Quelle: Sonic Seducer, Juli, Seiten 85 – 95
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31. Wave-Gothic-Treffen | 17. – 20. Mai 2024
Auf nach Leipzig hieß es an Pfingsten wie der traditionell, zum inzwischen 31. Wave-Gotik-Treffen. Und viele Gruftis aus aller Welt sind dem Ruf des größten deutschen Subkultur-Festivals gefolgt, manche zum ersten, manchen zum zigsten Mal. Und das mit durchaus unterschiedlichen Motiven. Während die einen möglichst vielen Konzerten der insgesamt 219 Bands und Musiker lauschen wollten, zog es die anderen zu Lesungen, zum Mittelalter-Flair ins Heidnische Dorf oder zum Viktorianischen Picknick. Wie jedes Jahr wurden dabei die Rufe laut, dass das WGT vielen nur noch als Instagram-Maskenball diene und die Szene zudem immer mehr zur Kommerzveranstaltung geriete. Fakt ist, das inoffizielle Rahmenprogramm, das man in Leipzig auch ohne Festivalbändchen erleben kann, war auch in diesem Jahr wieder üppig. Freier Eintritt in diversen Museen, das Steampunk-Picknick am Kleingärtnermuseum, der Dark Affair-Markt mitten in der Leipziger Innenstadt und natürlich das Gothic-Pogo-Festival am Werk II.
Im Mittelpunkt stand für die meisten der vom Veranstalter genannten Besucherzahl von 18.000 aber wohl wieder einmal die Musik, wobei es auch dies es Jahr wieder zahlreiche Highlights zu erleben gab. Neben dem Mitternachtsspecial der Editors erfreuten sich auch Prayers aus Mexiko, Dernière Volonté im besonderen Ambiente der Kuppelhalle, Diva Destruction, die Reaper-Reunion-Show, aber auch Newcomer wie SDH (Semoitics Department O f Heteronyms) oder die Schweden von Emmon regen Zuspruchs.
Viel zu hören und zu sehen also beim 31. WGT. Und wer ganz genau hinschaute, der konnte sogar den ein oder Straßenbahnfahrer der Leipziger Verkehrsbetriebe in entsprechender Gothic-Gewandung erhaschen.
Marc Urban
Aber nun übergeben wir das Wort an Dr. Mark Benecke und wünschen gute Unterhaltung mit seinem exklusiven WGT-Tagebuch 2024!
11. Mai 2024
22:05 Uhr: Letzter Tag vor der Abreise zum WGT. Davor noch eine Autismus-Konferenz. Ines ist erst jetzt eingefallen, dass sie ihre Haare noch grün färben muss.
12. Mai 2024
11:27 Uhr: Ines’ Haarfarbe sieht genauso aus wie vor dem Färben. Sie meint aber, der Grünton sei jetzt viel intensiver. Da ich den Unterschied nicht bemerke, bescheinigt sie mir Farbenblindheit. Ich kann offenbar grün nicht von grau unterscheiden.
Köln, Hauptbahnhof:
Wochenalter Geruch von Urin und Crack strömt uns entgegen. Im sauberen Sachsen, besonders in den kameraüberwachten Promenaden, dem Einkaufsparadies im Leipziger Hauptbahnhof, wird es garantiert anders aussehen und auch anders riechen.
13. Mai 2024
10:55 Uhr: Unser Festival-Banner-Motiv von Tikwa trifft ein. Seine großartigen Geschichten von Engeli und Teufeli erfreuen mich schon seit Ewigkeiten. Jetzt bin ich Teil dieses traumhaft gruftigen Universums. Tikwa hat sich sogar in Motten hineingefuchst und lässt diese aus meinem Herz steigen.
Berlin, Friedrichstraße: Nach einem Kongress zu verschollenen Büchern in der Staatsbibliothek, beschleicht uns beide das Gefühl, etwas Wichtiges für das WGT vergessen zu haben. Und tatsächlich: Ines vermisst ihr Patchouli-Parfum. Sie schlägt vor, in den hiesigen Darkstore zu gehen. Da Ines die Angewohnheit hat, sich die exotischsten Patchouli-Sorten zu kaufen (Ines: „Zuletzt habe ich mir Patchouli-Marzipan geholt.“), hoffen wir, dass der Laden auch solche besonderen Düfte anbietet.
