Sowas können nur Gothics

Quelle: Orkus! Juni 2024, Seiten 34 – 36

Dr. Mark Benecke über das WaveGotik-Treffen 2024

Von Claudia Zinn-Zinnenburg

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Ein Wave-Gotik-Treffen ohne Dr. Mark Benecke? Das geht natürlich nicht! Also haben wir ihn zum Interview gebeten. Immerhin war dieses 31. WGT laut eigenen Angaben ungefähr sein zwanzigstes. „Gut, dass ich bei der Eröffnung in der Agra mit Oli und Elvis schon eine Wolke weißer Papierschmetterlinge in die nebelgeschwängerte Luft entlassen habe, das erkläre ich jetzt einfach mal als Jubiläums-Party-Gimmick“, grinst er.

Orkus: Wie hast du die Anfahrt erlebt? Hat es euch die deutsche Bahn schwer gemacht?

Mark Benecke: Es war wie immer völliges Chaos, Zugteile fehlten, das Personal wusste auch nix und dergleichen. Da ich keine Gehstöcke mehr auf längere Reisen mitnehme – der letzte Stock mit Silbergriff flutschte auf die Gleise in Leipzig, das war gar nicht gut –, ging es aber immerhin ohne Verluste ab. Wir kamen von der Autismus-Konferenz in der Humboldt-Universität Berlin, die ich nicht nur moderiert habe, sondern wo ich auch „den“ großen Vortrag nach fünf Jahren Arbeit mit unserem Autismus-Verband White Unicorn, zwei Universitäten und dem Bundesministerium für Bildung und Forschung liefern durfte. Mein Gehirn war also sowieso Matsch. Am lustigsten war, dass uns bei der Ankunft in Leipzig eine Zugführerin aus dem Flixtrain begrüßte. Mit dem waren wir aber gar nicht gefahren. Es fing also sofort schön und wild an.

Wo führt es dich als erstes hin, wenn du in Leipzig angekommen bist?

Beim WGT immer zur Ausstellungsfläche der „Promenaden“, also der riesigen Verkaufsflächen des Bahnhofes. Dort war diesmal eine Steampunk-Ausstellung zum WGT aufgebaut, mit tollen Bildern und Ausstellungsstücken. Die Chefin der Ausstellung trafen wir dann später sogar auf dem WGT in der Agra.

Was hatte es mit diesem Feueralarm im Hotel auf sich?

Unser Schicksal in dichter besiedelten Hostels mit engeren Räumen. Jüngere Menschen vergessen offenbar, beim Duschen auch mal zu lüften (Wasserdampf!) oder – wie diesmal – Brötchen nicht in der Mikrowelle verkohlen zu lassen (schwarzer Qualm). Es war echt lustig, einen Riesen-Haufen Gothics vermischt mit Fußball-EuropameisterschaftsVerwaltungs-Menschen, alle ohne Kaffee und alle ohne Styling im Regen im Hof zusammen zu sehen. Die Stimmung war entspannt und gut. Anders als die Feuerwehrleute in der Agra wollten die Feuerwehr-Spezialist:innen für Hotelbrände aber nicht mit uns aufs Foto. Hm, vielleicht sahen wir in Unterhosen und mit KajalResten vom Vortag doch zu gruselig aus?

Was waren deine besonderen Highlights? – Musikalisch gesehen?

Welle:Erdball & Kirlian Camera, deren Unterschriften ich auftätowiert habe, nacheinander auf der großen Agra-Bühne, was willste mehr? Und Massiv in Mensch, mit denen ich den Song „Magicicada“ gemacht habe – diese Tiere schlüpften 2024 auch wieder in einer superspannenden Wellenbewegung – in der Moritzbastei mit Honey & M.A. Peel anzusagen, war auch der Brenner. Honey hatte den Fans noch Dave Gahan als vierten Moderator angekündigt, aber der kam nicht mehr rechtzeitig. Buuuh, Dave Gahan! Und In Strict Confidence waren auf der Hauptbühne! Und Chris von Agonoize ist mitten im Set verschwunden, wir vermuten, ins Catering, er sang aber live weiter. Und Heppner und Tanzwut und Polka tanzende Schwarzgekleidete zu Orgelklängen in der Peterskirche und ... oh mein Goth. Fettes Lob für die Wahnsinns-Breite der Bands und Acts und Angebote. Von wegen immer dasselbe – es gibt jede Menge Überraschungen beim WGT.

