Lieber Nippes als New York

Quelle: Kölner Stadt-Anzeiger vom 19. Juli 2016 , Seite 32
VON JACQUELINE ROTHER (TEXT) UND THOMAS BANNEYER (FOTOS)

Die lockere E-Mail-Korrespondenz vor unserem Treffen ist sehr vielversprechend. Als wir Mark Benecke dann an der Haltestelle Florastraße in Nippes treffen, hat er seine Kappe tief in die Stirn gezogen. Ein bisschen so, als wolle er sich doch noch verstecken. Darauf angesprochen lacht er nur und schüttelt uns herzlich die Hände.

Auch seine Frau Ines Fischer ist dabei. Doppelt hält besser. Mittlerweile ist Benecke Deutschlands bekanntester Kriminalbiologe und eine Art Rockstar auf seinem Fachgebiet. Bevor das so war, hat er an der Kölner Uni Biologie studiert. Gewohnt hat er während dieser Zeit in Nippes. Wo er während seiner zehn Jahre im Veedel die Zeit verbracht hat, zeigt er uns nun.

Den Spaziergang durch seine Vergangenheit hat er komplett durchgeplant. Und es geht direkt los. Erste Station: Schillplatz. Auf dem Rondell, umgeben von bunten Häusern, ist es morgens noch menschenleer.

Spurensicherungs-Kit immer dabei

Unter der Lichterkette des angrenzenden Restaurants steht der „Schmelztiegel“. Ein riesiger Blumentopf aus Waschbeton, der zum Brunnen umfunktioniert wurde. Daran war Benecke eher zufällig beteiligt. „Ich bin jeden Tag über den Platz gegangen oder mit dem Rad gefahren, und hier standen eines Tages Frauen, die Kuchen verkauft haben, um einen Brunnen zu finanzieren. Das Geld war aber Nebensache – der Kuchen hat mich überzeugt“, erzählt Benecke uns lachend und klopft auf den massiven Stein.

Das war 1995. Da war er 25. Im Leben eines Studenten hat Essen eben eine hohe Priorität. Heute, mit 45, weist ihn sein Name auf der Sponsoren-Plakette als edlen Spender aus. „Ich finde diese Machart ganz charmant. Köln ist eine der wenigen Städte, wo es diese Waschbeton-Pötte noch gibt.“ Nur das, wozu der Brunnen gebaut wurde, das tut er ausgerechnet nicht. Plätschern. „Es gab und gibt offenbar niemanden, der das Wasser bezahlt.“ Aber das scheint den Kriminalbiologen nicht weiter zu stören, für ihn ist die Aktion eine nette Anekdote aus seiner Studentenzeit. Und zwar eine von vielen, die wir in den kommenden Stunden hören.

Er will uns zeigen, wo er gewohnt hat. Ganz sicher ist Benecke sich aber nicht mehr. Ein kurzer Blick in die Stadtplan-App auf dem Smartphone. „Wir müssen ja keine Umwege gehen.“ Ein Augenzwinkern. Auf zur Kempener Straße 117. „Das Haus steht ja jetzt unter Denkmalschutz“, freut er sich, als wir ankommen.

Hier ist er mit 18 Jahren direkt nach der Schule eingezogen. „Damals gab es keine Heizung. Als ich einmal an Weihnachten aufschließen wollte, war es so kalt, dass das Schloss vereist war. Ich kam nicht rein.“ Da habe er sich in die Kneipe „Zum Denkmal“ ein Haus weiter gerettet, einen bierseligen Abend verbracht „und einen Schlafplatz bei einer netten Lady erhalten“. In der Kneipe ist Benecke auch öfter mit seiner Band „Die Blonden Burschen“ aufgetreten. „Die netten Kneipenbesitzer haben extra für uns Eierlikör gekauft. Wir waren die einzigen, die das getrunken haben.“ Die Band gibt es nicht mehr. Musik macht der 45-Jährige aber immer noch. Er singt, dreht Videos und legt auf Gothic-Partys als DJ auf.

In puncto Wohnraum vergrößert hat er sich im Vergleich zur Studentenzeit nicht wirklich. Aktuell lebt er mit seiner Frau in der Südstadt – in seinem Labor. „Wir sind so viel unterwegs, mehr als ein Schlafzimmer brauchen wir nicht.“

Wir gehen in Richtung Marktplatz, als Benecke und seine Frau plötzlich stehen bleiben und begeistert auf einen Stromkasten zeigen. Wir wollen sehen, was die beiden gefunden haben: eine Fliege. Es wird ein Foto für die Sammlung gemacht. Sie hat Punkte auf dem Rücken. Die Begeisterungsstürme des Paars für dieses Flügeltierchen sind bemerkenswert. „Die ist so klein, die können wir nicht bestimmen, wie wir es sonst machen“, sagt Benecke. Zehn Meter weiter eine ähnliche Szene: Wilde Mini-Erdbeeren bekommen ebenso viel Aufmerksamkeit wie Fliegen. Ein sympathischer Tick.

