Quelle: DIE ZEIT, 21/2003, 15. Mai 2003, Seite 41
FORENSIK — Die deutsche Forensik hat die Blutspuranalyse entdeckt. Mit ihr lassen sich Mörder leichter überführen
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Von Viola Keeve
Wie rot lackiert schien der Boden des Appartements im Kölner Gereonswall […]. Es roch leicht metallisch. Rotschwarz verschmiert waren Wände, Möbel und der Teppich, auf dem eine Männerleiche lag, nackt, auf dem Bauch, mit Einstichen, fast ausgeblutet. Für die Kölner Polizei ist der Mord an […] bereits der zweite in der Homosexuellenszene am Ebertplatz. Die Suche nach dem Täter, dem „Homo-Ripper von Köln" (Express), blieb bisher ohne Erfolg.
Die Polizei hat bislang nur einen einzigen Zeugen: das Blut am Tatort. Allein die Größe und Forrn einzelner Tropfen auf dem Boden, der Wand, der Decke geben Antwort auf zahlreiche Fragen: Welche Waffe hat der Täter benutzt? Mit welcher Wucht, welcher Geschwindigkeit ist das Blut gespritzt? Aus welcher Richtung kamen die Tropfen? Wo hat die Tat begonnen? „Für uns war es entscheidend zu wissen, in welcher Lage das Opfer angegriffen wurde", sagt Peter Schnieders, ehemaliger Leiter der Kölner Mordkommissionen. „Hat es gelegen, gekniet, gestanden?”
Bei einem Messermord wie in Köln gleicht der Tatort einern Schlachthaus: jede Menge Blut, ein Übermaß an Spuren. Und nur wenige lesen darin wie Mark Benecke. Bekannt geworden ist der 32- jährige Kölner Kriminalbiologe als „Madendoktor" (WDR) und „Kommissar Schmeißfliege" (stern), als Spezialist für Insekten auf Leichen. Die neue Faszination des umtriebigen Schnüfflers aber ist die Blutspuranalyse. Amerikanische Ermittler werden seit Jahren in dieser jüngsten Disziplin der Kriminaltechnik geschult. Nun, nach einer Ausbildung in bloodstain pattem analysis im New Yorker Department of Forensic Biology ist der Kölner Sachverständige für biologische Spurehsicherung elner der wenigen in Deutschland, der nach Blutmustern Gerichtsgutachten erstellt.
Blutkissen in Schweineköpfen
„In Manhattan haben wir im Experimentierraum Haare mit Blut getränkt und auf Papier geschleudert und mit Baseballschlägern auf Schweineköpfe geschlagen, unter deren Haut Blutkissen genäht waren", sagt Benecke. „In Deutschla. sind solche Experimente kaum denkbar. Sie sind aber notwendig, wenn man sehen will, wie sich Blut nach einem Aufprall im Raum verteilt.”
Benecke, zu jeder Tages- und Nachtzeit erreichbar, ist ein analytischer Enthusiast, und er pflegt das Image eines rnodernen Sherlock Holmes mit Digitalkamera, trigonometrischem Berechnungsprogramm auf dem Laptop, häuslichem Experimentierraum und irnmer genug Litern Schweineblut vom Schlachthof im Kühlschrank.
Um Tatortspuren nachstellen zu können, braucht der Kriminalbiologe mindestens ein Trinkglas, manchmal aber auch bis zu drei Liter Blut. „Weil ich wenige, aber komplizierte Fälle untersuche, versuche ich, jede Tat exakt nachzustellen", sagt er. Um genau den Pullover zu finden, der bei einem Raubmord blutige Abdrücke hinterlassen hat, kauft und testet er so lange, bis er den richtigen Garnmix gefunden hat, der das passende Muster ergibt. „Wenn ich einen blutigen Tatort betrete, bin ich wie ein Fährtenleser, der im Schnee nach Abdrücken sucht", sagt er.
„Ich sehe einen umgekippten Stuhl, einen Schrank, der verschoben ist. Die Frage lautet immer: Was ist seltsam, was gewaltsam verändert?”