Kannst du uns mehr über die magischen Zikaden erzählen?

2024 schlüpfen diejenigen Tiere, die 13 Jahre als Larven in der Erde waren, zusammen mit denen, die 17 Jahre in der Erde waren. Und zum ersten Mal seit dem Jahr 1803 treffen sich die Zikaden-Linien XIX und XIII. Hach, toll.

Was waren deine menschlichen, szene-technischen Highlights?

Sehr angenehm. Die Irrungen und Wirrungen der letzten Jahre mit einigen durch die Seuche angeschlagenen Künstlerinnen und Künstlern waren passé, es fluppte schön und fein. Es zeigt sich, dass auf dem WGT alle mit allen sprechen und sich in die Augen sehen können. Find ich angenehm und es passiert sonst nicht so oft. Außerdem knie ich vor Tikwa nieder, der für mich Engeli und Teufeli (Gruftschlampe-Comics) wieder hat auferstehen lassen. Danke, Tikwa <3

Welche Begegnungen sind dir besonders in Erinnerung geblieben?

Ich war zuvor noch nie beim Umtrunk vor dem Grassi-Museum mit Meister Oswald (Henke), dessen Patch ich seit einiger Zeit immer auf meiner Oberbekleidung trage – auf dem WGT wie auch sonst überall – und Thomas (Rainer). Das war eine tolle, ausgelassene, aber gar nicht betrunkene Stimmung. Sowas können nur Gothics: Zivilisiert miteinander (!) trinken, dabei saugut aussehen und immer etwas Interessantes zu berichten haben. Hut ab.

Und ich fand’s toll, dass unsere jüngste Studierende zur Eröffnung mit an unser DJ-Pult kam und sich mal alles angesehen hat. Eines Tages kann sie vielleicht von den alten Herren Oli, Elvis und Markito übernehmen.

Was war dieses Jahr besonders lustig?

Dass die meisten der von mir befragten Frauen so klare Meinungen zur Form und Länge von Ponys (der Haar-Frisur) haben: Lang, kurz, dreieckig, über oder unter den Augenbrauen und sooo vieles mehr. Und dass überall in der Stadt Plakate einer Partei hingen, die eine Lebenszeit von über achthundert Jahren verspricht. Unter diesen Plakaten habe ich einige Vampir-Fans fotografiert. Vampire werden ja bekanntlich tausende von Jahren alt und sind daher interessante Zeugen für die Ziele der AlterungsVerhinderungs-Partei.

Wie sah es dieses Jahr mit deinen eigenen Vorträgen aus? Wie hast du sie erlebt und was fasziniert unsere Szene an „100 Jahre Gangster in New York“ besonders?

Möp, wie immer habe ich jeden Tag einen Vortrag gehalten. Das war super, weil an einem der Tage auf einmal der Tod auftauchte, der nach mir dran war. Da seine schwarze Kutte natürlich leer und hohl ist und er trotzdem sprechen und singen kann, bin ich in seine Garderobe (ahem, drei Haken an der Wand in einer Lagerhalle) geschlichen und habe geschaut, ob ich Hinweise auf seine Geistergestalt finde. Da hing aber nur eine winzige Sense. Wir werden also vielleicht nie erfahren, wie der Tod ohne Umhang aussieht. Das Publikum bei meinen Vorträgen war superangenehm, zumal ich einen ganz anderen Vortrag gehalten habe, ohne Fäulnis und viel Blut, und trotzdem mehr interessierte Rückmeldungen als sonst kamen. Voll schön.

Im Laufe der Jahre hast du ja auch die verschiedensten „Trends“ miterlebt, wie das plötzliche Auftauchen und Verschwinden der Cyber zum Beispiel. Was war dein Eindruck dieses Jahr?