14. Mai 2024
18:34 Uhr: Berlin Friedrichshain: Wir erreichen den Darkstore. Verkäuferin Kati begrüßt uns: „Ihr habt Glück, denn wir haben schon 80 Prozent unserer Ware weggeräumt“. „Wo räumt ihr diese hin?“, will ich wissen. „In Lkw, mit denen wir zum WGT fahren. Und ich hoffe, dass nichts mehr zurückkommt“ (lacht). Kati und Olaf, der für den „Kleinkram“ (vor allem Werkzeuge) verantwortlich ist, ist auch auf spezielle Wünsche eingerichtet ... zum Beispiel verschiedene Patchouli-Sorten. „Letztes Jahr hat uns ein Besucher nach Patchouli-Pflaume gefragt“, erzählt Olaf. „Wir konnten aber nur Patschuli-Erdbeer und Kirsche anbieten.“ Ines empfehlen die beiden übrigens Patchouli mit Kaffee.
16. Mai 2024
9:06 Uhr: Mein Vortrag auf der Autismus-Konferenz des Bundesministeriums für Bildung und Forschung der Humboldt-Universität und der Goethe-Universität im Senatssaal der Humboldt-Universität steht unmittelbar bevor. Über Nacht hat sich Ines’ Nagelfarbe auf einmal verändert. Die Nägel sind jetzt schwarz. Doch Zweifel quälen sie: „Ich kann mich nicht entscheiden, ob ich meine Nägel schwarz oder weiß lackieren soll.“
9:44 Uhr: Im Publikum der ersten Reihe sitzt Jörn, ein Gothic. Er trägt eine silberne Fledermaus, Mittelscheitel und ein Edgar-Allen-Poe-T-Shirt. Ich frage ihn, welche Farbe Ines für ihre Fingernägel nehmen soll. „Ich bin für schwarz, aber es ist ihre Entscheidung“. Jörn nimmt an der Konferenz Teil, weil er selbst Autist und Mitglied beim Verein „White Unicorn“ ist, der Autistinnen und Autisten befragt und in dessen Vorstand ich bin.
14:10 Uhr: Wir stehen vor dem ICE nach München, werden aber von unseren reservierten Sitzplätzen verscheucht mit den Worten: „Warum wollen eigentlich alle nach Leipzig? Gehen sie bitte raus.“ Auf Nachfrage, ob dieser Zug denn nach Leipzig fahre, sagt der Begleiter: „Ja, dies könnte der Zug nach Leipzig sein. Gehen sie aber bitte trotzdem raus.“ Wir sind verwirrt.
14:28 Uhr: Ein Zugteil fährt, der andere nicht. Gegenüber fährt ein weiterer Zug, aber nur bis Bitterfeld. In weiser Voraussicht (oder auch aus Panik) reserviere ich direkt weitere Zugverbindungen, die später am Abend fahren.
16:33 Uhr: Endlich in Leipzig. Eigentlich müssten wir in einen Karnevalsladen, um schwarzes Konfetti zu kaufen. Außerdem braucht Ines Helium für die Jubelfeier der Vampyr-Community. In diesem Moment entdecken wir eine Steampunk-Ausstellung. Die örtliche Bevölkerung bewundert diese. Besonderes Staunen ruft bei einem Mann in Camp-David-Übergangsjacke ein goldener Helm hervor. Preis des Steampunk-Helms: 4.500 Euro.
17:06 Uhr: Die Bändchenschlange harrt im strömenden Regen aus. „Morgen wird das Wetter schön, und dann werden wir picknicken“, glaubt Ceyda, die zusammen mit Silvio geduldig wartet. Fürs Picknick haben sie alles dabei: Käsehäppchen, Nüsschen, Sektchen. „Und vielleicht hole ich noch eine Leipziger Lerche.“
17:24 Uhr: In der Linie zwölf treffen wir Sage und Jules, die sich darüber freuen, auch auf der Hinfahrt so viele „buntschwarze“ Menschen getroffen zu haben. Für Sage ist es das erste WGT. „Ich bin sehr aufgeregt und gespannt, wie die Leute so drauf sind, und möchte mit Menschen zusammenkommen, die die gleiche Musik hören, und vielleicht neue Freundschaften schließen.“ Sie freut sich vor allem auf [x]-RX. Jules, der schon öfters in Leipzig war, hat ihr versprochen, dass sie nach diesen Tagen inspiriert nach Hause fahren wird.
