Pflege-Streiks: "Es handelt sich um stinknormale Überforderung"

Quelle: Die ZEIT Nr. 29/2022, 14. Juli 2022, Christ & Welt, S. 29—30; Online: https://www.zeit.de/2022/29/mark-benecke-pflege-streik-krankenhaeuser/komplettansicht

Kann Nächstenliebe unbeabsichtigt zu Leid führen? Der Kriminalbiologe Mark Benecke unterstützt den Klinikstreik in Nordrhein-Westfalen. Und sagt: Aus Mitgefühl haben Pflegerinnen und Pfleger lange auf einen Arbeitskampf verzichtet – was zum Notstand in den Krankenhäusern beitrug.

Interview: Andreas Öhler

Foto: Diese Krankenhausmitarbeiterin arbeitet auf einer Covid-Station in Stuttgart. In Nordrhein-Westfalen streiken seit dem 2. Mai 2022 die Beschäftigten der sechs Unikliniken.

Christ&Welt: Herr Benecke, Sie sind Kriminalbiologe, als "Dr. Made" ermitteln Sie zum Beispiel anhand des Insektenbefalls einer Leiche deren Todesursache und Liegedauer. Mit Ihren Vorträgen füllen Sie Hallen. Aber jetzt sind Sie in einer Kölner Kirche aus einem anderen Grund aufgetreten: Sie unterstützten den Streik des Pflegepersonals aus sechs Universitätskliniken in Nordrhein-Westfalen. Was hat Sie dazu bewogen?

Mark Benecke: Mit dem Pflegenotstand ist es wie mit dem Artensterben und dem Klima: Alle Messungen sind bekannt, aber sie interessieren nur die wenigsten. Nachdem das Klinikpersonal vor rund zehn Wochen in den Streik gegangen ist, hat sich auch zu deren eigenem Erstaunen nichts getan.

Es wurden zwar ein paar Gespräche geführt, die Gewerkschaft saß mit am Tisch, aber öffentlicher Unmut blieb aus. Die Pflegerinnen und Pfleger haben mich schon vor dem Streik angesprochen, und ich unterstütze sie gerne.

C&W: In der Kirche St. Agnes lasen Sie und einige Pflegerinnen und Pfleger Erlebnisse aus dem Krankenhausalltag vor. Was versprachen Sie sich davon?

Benecke: Um die Öffentlichkeit aufzuklären, haben einige Klinikmitarbeiter ein "Schwarzbuch" zusammengestellt, in dem sie ihre Erlebnisse mit Sterbenden schildern. Personalknappheit hat tödliche Folgen. Das ist aber offenbar unangenehm. Denn als sie diese Berichte öffentlich vortragen wollten, fand sich außer den vielen Anwesenden wieder kaum jemand, der das nach außen tragen wollte.

C&W: Warum gibt es so wenig Resonanz für die Belange einer so wichtigen Berufssparte?

Benecke: Menschen gehen davon aus, dass alles zu funktionieren hat. Wasser kommt aus dem Wasserhahn, der Strom kommt aus der Steckdose, Straßenbahn fährt, Pflege läuft.

C&W: Nun ist es ja ein Unterschied, ob Metallarbeiter oder Pflegekräfte streiken. Letztere geraten doch in ein ethisches Dilemma. Wenn sie die Arbeit niederlegen, versorgen sie die Patienten nicht.

Benecke: Es ist dasselbe, für die Patientinnen und Patienten da sein zu wollen und bessere Arbeitsbedingungen zu erstreiten: Die Kranken leiden ja darunter, dass es nicht genügend Pflege- und Labor-Personal in den Kliniken gibt. Die Beschäftigten würden diesen Zustand lieber ohne Streik erreichen.

Die meisten sind jung und haben Lust auf den Beruf. Viele Pflegekräfte glauben an Nächstenliebe, Gerechtigkeit, Wahrheit oder sonst irgendwas.

C&W: Eine Studie der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung von 2018 schätzt, dass in den deutschen Kliniken 100.000 Vollzeitkräfte fehlen. Der Fachkräftemangel wurde durch die Coronapandemie noch größer. Woher soll das Personal kommen?

Benecke: Die Fachkräfte in der Pflege kann man leicht in der ganzen Welt anwerben. Wie das gehen kann, habe ich in meiner Jugend noch selbst erlebt. Da haben hier in Deutschland beispielsweise noch Pflegende aus Korea gearbeitet. Nur sind die wieder wie vorher angekündigt in ihre Heimat zurückgekehrt.