Morde sind meist Beziehungstaten, Tötungen irn Affekt, Partnerkämpfe, Familiendramen, rnit überschaubarem Täterkreis — anders als am Gereonswall. Die Blutspuranalyse liefert in der Regel nur Schlüsselinformationen über den Ablauf einer Tat, selten über den Täter. Manchmal haben die Ermittler Glück. „Im Blutrausch sticht der Täter häufig unkontrolliert zu und verletzt sich selbst, rutscht ab, weil er auf Knochen trifft, Oberschenkel oder Schulter, und weil sich das Opfer wehrt", erklärt Kommissar Schnieders. Doch meistens liefert die Blutspuranalyse, was die Amerikaner sense of a scene nennen, „Sinn für ein Geschehen". Dieser sagt etwas über die Bewegung von Opfer und Täter irn Raum aus, nichts über deren Motivation. Das bleibt Interpretation — und fehlbar.
So klassisch diese Art der Spurensuche ist, so drastisch haben sich inzwischen die Methoden der Auswertung geändert. In den dreißiger Jahren klassifizierte der schottische Pathologe John Glaister erstrnals Blut in verschiedene Kategorien: Tropfer, Spritzer, Lache, Fontäne und Wischer. In den Fünfzigern begannen Paul Kirk und der Cherniker Herbert MacDonell in New York mit Blutspurexperimenten. 1973 eröffnete MacDonell das erste Bloodstain Evidence Institute in den USA, bot Kurse an und veröffentlichte mit seinem Schüler, dem Toxikologen Stuart H. James, in den Achtzigern und Neunzigern Standardwerke.
„Die Blutspuranalyse ist vergleichbar zuverlässig wie die DNA-Analyse und der Fingerabdruckvergleich, aber viel eher fehlerfrei als etwa Haar- und Faseranalyse”, sagt Stuart James. Er leitet heute nach 30 Jahren Erfahrung als Gutachter ein eigenes Institut in der Nähe von Miami. Führend in der Blutspuranalyse sind neben den Amerikanern vor allem die Kanadier, aber auch in Großbritannien, Schweden und Australien gibt es Forschungsinstitute.
Der bekannteste Fall war 1994 der Mord an Nicole Brown, der Frau des Football-Stars 0.J. Simpson, und ihrem Liebhaber Ron Goldman. Simpson wurde freigesprochen, obwohl die Beweislast der Staatsanwaltschaft erdrückend war: Simpson hatte nicht nur Blutstropfen am Tatort hinterlassen, sondern auch das Blut seiner Opfer bis in seine Wohnung getragen. Wichtigstes Indiz waren drei Tropfen auf einer Socke in Simpsons Schlafzimmer, die mit hoher Wahrscheinlichkeit (1:21 Milliarden) von seiner Exfrau stammten. Ähnliches galt für den blutbefleckten Handschuh, der hinter einer Mauer direkt an Simpsons Grundstück lag: Mit einer Wahrscheinlichkeit von 1:41 Milliarden stammte das Blut von Ron Goldrnan. Der linke Handschuh Simpsons lag am Leichenfundort.
Ferner hatte Simpson am Tatort blutige Abdrücke mit teuren Markenschuhen einer seltenen US-Größe hinterlassen - für die Verteidigung eine zum Verzweifeln lückenlose Beweiskette der Anklage. Dass 0.J. Simpson 1995 freigesprochen wurde, ist nur zu erklären mit einer vom Medienaufgebot überforderten, größtenteils schwarzen Jury, einer zu selbstbewussten Staatsanwältin, die nicht einmal alle belastenden Sachbeweise in den Prozess einbrachte, und einer Starverteidigung, die den Prozess mediengerecht drehen konnte. Ihr gelang es, der Polizei von Los Angeles rassistische Übergriffe gegen Schwarze nachzuweisen. Sie behauptete sogar, der blutige Handschuh sei von der Polizei dorthin gelegt worden. In diesem Prozess, schreibt Benecke in seinem kürzlich erschienenen Buch Mordmethoden. Sei es nicht mehr um Sachbeweise gegangen, sondern nur noch um die Hautfarbe des Angeklagten.
In den USA ist Blutspuranalyse längst Fernsehalltag. Die Krimi-Serie CSI zeigt eigene Folgen über diese Methode. „In Deutschland wird es noch 20 Jahre dauern, bis sich Blutspuranalyse als gängige Praxis durchsetzt", glaubt Benecke. „Blut war lange Zeit eine zu offensichtliche Spur. Jeder dachte, ich sehe ja, was passiert ist." Das gelte bei der heutigen Analysetechnik nicht mehr.
