausend Firmen, die mit Milzbrandsporen arbeiten". Diese sind allerdings nicht unbedingt „biowaffenfähig", das heißt gut lagerbar, gut verteilbar und gegen Antibiotika unempfindlich. 

Behördliche Zusammenarbeit bei „Milzbrand"-Meldungen 

Nach diesem Einblick zurück zur Kölner EK. Die Problematik insgesamt sowie der hohe Kräfteansatz der Feuerwehr bei jedem einzelnen Einsatz führte zu einer Absprache der Polizeiführung mit den anderen betroffenen Behörden und Institutionen. Dazu gehörte das Gesundheitsamt der Stadt Köln, die Berufsfeuerwehr Köln und das Mikrobiologische Institut der Universität Köln. Dabei wurde nachfolgend aufgeführte Verfahrensweise festgelegt: 

> Erstmaßnahmen durch die eingesetzten Einsatz-mittel (Streifenwagen), Absperrung im Radius von 25 m, Anforderung der EK. 

> Gemeinsame Gefahrenbeurteilung vor Ort durch die Feuerwehr (Messleitwagen) und das Tatortteam der EK. Kategorisierung bzw. Prioritätenfestlegung laut Schema vor Ort. 

> Erkenntnisgewinnung durch Tatort-Arbeit (soweit möglich), anschließende Bergung des Gegenstandes durch die Feuerwehr und Transport durch diese. 

> Untersuchung im Mikrobiologischen Institut der Universität Köln. Meldewege (auch Benachrichtigung der Einsatzkräfte über das Untersuchungsergebnis, Absetzen von WE-Meldungen, etc.). 

> Nach Freigabe des Gegenstandes erfolgten die üblichen kriminaltechnischen Untersuchungen.

> Weitere Ermittlungen durch die EK. Nach dem o. a. Schema wurden ab sofort die Einsätze gefahren. Die Zusammenarbeit zwischen der Feuerwehr und der Polizei hatte sich innerhalb kürzester Zeit eingespielt. 

Das Mikrobiologische Institut der Universität Köln erhielt zu dieser Zeit Proben von milzbrandverdächtigen Gegenständen aus fast ganz Nordrhein-Westfalen. Nach anfänglichen Schwierigkeiten aufgrund des hohen Probenaufkommens erfolgte eine sofortige Bearbeitung aller eingereichten Proben mit einem Ergebnis nach spätestens 48 Stunden. Hier leistete das Institut mit zusätzlich abgestelltem Personal sehr gute Arbeit. 

Problematischer war hier die Zusammenarbeit mit der originär zuständigen Behörde, dem Gesundheitsamt der Stadt Köln. Eine Erreichbarkeit der zuständigen Ärzte bei akuten Einsatzlagen war nicht gegeben. Weiterhin richtete die Behörde keinen Bereitschaftsdienst ein und war weder an den Wochenenden noch an den Feier-tagen erreichbar. Erst nach massiver Einflussnahme durch Polizei und Feuerwehr wurde nach drei Wochen ein Bereitschaftsdienst eingerichtet, der per Handy abrufbar war. 

Polizeiintern gab es Probleme bei der Ergänzung vorhandener bzw. zusätzlicher Beschaffung von Schutzbekleidung. Dies wurde zunächst mit der Begründung abgelehnt, dass eine Tatortarbeit vor der Mitteilung des Untersuchungsergebnisses nicht nötig sei. Schriftverkehr diesbezüglich lief über zwei Wochen bis in das Innenministerium. 

Drei beispielhafte Lagen 

In den sechs Wochen von Oktober bis November 2001, in denen die meisten Einsätze anfielen, wurden 85 Milzbrandverdachtsfälle durch die EK bearbeitet, 29 Ermittlungsverfahren gem. § 126 StGB eingeleitet und sieben Tatverdächtige ermittelt. 

Die tatsächliche Zahl der in diesem Zusammenhang gefahrenen Einsätze liegt jedoch deutlich höher. Dies erklärt sich dadurch, dass in vielen Fällen durch das Tatortteam oder die eingesetzten Beamten der Schutzbereiche ein Milzbrandhintergrund schon im ersten Ansatz ausgeschlossen werden konnte. 