17:33 Uhr: Schlimm, schlimm! Der europäische Fußballverband UEFA führt hier irgendeine Registrierung durch. Einige der internationalen Gäste schauen die hereinströmende Schar von Menschen in schwarzer Kleidung, mit bunten Rastazöpfen und in für sie offenbar wie Spitzenwäsche scheinender Oberbekleidung oberflächlich gleichgültig, aber doch mit zahlreichen erkennbaren Seitenblicken an. Sollen wir ihnen sagen, dass wir keine Fußballfunktionäre oder gar aktive Sportler sind?
19:48 Uhr: Wie sich herausstellt, müssen wir in zwölf Minuten an der Agra sein, sind aber erst im Bahnhof. Es wird schwierig.
20:05 Uhr:Wir sind noch nicht weit gekommen, allerdings haben wir Ines verloren. Wo ist Ines? Dafür steht jetzt neben mir eine jahrhundertealte Vampirin, die wie aus einem Manga entsprungen scheint. „Ich muss mir noch einen alten Namen geben“, meint sie. „Agnes! Ich heiße Agnes.“
20:39 Uhr: DJ Elvis und DJ Olli, die auf der Eröffnungsfeier des WGT auflegen werden, sind eingetroffen. Festival-Chef Sven hofft, dass die beiden ob ihres fortgeschrittenen Alters bis zur Eröffnungsfeier durchhalten werden. Nach der Eröffnungsparty, die ich mit dem Zünden einer Konfettibombe mit unzähligen weißen Schmetterlingen zu einem zauberhaften Erlebnis machte (so rede ich es mir wenigstens ein), treffen wir an der Haltestelle zur letzten Straßenbahn Pandora und Melanie. Pandora hat wie Ines einen spitz zulaufenden Pony. Da stellt sich die Frage: Pony dreieckig geschnitten? Oder doch lieber gerade? „Dreieckig, weil das einfach fancier ist“, meint Pandora. Auf dem Nachhauseweg kommen wir am WGT-Teich vorbei. Eine der wiederkehrenden, brennenden Fragen von Ines: Welche Farbe hat der Teich? „Er sieht ein bisschen grün aus. Wegen der Algen“, vermutet sie. Vielleicht sind es auch andere Sachen.
17. Mai 2024
11:28 Uhr: In der Straßenbahn kommen wir mit Nina ins Gespräch. „Ich freue mich riesig darauf, wenn Leipzig wieder schwarz – oder besser gesagt buntschwarz – wird.“ Sie selbst ist zwar kein Gothic, aber sie liebt das Treiben zu Pfingsten. „Endlich wieder mal was los“, so ihr Fazit.
12:33 Uhr: Das Wasser im Brunnen scheint wirklich grün zu sein. Es liegt wohl doch nicht an den Algen, denn laut eines Schildes der Stadt Leipzig, das Wasser chemisch behandelt worden sei. Apropos Farbe: Ich habe mir einen schwarzen Nagellack gekauft, aber vergessen, ihn mitzunehmen. So kann ich natürlich nicht auftreten. Aber Rettung naht: In der Agra-Halle baut der Darkstore just seinen Verkaufsstand auf. Olaf rechnet dort damit, dass Netzstrumpfhosen wieder der Verkaufsschlager sein werden. „Netzstrumpfhosen sind aber auch ein bisschen wie die Teelichter eines schwedischen Einrichtungshauses“, fügt Kati hinzu. „Selbst wenn man nichts kaufen wollte, geht man mindestens mit ein paar Netzstrumpfhosen wieder raus“. Ines hat sich mit Patchouli eingedeckt.
“Dieses Mal ganz langweilig mit Vanille“, meint sie. Anyway: Ines hat ihr Patchouli, ich habe meinen Nagellack. Jetzt steht dem Auftritt nichts mehr im Wege.
12:48 Uhr: Da der Aufbau in der Agra-Halle noch andauert, habe ich jetzt die Möglichkeit – Ihr ahnt es bereits – mir die Nägel zu lackieren. Nur unsere Buchhändlerin Kathrin ist schon komplett vorbereitet und so etwas wie die Insel der Vernunft im WGT-Chaos.
16:07 Uhr: Die Bar versorgt die Besucher während aller Vorträge. Als Besonderheit empfiehlt Barfrau Jana „Purple Fire“, einen alkoholfreien Cocktail in Lila. „Da ist Curacao drin, sowie Grenadinesirup, Maracuja-, Orangen-, Ananas- und Zitronensaft.“ Klingt gesund. Ines indes überlegt mit Blick auf die Ananas, die auf der Theke steht, wie wohl die Mehrzahl von Ananas heißt.
