Quelle: web.de (online) vom 21. März 2017
VON BETTINA FATH
Wenn von uns Menschen nach dem Tod nur noch wenig übrig ist, sind es meist die Knochen, die zurückbleiben. Diese können viel von unserer Lebensgeschichte erzählen. Mark Benecke ist Deutschlands bekanntester Kriminalbiologe – der Umgang mit Toten und deren Überresten ist sein Geschäft.
Herr Benecke, wie kann anhand eines Knochenfundes die Lebensgeschichte eines Menschen rekonstruiert werden?
MB: Beispielsweise durch Knochenveränderungen wie Verwachsungen, verdickte Muskel-Ansätze oder Veränderungen an den Gelenken – sie weisen manchmal darauf hin, dass jemand oft schwere Dinge heben musste und einer bestimmten körperlichen Arbeit nachgegangen ist. Auch Erkrankungen wie Rheuma, Gicht oder eine Mangelernährung lassen sich an den Knochen ablesen. Genau wie Hinweise auf Ethnie und auch das Sterbealter, wenn große Vergleichstabellen dazu vorliegen. Moderne Methoden lassen sogar zu, dass man erkennen kann, wo jemand gelebt hat.
Herausfinden kann man das durch bestimmte chemische Bestandteile, die sich in der Nahrung und Getränken befinden und in den Knochen ablagern. Das ist ziemlich interessant. Es gibt mittlerweile sogar Datenbanken dazu, die diese chemischen Elemente bestimmten Regionen zuordnen. So kann man zum Beispiel sagen, wenn ein Mensch eine Zeit lang in Tschechien und dann in Frankreich gelebt hat, weil bestimmte chemische Verbindungen gehäuft in diesen Regionen vorkommen. Die Elemente gelangen durch das Wasser in unseren Körper und bleiben im Knochen erhalten.
Wie ist es zum Beispiel möglich gewesen, so viele Details über das Leben von Ötzi herauszufinden?
MB: Bei Ötzi waren die Knochen zweitrangig. Diese wurden zwar angeschaut und untersucht, aber der Mageninhalt, die Kleidung, die Werkzeuge, das erhaltene Gewebe und auch der Fundort wurden kriminalistisch komplett aufgearbeitet und hatten eine viel größere Bedeutung. Bei vielen Leichen, die wir sehen, sind aber wirklich nur noch die Knochen übrig. Zum Beispiel in den USA, wenn Skelette an den Highways gefunden werden. Da wird dann wirklich klassische forensische Anthropologie anhand der Knochen betrieben.
Welche kuriosen Knochenfunde gab es in der Vergangenheit?
MB: Ich war gerade beim Kongress der "American Academy of Forensic Sciences". Dort habe ich einen italienischen Kollegen getroffen, der Vampirleichen in Venedig ausgegraben und untersucht hat. Bei einem dieser Skelette befand sich ein großer Ziegelstein im Mund. Der Kiefer stand deshalb weit offen. Mein Kollege meint, dass das gemacht wurde, damit der vermeintliche Vampir nicht zubeißen konnte. Ein anderer Kollege, der öfters Leiter militärischer Operationen ist, hat einmal Menschenknochen aus dem Ofen eines Pizzabäckers herausgezogen.
Der Pizzabäcker wollte den Toten loswerden und hat die Überreste im Pizzaofen verfeuert. Damit hat er allerdings die Knochen nicht kaputt bekommen, weil die Hitze nicht groß genug war. Und noch eine dritte Geschichte: Eine meiner Kolleginnen untersucht die Skelette von Erhängten. Sie versucht herauszufinden, ob diese Menschen tatsächlich durch einen Genickbruch gestorben sind oder dadurch, dass das Blut durch die seitliche Adern am Hals nicht mehr ins Gehirn kam. Das ist schon sehr interessant, denn ein Genickbruch war beim Henken gar nicht so leicht herbeizuführen.
Mit welchen menschlichen Überresten lässt sich noch viel analysieren?
MB: Zähne sind zum Beispiel eine sehr gute Möglichkeit, um viel über einen Menschen zu erfahren. Das sind zwar keine Knochen im klassischen Sinne, sie sind dem Knochengewebe aber ähnlich und halten sich äußerst lange. Als wir bei den Mumien in Palermo waren, hatten wir nicht genug Zeit für alle Untersuchungen. Da haben wir uns neben den Insektenresten hauptsächlich die Zähne angeschaut, um daran den sozioökonomischen Status ablesen zu können. Je besser die Zähne erhalten waren, desto wahrscheinlicher war es dort, dass es sich um einen der Mönche gehandelt hat.
Sie hatten einen sehr geregelten Tagesablauf, haben kaum körperlich gearbeitet und haben sich gesund ernährt, weshalb die Zähne sehr gut erhalten waren. Auch beim Germanwings-Absturz von 2015, bei dem der Pilot das Flugzeug an den Bergen hat zerschellen lassen, wurde die Identifizierung über die Zähne vorgenommen. Ebenso wie beim Einsturz des World Trade Center, wo aber auch viel mit DNA-Untersuchungen gearbeitet wurde.
Wie kann man unterscheiden, ob es sich um Reste von Mensch oder Tier und auch von Mann oder Frau handelt?