Beispielhaft werden im folgenden einige Fälle geschildert: 

1) Am 17. Oktober 2001 wurde beim Verladen von Gepäckstücken in ein Flugzeug am Köln/Bonner Flughafen das Austreten von weißem Pulver aus einem Koffer bemerkt. Der Koffer gehörte einem kuwaitischen Staatsangehörigen. Dieser Hintergrund reichte aus, um den Kuwaiti dem Polizeipräsidium zuzuführen. Eine Probe des Pulvers wurde dem Mikrobiologischen Institut Köln zur Untersuchung überbracht. Die Maschine konnte dann mit erheblicher Verspätung, nach Freigabe durch das Gesundheitsamt, abfliegen. In diesem Fall entstanden Einsatzkosten in Höhe von 23 000 Euro.

2) In einer Kölner Chemie-Firma beging ein Arbeiter einen "schlechten Scherz", indem er seinem Kollegen im Umkleideraum einen Brief mit der Aufschrift „Milzbrand“ und einem weißen Pulver als Inhalt in die Spindtür steckte. Der betroffene Arbeitskollege erschrak sich, der Täter trat hinzu und beide lachten über den Scherz. Der Brief blieb liegen und wurde einige Zeit später durch einen unbeteiligten Dritten gefunden, der die Polizei informierte. Gegen die beiden erstgenannten wurde ein Verfahren gem. § 126 StGB eingeleitet.

Das Strafverfahren wurde durch die Justizbehörden eingestellt und der Vorfall als „Scherz" gewertet, obwohl eine Außenwirkung vorhanden war. 

3) Am 31. Oktober 2001, dem Halloween-Abend, verstreute eine Gruppe Kinder und Jugendlicher als „Halloween-Scherz" zwei Tüten Mehl im Bereich von drei Straßenzügen (ca. 600 m). Besorgte Anwohner riefen am Morgen des 1. November 2001 (Wochenfeiertag: Allerheiligen) Feuerwehr und Polizei. Aufgrund der großflächigen „Kontamination" wurde durch die Feuerwehr der Einsatz „Biofund 3" ausgelöst und fast alle in Dienst befindlichen Einsatzmittel der Feuerwehr wurden an den Einsatzort beordert. Durch den Einsatzleiter der Polizei wurde eine BADS ausgelöst und eine Kräftesammelstelle eingerichtet. Durch das Tatort-Team der EK und dem Messleitwagen der BF Köln wurde das weiße Pulver als Mehl eingestuft. Eine Klarheit darüber gab es jedoch nicht und es wurden Proben gezogen. Durch vor Ort eingeleitete Ermittlungen konnte die Gruppe Kinder ermittelt und ausfindig gemacht werden.

Durch ihre Aussagen konnte dieser Einsatz abgebrochen werden. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Feuerwehr bereits ca. 100 m einer Straße desinfiziert. 

Lehren 

Als Resumée aus sechs Wochen hektischer Arbeit mit bis zu 35 Überstunden pro Woche ergibt sich, dass die angestrebte polizeiliche Strategie nicht aufging: 

• Es erfolgten keine zeitnahen Verurteilungen und somit keine Abschreckung; auch das Strafmaß war dazu nicht geeignet (Geldstrafen, Abb. 4). 

• Das Kernproblem waren nicht so sehr die Trittbrettfahrer, wie die Geesamtzahl der Fälle zeigt, sondern die ausgesprochene Hysterie im Umgang mit der Sache. Die überschnelle Reaketion von Fernsehsendern und -teams in der Medienstadt Köln sowie die außereordentlich breite Berichterstattung in Zeitungen trug dazu bei. 

Das Phänomen „Milzbrand" verschwand nach Einstellung bzw. Abklingen der Berichterstattung wie es gekommen war. Bleibt nur noch der Blick in die Zukunft: 

• Die Angst hat sich gelegt, aber wie lange? 

• Wer sagt uns, dass nicht eines Tages doch der Ernstfall eintritt? 



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