16:31 Uhr: Backstage in der Agra ist neben DJ Elvis auch Fischi. Sie trägt einen gerade geschnittenen Pony. Was mich zu meiner Hauptfrage des diesjährigen WGT bringt: Pony spitz zulaufend wie bei Ines, oder gerade geschnitten? „Eindeutig gerade“, sagt sie. Ihr Argument: „Er ist einfach leichter zu stylen.“ Elvis will sich auch einen Pony schneiden. Das zeigt, wie wichtig dieses Thema ist.
16:37 Uhr: Im Agra-Backstage herrscht ameisenartige Betriebsamkeit. Techniker Nico bewacht ein selbst gemachtes Plakat. „Das ist unsere Botschaft an die etwas nervigeren Künstler, angelehnt an Monty Pythons großartigen Film ,Die Ritter der Kokosnuss’. In der Szene, wo eine Burg von den Franzosen besetzt worden ist, kam der Satz vor: ,Now go away or I shall taunt you a second time!’“ Ob er denn überhaupt schon nervige Künstler erlebt habe, wollte ich wissen. „Des Öfteren“, so seine Reaktion.
17:15 Uhr: Der Mitteldeutsche Rundfunk taucht auf und wird eine Live-Schalte vor der Agra machen. Ich habe bei meinem Vortrag das Publikum aufgefordert, sich zu beteiligen, da solche Live-Übertragungen nicht geschnitten werden können. Ob das eine gute Idee war?
18:43 Uhr: Neben dem Stand von „Hands“, die uns mit feinstem Noise beschallen, ist Maskenbildnerin Natascha Zenig mit ihrer Kunst vertreten. Heute verkauft sie Horrorkreaturen auf Tassen und Taschen. „Normalerweise entwerfe ich Zombies, die ich in einer passenden Location von einem Fotografen ablichten lasse und stelle diese Bilder dann aus“, erklärt sie. „Da ich aber keine Bilder mitnehmen konnte, habe ich mir gedacht, dass ich meine Werke mal auf Tassen drucken lasse, um auszutesten, wie die Gäste das annehmen werden.“ Die Liebe zu Gruselwesen ist für die gebürtige Kärntnerin schon immer vorhanden. „Schön kann jeder, schiach [österr. für „hässlich“] muss man können.“
18:55 Uhr: Selten habe ich Ines so stark auf einen Gegenstand fixiert gesehen. Es handelt sich um eine Geruchskarte mit gefühlt 100 Patchouli-Düften. Sie murmelt leise: „Patchouli-Erdbeer … abgefahren!“ Nun hält sie mir ihre Hand unter meine Nase: „Patchouli-Pflaume.“ Der Duft, nach dem so viele Besucherinnen und Besucher fragen.
19:25 Uhr: Am Stand von „Schnittmuskel“ steht die Chefin Denise inmitten von Kleidern, die man problemlos auch in der Metropolitan Opera tragen könnte – allerdings sind sie „destroyed“. „Wir haben asymmetrische, ausgefranste Säume an die Kleider genäht, sowie Karabinerhaken oder übereinandergelegte Stoffe. Das ist hier quasi die Mode der feinen Gesellschaft nach der Apokalypse.“
19:54 Uhr: Chris und Lucy von Ravenchild sind auch auf dem Marktplatz der Agra-Halle. Sie haben die Ausstellung „Steampunk trifft alte Meister“, die wir bei der Ankunft am Leipziger Bahnhof bewundern konnten, gestaltet. „Wir haben 200 Steampunks aus ganz Deutschland und 20 Fotografen organisiert“, erklärt Chris. „Diese sollten sich dann so positionieren wie die Figuren aus den Originalgemälden.“ Sogar ein Mädchen aus der Ukraine nahm daran teil. Sie wurde als „verwundeter Engel“ – das Bild stammt aus dem Jahre 1903 und ist vom finnischen Maler Hugo Simberg – dargestellt, um auch ein politisches Statement zu setzen. Lucy stand für mehrere Aufnahmen als Model vor der Kamera. „Es hat mir total viel Spaß gemacht, weil die Menschen, mit denen ich arbeiten durfte, sehr nett waren.“
20:17 Uhr: Peter Spilles von Project Pitchfork läuft auch durch die Hallen. Er ist einer der wenigen Künstlerinnen und Künstler, die sich trauen, sich unters Volk zu mischen. „Kann ich jedem meiner Zunft nur empfehlen“, meint er. „Man wird auch nicht die ganze Zeit angesprochen, weil Gothics dann doch eher schüchtern sind.“ Er selbst wird aber nachher auch wieder Backstage verschwinden, um, wie er sagt, „den anderen Bands die Getränke wegzutrinken und weiterzufeiern“.