Ich habe nur noch eine Cyberin gesehen, ansonsten mischt sich vieles. Die Moderatorin des MDR, für die ich live von der Flaniermeile der Agra gesendet habe, fragte mich überraschend, was ich trage, und Ines und ich haben es hinterher ermittelt: „Romantic-Goth-Mantel, Punk-Schuhe, Steampunk-Kappe, Oldschool-Fingernägel und Destroyed-Stulpen sowie eine Polyester-Unterhose“.

Ich hatte mir kurz vorher in Bad Harzburg auch noch Emoji-Socken als Scherz fürs Fernsehen gekauft, aber die waren dann von meiner Zwanzigerjahre-Arbeiterhose verdeckt. Alles geht modisch drunter und drüber, aber nicht nur bei mir.

Ines hat sich dieses Jahr ja wieder in die verschiedensten tollen Outfits geschmissen. Welches hat vielleicht auch dich besonders überrascht?

Dazu nur ein Beispiel: „Mark! Arghgghghg! Einer meiner superlangen, spitzen Fingernägel, die ich stundenlang mit echten und Gel-Teilen und geheimen UV-Apparaten und eintausend Pinselchen und Zeugs hergerichtet habe, ist jetzt in der blöden Klo-Spülung abgebrochen! Macht aber nix. Es war die Sollbruchstelle.“ Ich hätte so viele Fragen dazu! (lacht)

Apropos Kulinarik … bei der Weinverkostung warst du ja wie schon erwähnt auch zugegen. Was ist dir hier in Erinnerung geblieben?

Dass die Polizei sich ferngehalten hat. Ines hat mich mal während einer Live-Radio-Sendung (radioeins der ARD) mit dem Logo des Senders dort tätowiert und wir hatten sehr schnell die verdeckten Kollegen, allerdings wahnsinnig schlecht getarnt, an der Backe. Gruftis mit Dämonen-Hörnern oder in Manga-Optik hingegen scheinen im Vergleich zu Ines und mir allein unverdächtig zu wirken. Sehr gut! Auch die Schrift-Zeile auf den Plattenbauten seitlich des weinkundlichen Treffens fand ich schön.

Hast du eigentlich eine Lieblings-Location in Leipzig?

Viele. Die Pusteblumen-Brunnen aus Metall vor der Blechbüchse am Goerdelerring finde ich beispielsweise toll. Erstens kühlen sie mich bei glühender Hitze, zweitens sehe ich die geisterhaften Reihen der Demonstrierenden seit der politischen Wende, erst mit Kerzen in der Hand, Jahrzehnte später dann mit Plakaten gegen fiese Menschen, dort vor meinem geistigen Auge entlang wandern. Und es gibt da einen der witzigen Erdbeer-Läden, die zur Erdbeerzeit aufgebaut werden und wie eine Erdbeere gestaltet sind. Ziemlich unwirklich.

Was hat das 31. WGT für dich ausgemacht?

Ich finde ja, es war das 33. WGT, weil ich während Corona mit Ines und ein paar anderen ja einfach trotzdem vor Ort war und gefeiert habe. Die Versammelten und deren Welten waren auf dem Treffen 2024 jedenfalls für einige Tage erkennbar im Ausgleich, „in Ordnung“, in Frieden, offen, schön, herzlich und angenehm, angenommen und annehmend, hinreichend heil und glücklich, vielfältig und in allen Farben der Finsternis anwesend. Wer weiß, wie oft wir das noch erleben. Wenn alles absäuft und abfackelt werde ich gerne an dieses WGT zurückdenken.

Was wünschst du dir für das nächste Treffen 2025?

Bitte remixed auch im kommenden Jahr alles durcheinander, Klamotten wie Musik. Freut euch an und mit unserer schwarzen Familie und vor allem: Kommt einfach vorbei. Das WGT ist das einzige Festival der Welt, wo für jeden, egal welchen Alters und welchen Budgets oder welcher schwarzen Interessen, einhundert Pro alles Mögliche dabei ist.


WGT 2024

Leipzig


Songs of Love and Sorrow

2024


We want it darker

A Tribute To Leonard Cohen


WGT-Tagebuch

2024