MB: Bei der Unterscheidung Mann oder Frau liegt das Hauptaugenmerk auf dem Beckenbereich und den Knochenwülsten oberhalb der Augen. Allerdings zieht man anhand der Knochen nur erste Schlüsse, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt. Um auf Nummer sicher zu gehen, wird, wann immer es geht, noch die DNA überprüft. Bei der Unterscheidung Mensch oder Tier ziehe ich immer einen Zoologen dazu. Es gibt nämlich auch sehr verrückte Knochenfunde. Ich war zum Beispiel bei der Untersuchung der Knochen des heiligen Severin von Köln dabei – der ist vor rund 1.600 Jahren gestorben.
Hier hat der Zoologe bei einzelnen Knochen ganz schnell gesagt, dass sie von einer Maus stammen. Jetzt könnte man meinen, dass man das auch so sofort erkennen kann, aber ich kann es zumindest nicht. Bei kleinen oder alten Knochen kann ich das oft nicht auf Anhieb sagen, weil auch der Mensch zum Beispiel im Ohr sehr kleine Knochen hat. Aber auch hier: Wenn es hart auf hart kommt, macht man trotzdem noch einen DNA-Test.
Wie lässt sich bei Knochenfunden das Sterbealter identifizieren?
MB: Das ist sehr schwierig. Früher wurden die Knochen mit einer Säge längs und quer aufgeschnitten. So konnte anhand des Aufbaus der Gelenke und der Knochenwand das Sterbealter festgestellt werden. Dafür gab es Vergleichstabellen. Das funktioniert heute aber nicht mehr so zuverlässig, weil die Menschen immer beleibter werden und sich das auch auf den Bau und die Abnutzung der Knochen auswirkt. Da braucht man mittlerweile neue Vergleichswerte, weil die alten Tabellen nicht mehr zuverlässig sind. Dass man sich darauf nicht mehr wirklich verlassen kann, hat man beispielsweise an der University of Tennessee und deren "Body Farm" herausgefunden. Dort werden neue Tabellen entwickelt.
Welche Angewohnheiten aus unserem Alltag haben Einfluss auf unsere Knochen und deren Struktur?
MB: Sport hat zum Beispiel einen Einfluss auf unsere Knochenstruktur. Je mehr Muskeln ein Mensch hat, umso ausgeprägter und kräftiger sind Ansatzstellen an den Knochen. Auch die Ernährung verändert unsere Knochenstruktur. Haben wir zum Beispiel einen Vitamin-Mangel oder trinken viel Alkohol, so ist das auch in den Knochen ablesbar. Anhand der Knochen lässt sich außerdem erkennen, ob jemand zu Lebzeiten eine einseitige Haltung hatte. Zum Beispiel weil er die Tasche immer auf einer Seite über der Schulter trug. Dort sind die Knochen dann oft mehr abgenutzt oder verdickt. Ein Klassiker ist auch der Beruf, zum Beispiel bei einem Teppich- oder Fliesenleger. Da sieht man oft eine Veränderung an den Knien.
Wie lange sind Knochen "haltbar" und was kann sie zerstören?
MB: Knochen und Zähne sind sehr stabil. Ihnen kann aber starke mechanische Gewalt zu schaffen machen. Als beim World Trade Center diese vielen Etagen aufeinander gekracht sind, ist von den Knochen nicht viel übrig geblieben und selbst viele Zähne wurden zerstört. Feuer ist zum Beispiel ein nicht ganz so großes Problem für Knochen. Ich habe mir ja mal Hitlers Schädel und Zähnen angeschaut – da wurden Unmengen von Benzin drüber gekippt und angezündet. Das hat kurz gebrannt und schnell wieder aufgehört. Das halten Knochen sehr gut aus.
Zwar trennen sich beim Schädel die Schichten, aber ansonsten bleiben die Knochen und Zähne bei kürzeren Bränden ganz gut erhalten. Was man zum Beispiel aus der Serie "Breaking Bad" kennt, ist, dass man Knochen mit Chemikalien zerstören kann. Diese machen aber auch viel von der Umgebung kaputt und irgendetwas bleibt immer zurück. Ein Beispiel für die Problematik der Beseitigung von Knochen zeigt sich auch im Fall des deutschen Serienmörders Fritz Haarmann. Er hat etliche Menschen getötet. Deren Kleidung hat er verkauft und das Fleisch von den Knochen getrennt.
Das Gewebe hat er dann an Nachbarn verkauft. Die Knochen konnte er aber nicht zerstören und schmiss sie in einen Fluss. An dem alten Mythos, dass Würmer Knochen zerstören, ist übrigens überhaupt nichts dran. Einzig die Wurzeln von Bäumen und Pflanzen nutzen das Knochenmaterial und lösen sie langsam auf. Man bekommt alles irgendwie kaputt, aber bei Knochen ist es tatsächlich ziemlich schwierig.
Mark Benecke (*1970) ist Deutschlands populärster Kriminalbiologe und Spezialist für forensische Entomologie. Er promovierte an der Uni Köln im Institut für Rechtsmedizin und absolvierte fachspezifische Ausbildungen in der ganzen Welt (u.a. beim FBI). Er ist Deutschlands einziger öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger für zahlreiche biologische Spuren und untersuchte als weltweit einziger Forscher vor Ort in Moskau Adolf Hitlers Schädel, Zähne und Röntgenaufnahmen des Schädels.
Mit großem Dank an Bettina Fath und die Redaktion für die Erlaubnis zur Veröffentlichung.