22:04 Uhr: Gerade hatte Peter Heppner ein ruhiges, sehr feinsinniges Konzert auf der Hauptbühne in der Agra gegeben. Auch Ines ist überwältigt: „Eine zehn von zehn. Eigentlich müsste er elf Punkte bekommen.“
22:10 Uhr: Peter Heppner ist bei mir und schildert seine Eindrücke vom Auftritt: „Die Agra-Halle ist schwer zu bespielen, weil es darin unheimlich hallt. Aber es war ein schönes Konzert.“ So schön sogar, dass das Publikum am Ende der Zugabe dem Musiker auch noch „Danke“ zugerufen hat. Das habe ich in dieser Art noch nie bei einem Konzert erlebt.
18. Mai 2024
10:54 Uhr: Feueralarm im Hotel. Die Menschen strömen in den Vorhof. Es regnet, niemand hat einen Regenschirm dabei.
11:02 Uhr: Der Alarm ist aus, die Feuerwehr leute stehen etwas ratlos da. Der Gratis-Kaffee ist fürdie Hotelgäste freigegeben. Tag drei auf dem WGT kann nun endlich beginnen.
11:40 Uhr: Am Bahnsteig ist Sara mit einer Pride-Flag unterwegs. Ob das nicht zu bunt wird für die Grufties. „Hä?“, lautet ihre berechtigte Gegenfrage. Ich habe auch ein buntes Accessoire, nämlich mein verrücktes buntes Einhorn auf meiner Tasche. „Das ist schon cool“, befindet Sara. „Aber ein Dino wäre noch cooler gewesen.“ Sie ist zusammen mit ihrer Freundin Lilly bereits das – geschätzt – vierte Mal unterwegs. Lilly mag die Menschen, die auf dem Festival rumlaufen. „Auch wegen der Einhorn-Taschen.“
12:07 Uhr: Hanspeter und Ilse aus Honnef stehen mit mir an der Agra. Hanspeter betreibt akribische Festivalvorbereitung, wie Ilse erklärt. „Er hört sich jede Band, die auf dem WGT auftritt, an, hat drei Bildschirme am Start, liest sich die Biografien auf Wikipedia durch, schaut sich auf YouTube die neuesten Songs an, vergibt Sternchen, macht Excel-Tabellen ...“ Dennoch waren sie vom gestrigen Auftritt von Theatre Of Hate und Christian Death im Täubchenthal nur mäßig begeistert. „Da kam leider keine Stimmung rüber“, kritisiert Hanspeter. Für heute hat er aber keine Bedenken: „Agonoize werden uns nicht enttäuschen.“
16:10 Uhr: In wenigen Sekunden tritt der Tod auf. „Es ist ja wie ein Nachhausekommen. Home sweet home“, erklärt er mir. „Die Grufties sind ja wie Groupies. Die laufen mir ja ständig hinterher. Das kenne ich sonst ja nicht.“
16:57 Uhr: Der Tod singt Weihnachtslieder mit dem Publikum. „Tödliche Weihnacht überall, singen alle Gänse saftig prall. Weihnachtsbaum abgebrannt, bei Glatteis mutig losgerannt. Tödliche Weihnacht überall, singen alle Tannen vor dem Fall ...“
18:08 Uhr: Was für ein Konzert: In Strict Confidence in der Agra. Da muss man selbst dabei gewesen sein. Man kann sich gar nicht entscheiden, wer hübscher ist: Die Frontfrauen oder Sänger Dennis? Oder alle zusammen? Hinter der Bühne erzählt mir Chris von Agonoize von einem denkwürdigen Auftritt im Jahr 2007. „Wir waren gerade beim dritten Song, als ich feststellte, dass irgendwie die ganze Zeit Flüssigkeit von mir runterlief. Es stellte sich heraus, dass ich mir die Nase gebrochen hatte. Ich weiß bis heute nicht, wie das passiert ist. Obwohl ich nüchtern war.“ „Dem Publikum fiel es nicht auf, weil bei Agonoize-Konzerten sowieso immer viel Kunstblut läuft“, fügt Ines hinzu. Heute haben die Veranstalter gebeten, keine rote Flüssigkeit zu verteilen. Macht aber nichts: „In Berlin werden wir nächsten Monat 20 Jahre Agonoize feiern. Da wird dann wieder jede Menge Blut fließen.“
18:22 Uhr: Im Agonoize-Crew-Raum. Jede Menge Menschen hier (wollen vermutlich alle Blut spenden). Ich lerne Beatrice kennen, die eine Gemeinsamkeit mit mir hat: das gleiche Tattoo am Handgelenk. Es ist die Unterschrift von Chris.