Für diese ausgeprägte Art vonWeltentdeckertum hat Benecke immer eine Bauchtasche mit Utensilien dabei. Pinzette, Lupe, ein Spurensicherungs-Kit für spontane Leichenfunde, Füller für Autogramme, einen Spiegel, ein Multifunktionswerkzeug und für den kleinen Spaß zwischendurch Hasenzähne aus Plastik. Diese Mischung aus allzeit bereiter Arbeitsmotivation und skurrilem Humor spiegelt genau die Persönlichkeit wider, die wir während des Spaziergangs kennenlernen.

Auf seinem Fachgebiet der Kriminalbiologie und der forensischen Entomologie, der Insektenbesiedlung von Leichen, ist er ein Ass, hoch versiert und professionell. Auf der anderen Seite ist er ein Vollzeit-Entertainer, der nicht nur DJ und Musiker, sondern auch Autor, Politiker, Veganer, Peta-Aktivist, Donaldist und Tattoo-Fan ist. Er ist, macht und tut so viel, dass wir nicht wissen, was wir zuerst fragen sollen. Als wir dann doch, nach einigen Stopps, am Marktplatz ankommen, wird Benecke direkt von einem Fan zu einem Foto gekapert. Der Gemüsehändler freut sich: „Sie kenn’ ich aus dem Fernsehen.“ Sie wechseln ein paar nette Worte, dann erzählt Benecke: „In meiner Studentenzeit, als ich in Nippes gewohnt habe, war ich nie im Supermarkt. Ich habe alles frisch auf dem Wochenmarkt am Wilhelmplatz gekauft, auch weil es günstiger war.“ Vegetarier ist der gebürtige Kölner schon lange, Veganer erst seit zwei Jahren. Auf dem Markt kauft er noch ein Pfund frische Pilze.

Rheinische Toleranz in Ehren

Dann will er mit uns ein Foto vor dem Gemüsestand machen. „Für Facebook“, sagt er. Seine Fans werden täglich mit mehreren Posts versorgt, damit sie auf dem Laufenden bleiben, was „Marky Mark“ oder „Markito“, wie er selbst unterschreibt, gerade so tut. Bei einer veganen Linsensuppe vom türkischen Imbiss Dürümcü Ali Baba, wie er sie während seiner Studienzeit täglich gegessen hat – eben gut und günstig – erzählt er uns, wieso Nippes für ihn früher cooler war als New York. „Ich bin nach dem Studium in Köln, das war kurz vor dem Millennium, in die Rechtsmedizin nach Manhattan gegangen. Da war die Stimmung aber nicht besonders entspannt. Einige der Amerikaner kamen aus kleinen Städten und hatten eine schwer unkölsche Lebensauffassung.“ Die Selbstverständlichkeit, mit der sie ihre Weltsicht vertraten, sei ihm auf den Wecker gegangen. „Die vielen Ausländer im Team waren da entspannter.“

In der Zeit belegte er auch einige Kurse an der FBI-Academy und arbeitete auf der Body Farm, einem Leichen-Experimentierfeld in Tennessee. „In Nippes habe ich gelernt, dass man keine voreiligen Annahmen machen darf. Dass die Sachen nicht so sind, wie sie dargeboten werden. Sowohl bei der Arbeit als auch privat.“ Die rheinische Toleranz habe er erst in Amerika schätzen gelernt. Nach seiner Arbeit in New York sei er wieder ins beschauliche und weltoffene Nippes zurückgekehrt.

Bei seinen Reisen zu Fallbegutachtungen, Skelettbesichtigungen und Vorträgen ist er mehr in der ganzen Welt unterwegs als in Köln. „Ines und ich hatten mal überlegt umzuziehen. Wir sind auch viel in Berlin. Oder irgendwo in der Mitte von Deutschland wäre gut, zum Beispiel in Fulda. Aber da ist nichts los. Wenn wir mit der Bahn zurück nach Köln kommen, über die Hohenzollernbrücke fahren und den Dom sehen, dann sind wir zu Hause.“ Den Zahn könne man ihm auch nicht mehr ziehen, verrät er.

Um ihre Liebe zu Köln und zu einander zu besiegeln, wollen die Eheleute ein Schloss aufhängen und suchen während des Spaziergangs ein Plätzchen dafür in Nippes. Am Ende entscheiden sie sich dann doch überraschend klassisch: für die Hohenzollernbrücke.

Mit großem Dank an Jaqueline Rother, Thomas Banneyer und die Redaktion für die Erlaubnis zur Veröffentlichung.