Zudem sind viele Deutsche mit Pflegeberufen in die Schweiz gegangen, weil sie hier in Deutschland zu wenig verdient haben. Warum soll in der Pflege nicht gehen, was in der Autoindustrie oder bei Programmiererinnen und Programmierern funktioniert?

C&W: Woher soll das Geld denn kommen?

Benecke: Steuern, Gebühren – egal. Es ist nur eine Geldfrage und eine Frage des Willens, diese altertümliche Ausbeutung von Menschen in der Pflegebranche zu beenden.

Mehr Personal, mehr Fürsorge für das Personal, ein guter Tariflohn – und das Problem würde sich lösen. Man könnte sich dann auch das "Empathie-Burn-out"-Gequatsche sparen. Es handelt sich um stinknormale Überforderung, die durch Ausbeutung entsteht.

Der Beleg: Es gibt Pflegebetriebe, wo die Mitarbeitenden zufrieden sind.

C&W: Nennen Sie uns einen ...

Benecke: Neulich war ich in einem Hospiz. Dort stellen sie dem genügend vorhandenen Personal einen Raum zur Verfügung, in den sich jede und jeder zurückziehen kann.

Wer ständig mit Sterbenden zu tun hat, braucht einen Ort, wo er alleine mit sich sein oder mit jemandem darüber reden kann. Vor 25 Jahren hat man noch darüber gestritten, ob es in einer Polizei-Abteilung eine Teeküche braucht. Solche Möglichkeiten zur kurzen Auszeit würde man heute nicht mehr hinterfragen.

C&W:Nordrhein-Westfalens Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann von der CDU sagte vor einem Jahr im Christ&Welt-Interview: "Tarifverträge fallen nicht vom Himmel, sie müssen erkämpft werden. Die Beschäftigten in der Pflege müssen sich dringend besser gewerkschaftlich organisieren. Nach drei Jahrzehnten in der Pflege- und Gesundheitspolitik ist mein Fazit, dass die Pflege nie mit am Tisch sitzt, wenn über Pflege entschieden wird." Geben Sie ihm recht?

Benecke: Das kann ich nur bestätigen. Die Pflegeberufe sind katastrophal gewerkschaftlich organisiert. Der Grund liegt nicht zuletzt in der schon genannten Empathie, die eine Voraussetzung für die Arbeit in der Pflege ist.

Vor allem junge Menschen gehen davon aus, dass die Gesellschaft ein Gewebe aus mitmenschlicher Freundlichkeit sei. Sie haben keine Ahnung von kaufmännischem Denken und auch sehr wenig von ärztlichem. Wenn du im Glauben lebst, dass es eine höhere Gerechtigkeit gibt, die für Mitgefühl, Wärme, Liebe und sonst was in der Welt sorgt, dann begibst du dich nicht in eine gewerkschaftliche Tarifauseinandersetzung.

C&W: Macht die Empathie in den Pflegeberufen diese Menschen moralisch erpressbar?

Benecke: Ich würde mich nicht in einen solchen Gewissenskonflikt reinziehen lassen, den andere erzeugt haben. Menschen sind, wie sie sind, nämlich ökonomisch handelnde Wesen. Nicht im rein wirtschaftlichen, sondern auch im biologischen Sinne. Damit müssen die Pflegerinnen und Pfleger umgehen.

C&W: Kühl rechnende Ökonomen gegen warmherzige Pflegekräfte?

Benecke: Ich arbeitete als Kriminalbiologe im New Yorker "Chief Medical Examiner’s Office". Das rechtsmedizinische Institut lag neben einer Klinik. Dort bin ich auch mit den Krankenhaus-Kaufleuten zusammengekommen. Einfühlungsvermögen und Wunschdenken haben die natürlich nicht interessiert. Sie haben den Krankenhausbetrieb rein rechnerisch betrachtet.

Es hat ein bisschen gedauert, bis ich verstanden habe, dass ohne ihre kaufmännischen Entscheidungen es gar kein Krankenhaus gäbe. Ohne Krankenhaus wird niemand mehr behandelt. Nur leben Ärztinnen und Ärzte, die Labor-Leute, die Kaufleute und die Pflegenden auf getrennten Planeten und sprechen unterschiedliche Sprachen.

C&W: Das Pflegepersonal sagt: Wir kämpfen für bessere Bedingungen, auch für unsere Patienten. Wir versuchen Härten wie unaufschiebbare OPs zu vermeiden, aber ansonsten hilft der Streik heute auch denen, die dann morgen besser versorgt werden. Lässt sich dieses Argument denn beweisen?