18:52 Uhr: Dennis Ostermann von In Strict Confidence hängt nach dem Konzert in den Seilen. Ich treffe ihn liegend vor. „Die Klimaanlage war kaputt und die Heizung an“, scherzt er. Nach einem sensationellen Konzert ist er selbst so ausgebrannt, dass er gerade keine Adjektive für dieses Gig finden kann.
18:56 Uhr: Elvis und Mark besprechen die nächste Moderation. Es stellt sich nämlich heraus, dass eins der Konzerte auf eineinhalb Stunden angesetzt war, die Band aber nur ein Set von ungefähr einer Stunde hatte. „Macht nichts, wir werden einfach dazwischen moderieren und die Leute ein bisschen befragen“, löst Elvis das Problem.
18:57 Uhr: Das schönste Kompliment, das ich bekommen konnte, stammt heute von Daniel Myer, bekannt für seine sehr gute Musik in verschiedenen Projekten wie Covenant und Haujobb, aber auch für seine Brillen. Er ist vollsten Lobes über mein Sehgestell. „Sie ist futuristisch, mattschwarz. Das Beste, was es gibt.“ Der Musiker verrät, dass er aus den USA nach Leipzig gekommen ist und seitdem nicht mehr geschlafen hat, deswegen ist der Backstage sein Lieblingsort. „Ich bin auch schon mal auf einem Sofa neben einer Bühne eingeschlafen.“ Blöd nur, dass er auftreten sollte. Seinen eigenen Auftritt zu verpennen – das soll ihm erst mal einer nachmachen.
19:35 Uhr: Wir sind am veganen Essensstand, als uns Jenny und Björn vom Auftritt der Band Irdorath im Heidnischen Dorf erzählt. „Die Gruppe stammt aus Weißrussland und wurde 2021, nachdem sie auf einer Friedensdemo auftrat, zu zwei Jahren Haft verurteilt. Das ist ihr erstes Konzert auf einem Festival nach ihrer Entlassung gewesen. Es war sehr emotional. Die Band steht in engem Kontakt mit Corvus Corax und in Deutschland bleiben. Wir unterstützen sie bei ihrer Crowdfunding-Kampagne, damit sie das Asylverfahren bezahlen können.“ Der absolute Burner kommt aber jetzt: Björn hat die PC-Fantasy-Spiele „Gothic“ und „Gothic 2“ entwickelt, und Irdorath war der Name einer Insel aus dem zweiten Teil. „Bei einer Roleplay Convention um 2014 rum habe ich dann die Band kennengelernt, die im Regen für fünf Leute ein Konzert gaben“, erinnert er sich. „Die haben mich gefragt, ob ich damit ein Problem hätte. Im Gegenteil: Ich fühlte mich geehrt. Es ist für mich wie ein Ritterschlag, wenn Menschen sich von dem Kram, den wir uns erdacht haben, inspirieren lassen.“ Meine Herzens-Geschichte des WGT 2024!
23:35 Uhr: Linie 11E. Neben mir steht der halb entkleidete Don Camillo. Er war beim Leichenwagentreffen, fährt aber jetzt Straßenbahn. Warum? „Weil ich getrunken hab“, gibt er zu. „Und weil ich noch auf die Obsession-Bizarr-Feier will. Mit dem Leichenwagen dort hinzufahren, könnte vielleicht einen falschen Eindruck erwecken.“ Ansonsten liebt Don Camillo die Bequemlichkeit seines Wagens. „Vor allem das Bett, das ich hinten eingebaut habe, ist sehr gemütlich.“
19. Mai 2024:
9:46 Uhr: Ich erwache. Neben mir liegt anstatt Ines eine Zusammenstellung mir unbekannter Gegenstände. So, wie sich Vampire in tausend Fledermäuse verwandeln können, hat sich Ines anscheinend in Schminkstift, Kajal und andere undefinierbare Gegenstände verwandelt. Ich bin gespannt, ob ich sie aus diesen Teilen wieder zusammensetzen kann. Drückt mir die Daumen.
10:38 Uhr: Der Mitschnitt des MDR trudelt ein. Mir war gar nicht aufgefallen, dass ich die Moderatorin schwer geschockt habe, als sie mich ahnungslos fragte, wovon meine Vorträge denn handeln, und ich von verfaulten Leichen, die aus der Erde gegraben werden, berichtete. Sie sagte nur noch: „Wir sehen uns dann.“ Was meinte sie wohl damit?
12:09 Uhr: Neben mir steht Fledi. Fledi trägt einen gerade geschnittenen Pony. Ihr salomonisches Urteil zu meiner Haupt-Frage des Festivals: „Man muss einfach alles mal ausprobieren. Und es hängt auch davon ab, wie gut man einen Pony stylen kann, weil es morgens nie wie ein Pony aussieht, sondern wie ein Iro.“
12:39 Uhr: Meine diesjährigen Vorträge, die täglich in der Agra-Halle stattfinden, handeln von der Mafia und den fünf Großfamilien. Giulia hat Verbesserungen zu meiner italienischen Aussprache: „Es heißt Cannoli und nicht Cannolo.“ Die sizilianische Sü.speise wird also auch im "Chessa"Singular so ausgesprochen. Aber Giulia beruhigt mich: „Wenn du in Süditalien ,Cannolo’ bestellen würdest, passiert nichts. Die denken dann bloß: Ein Tourist.“
12:51 Uhr: Die freundliche und mittlerweile auch in der milden, unbesoffenen, friedlichen, herumflatternden Welt der Gothics angekommene Security leistet einen doppelten Dienst. Erstens sorgen sie dafür, dass nichts passiert, zweitens – und das finde ich noch viel wichtiger – sind sie das erste freundliche Gesicht, das neue WGT-Besucherinnen und Besucher als erstes zu sehen bekommen.
14:54 Uhr: Ich lerne Katrin kennen, die zu Hause „Benecke raten“ spielt. „Immer, wenn wir dich im Fernsehen sehen, versuchen wir anhand deiner Tattoos und deiner Brille herauszufinden, von wann der Mitschnitt war.“
15:10 Uhr: GRASSI Museum. Eva und Thomas, die wie ein Weinköniginnenpaar gewandet sind, halten eine Flasche Sekt aus Karl-Marx-Stadt aka Chemnitz in der Hand. „Chemnitz ist 2025 Kulturhauptstadt“, sagt Eva stolz. Der Perlwein stammt allerdings aus Trier. Hat sich hier ein Westprodukt eingeschlichen? „Karl Marx ist in Trier geboren“, erklärt sie. Somit schließt sich der Kreis.
15:17 Uhr: Dani, Petra und Olga tragen Pony. Natürlich auch hier meine Festival-Frage: Wie soll der Pony frisiert und geschnitten sein? „Tiefer langer Pony, sodass die Haare die Augenbrauen gerade noch freilassen“, meint Dani: Sie findet Augenbrauen schön. Petra dagegen will die Haare über die Brauen tragen, damit sie diese nicht schminken muss. Olga würde es wie Dani machen, den Pony aber noch kürzer schneiden.
15:19 Uhr: Ich spotte Thomas Rainer von L’Âme Immortelle und Oswald Henke von Goethes Erben, die Gastgeber der ihre Weinverköstigung vor dem GRASSI Museum. „Das ist jetzt das achte Mal, dass wir das machen“, erklärt Oswald. „Die Idee war, zu den Ursprüngen des Festivals zurückzukehren und eine nichtkommerzielle Veranstaltung zu machen. In ungezwungener Atmosphäre bringt jeder seinen Lieblingswein mit und stellt ihn vor. Daraus entstehen anregende Gespräche und man lernt tolle Weine kennen – und natürlich tolle Menschen.“ Das kann ich nur bestätigen: Die Stimmung ist wirklich außergewöhnlich.
19:04 Uhr: Backstage im Heidnischen Dorf. Hier ist Teufel von In Extremo in aufgeregter Stimmung. Sein persönliches Highlight: „Ein Wein vom Chaos-Treffen 1999, den ich geschenkt bekommen habe. Es ist der Hammer.“ Ob ihm beim Betrachten der Flasche irgendwelche Gedanken durch den Kopf gingen? „Nur, dass wir diesen Wein schon damals getrunken haben. An alles andere kann ich mich nicht mehr erinnern.“ (lacht)
20:44 Uhr: Das Orgelkonzert in der Paulskirche ist tatsächlich ein Orgelkonzert, aber anders, als gedacht. Spätestens dann, als das Publikum, angestachelt durch Orgelspieler Nico Wieditz, gemeinsam „Skandal um Rosie“ rief, und bei einer Coverversion von Miley Cyrus’ „Wrecking Ball“ und einem mir nicht näher bekannten Volkslied Kreistänze vollführte. Bereits im letzten Jahr, als Stimmgewalt hier zu Gast waren, hat sich die Paulskirche zu einem der seltsamsten Orte des WGT im positiven Sinne entwickelt. Doch dass „God Is A DJ“ von Faithless zusammen mit einem klassischen Kirchenlied durch die Hallen donnern würde, hätte wohl bis heute niemand geahnt. „Ich bin total überw.ltigt“, sagt Ines. Sie war aber die Einzige, die nicht getanzt hat. Immerhin ging mein Video der reichlich beschwingten Gothics durch die Decke.