Benecke: Ja. Das ist eine messbare, also geradezu naturwissenschaftliche Wahrheit, die man aber auch kulturell, sozial und politisch leicht prüfen kann. Ich habe mal in New Orleans gearbeitet. Wenn da ein Notfallpatient in die Ambulanz eines Hospitals kam, hieß es: "Wir sehen, dass Ihr Finger halb abgetrennt ist. Aber da können wir im Augenblick leider nichts dran ändern. Sie müssen sich in die Warteschlange begeben wie all die anderen. Der Herr vor Ihnen hat einen halb abgetrennten Zeh. Und die Dame davor ist ein Nierenkolik-Fall. Sie sind jetzt als Fünfter gekommen. Oder ehrlich gesagt: als Fünfzigster."

Solche Probleme lassen sich durch Geld und Personal lösen. Wenn die Pflegerinnen und Pfleger sagen, wir fordern, dass mehr Personal eingestellt wird und vernünftige Tarifverträge ausgezahlt werden, hilft das daher allen zukünftigen Patienten.

C&W: Die Erlebnisse aus dem Alltag, die in dem Schwarzbuch stehen, aus dem Sie in St. Agnes in Köln vorgelesen haben, sind sehr drastische Schilderungen. Besteht nicht die Gefahr, dass Patienten lieber zu Hause bleiben und sich nicht behandeln lassen, statt solchen Zuständen ausgeliefert zu sein?

Benecke: Im bildungsbürgerlichen Umfeld fragt man sich das vielleicht. Aber dort kennen die meisten einen Arzt oder eine Ärztin, und dann wird da ihr Problem am Telefon besprochen. Die Leute, die nicht aus dem Bildungsbürgertum kommen, können niemanden anrufen oder Druck machen über Beziehungen. Sie würden niemals auf die Idee kommen zu sagen: Dann gehen wir nicht mehr ins Krankenhaus. Sie haben keine andere Anlaufstelle. Deswegen verstehen sie die Streikenden auch besser.

C&W: Fanden Sie es schade, dass sich die Pflegenden ihre Leidensgeschichten gegenseitig vorgelesen haben und fast unter sich geblieben sind?

Benecke: Ich hätte nichts dagegen, wenn ihre Aktion eine Binnengeschichte bleibt, dafür aber die Klinikleitungen Schweiß und Blut schwitzen. Weil sie merken: Okay, die streiken uns jetzt wirklich kaputt. Dann müssen sie eine Lösung finden. So wie sie in der Altenpflege zum Glück noch vor Corona gefunden wurde.

C&W: Was läuft da besser?

Benecke: Altersheime sind ja noch abhängiger von wirtschaftlichen Zwängen als Uni-Kliniken. Deshalb mussten sie eine Charmeoffensive starten zur Anwerbung von Altenpflegerinnen und -pflegern. Und sich aber auch daran halten, was sie versprachen.

Wenn eine 19-Jährige in eine Einrichtung kommt und sieht, dass das eine abgeranzte Drecksbude ist und das mit dem schicken Werbeplakat aus der U-Bahn vergleicht, dann geht sie in eine andere Einrichtung. Genauso sollte es in der Krankenbetreuung laufen: vernünftige Tarifverträge, Fürsorge und genügend Personal.

C&W: Können Sie sich selbst in der Rolle eines Krankenpflegers vorstellen? Und wie würden Sie mit dem inneren Zwiespalt umgehen, jemanden warten lassen zu müssen?

Benecke: Man kann daraus immer diese klassische Dilemma-Nummer machen. Ich halte solche Überlegungen für reine Ablenkungstaktik.

Viele Betroffene reden leider erst mal nur in ihrer Abteilung über ihr Problem. Nur dort wird nichts entschieden. Deshalb ist es richtig, im Alltag wie im Streik direkt mit den Entscheiderinnen und Entscheidern zu sprechen.

C&W: Das ist aber für eine Pflegekraft mit viel Arbeit und wenig Geld nicht so einfach.

Benecke: Stimmt. Angestellte sind nicht dafür verantwortlich, dass die ganze Abteilung marode ist. Und sie sind vor allem nicht dafür zuständig, Überstunden abzuleisten, nur weil die Klinikleitung nicht für mehr Personal sorgt.

C&W: War die Kirche denn der richtige Ort für diese Veranstaltung?

Benecke: Die meisten, die dort anwesend waren, sind keine Christinnen und Christen. Sie kannten also das Setting nicht.

Hinter dem Redepult hing groß und klar der leidende Christus. Zusammen mit der Lesung bekam das eine moderne christliche Bedeutung. Sie war nicht geplant, sondern einfach da.

Das ist doch eine schöne, verrückte Wendung.




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