21:34 Uhr: Backstage in der Moritzbastei. Zu unserem Erstaunen treffen wir eine der besten Bands überhaupt: Welle: Erdball. Heute sagen M.A. Peel, Honey und ich aber nur an. Morgen spielen sie ersatzweise für Vive La Fête. Probleme bereitete die innerhalb nur einer Stunde zu besorgende Abendgarderobe. „Es gelang uns aber, bei H&M, Zara oder Calzedonia irgendetwas zu finden, das gut aussieht“, beschwert sich die Band.
20. Mai 2024
11:38 Uhr: Ines ist heute als Vampir-Waldwesen mit neu erworbenem Schmuck und einem Efeu-Haarband von Schnittmuskel unterwegs. Am Hauptbahnhof fährt weder die WGT-Straßenbahn (Linie 1), noch sind irgendwelche Grufties unterwegs. Was ist denn jetzt schon wieder los?
11:51 Uhr: Chilliger letzter Tag. Es sind doch noch einige Gothics da. Desy aus der Schweiz genießt ihn und geht noch zur Agra-Halle, um Freunde zu treffen. Ihr Geheimnis gegen einen Kater: Kirsch-Met-Slushie. „Das hält einen fit.“ In der Schweiz gibt es übrigens das Aare-Wasser. „Da hat jede Bar ihr eigenes. Es ist blau und süß, aber man merkt den Alkohol nicht so sehr, deswegen: Aufpassen!“
20:40 Uhr: Backstage in der Agra. Wie wir schon wissen, musste für den spontanen Gig von Welle: Erdball noch vieles neu angeschafft werden. „Ich bin jetzt eine Stewardess in Puderrosa“, meint Lady Lila. Darunter verbirgt sich aber noch ein Glitzerkostüm. „Ich finde, dass wir diese Klamotten ruhig noch einmal nehmen können“, glaubt M.A. Peel. Yonca verwaltet die Setlist, die sie soeben mit Filzstift aufgeschrieben hat. Yonca stand auch schon mal als Ersatz für Lady Lila in Glauchau auf der Bühne, als Welle: Erdball Support für VNV Nation waren. „Nach der Show kam Ronan noch zu mir und hat mir gesagt, dass ich das ganz toll gemacht hätte.“
22:41 Uhr: Neben mir steht Reina. Wir machen ein Selfie. „Vor zwölf Jahren waren wir schon mal gemeinsam auf einem Foto, als ich beim Forensic Biology Day bei dir zu Hause war. Aber die Leute, die das Bild gemacht haben, schickten es nicht weiter.“
00:16 Uhr: Kirlian Camera liefern ein wirklich denkwürdiges Konzert ab. Mastermind Angelo Bergamini hat eine dermaßen fette Abmischung seiner Songs hingelegt, dass Elena Fossi nur noch zaubern musste. Das Publikum hat so lange getobt, dass Herr Bergamini sich genötigt sah, nach vorne an die Bühne zu kommen und mit den Worten „Zeit ist kaputt“ mitzuteilen, dass es keine Zugabe geben könne. Das Publikum hat aber diesen Satz nicht verstanden und weitergetobt, sodass es am Ende doch noch eine Zugabe gab.
01:03 Uhr: Wir verlassen das Agra-Gelände. Die Traktoren kommen und transportieren die Bänke und Gitter ab. Über uns grüßen zum Abschied zauberhafte Wolken und flüstern uns zu: „Kommt nächstes Jahr wieder!“ Das war das WGT 2024. Wir sehen uns wieder.
Dr. Mark Benecke
Transkribiert & überarbeitet von: Daniel Dreßler
Fotos: Mark Benecke, Ines Azrael, Rene Danners,
Alexander Mühlhausen, Laura Fatteicher
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www.benecke.com