Sprühnebel oder Tropfenregen
Weil es bei Gewaltverbrechen oft keine Zeugen gibt außer biologischen Spuren, Ist die Technik sei wichtig. Und Blut fließt immer reichlich bei Schlag-, Stich- und Schusswunden. Je nach Gewicht und Größe eines Menschen beträgt das Blutvolumen etwa vier bis sechs Liter. Und das kann sich sehr unterschiedlich verteilen. „Blut kann aus einer Wunde fließen, tröpfeln oder durch die Luft spritzen. Dabei hinterlässt es immer ein Muste, Kronkorken, Schweif oder Ausrufezeichen", erklärt Lawrence Kobilinsky, Professor für Serologie am New Yorker John Jay College of Justice. Je feiner das Sprühmuster ist, desto größer waren Druck und Geschwindigkeit, als das Blut austrat und auf eine Fläche traf. „Wird eine Arterie mit einer feinen Nadel angestochen, verbreitet sich das Blut wie ein Sprühnebel", erklärt Mark Benecke. „Ist der Ritz größer, fliegen die Tropfen meist weiter, weil sie weniger stark vom Luftwiderstand gebremst werden.”
Das Blutbild zeigt Ermittlern auch, was nachträglich verändert wurde. Als eine Soldatin auf einer Militärbasis im bosnischen Tusla ihren Mann erstach, aber ihre Unschuld beteuerte, erwies sich ein Blutstropfen als fallentscheidend. „Blutspuren erzählen uns die Chronologie einer Tat. Das Blut rinnt ab und trocknet, auch auf Gegenständen, die nachher verändert werden", sagt Gutachter Stuart James. „In diesem Fall wurde ein Blumentopf später umgeworfen, um einen Zweikampf vorzutäuschen. Doch die Abrinnspur des Bluts war senkrecht. Zur Tatzeit stand der Topf also ruhig an seinem Platz.”
Auch für Forensiker ist Blut ein ganz besonderer Saft. Denn der Flüssige Anteil, das Plasma, besteht nicht nur aus Wasser, sondern auch aus löslichen Proteinen, organischen Säuren und Salzen. Blut ist deshalb vier- bis fünfrnal zähflüssiger als Wasser. „Durch den inneren Zusammenhalt verformt es sich im Flug weniger stark und zerspritzt auch beim Auftreffen nicht so leicht wie Wasser", sagt Benecke. Und es haftet an Gegenständen. Die Plasmaproteine sorgen dafür, dass es in Kleidung, Tapeten oder Möbel nicht nur einsickert, sondern an ihnen klebt. „Eine kleine Menge Blut kann auf einem langen Weg alles, was sie berührt, kennzeichnen. Sie hinterlässt einfach eine unglaubliche Spurenvielfalt", sagt Benecke.
Manchmal reichen schon wenige Tropfen, um einen Mord zu rekonstruieren. Blutstropfen zum Beispiel, von einer Eisenstange abgeschleudert, treffen auf eine Weinflasche auf einem Sofatisch. Einer prallt auf das Glas der Flasche, ist rund, glattrandig, nach Länge und Breite ideal messbar, ein anderer auf das raue Etikett, wirkt sternförmig ausgefranst. Ein dritter Tropfen fliegt auf die abgesessene Couch und wird sofort eingesogen, ist ebenfalls gezackt. Ein vierter schlittert regelrecht über den imprägnierten Teppich und bleibt dann oval und glattrandig stehen — vier Tropfen, die Aufschluss geben, wo der Täter mit der Stange gestanden hat.
Die kanadische Staatspolizei hat eine Software entwickelt, die Richtung, Flugbahn, Fließgeschwindigkeit und Größe eines Tropfens ermittelt, alle Tropfenrichtungen laufen in einem Punkt zusammen, der Blutquelle. Wichtigste Voraussetzung für die Analyse ist: Blut verhält sich als Flüssigkeit vorhersehbar, reproduzierbar. „Seine Bewegung folgt einfachen physikalischen Gesetzen, fortgeschleudert mit einer bestimmten Kraft, abhängig vom Luftwiderstand, Gewicht und der Oberflächenspannung eines Tropfens", erklärt Lawrence Kobilinsky vom John Jay College of Justice. „Schwieriger wird es, wenn Blut nicht auf eine glatte, gerade Fläche trifft, sondern auf eine raue, absorbierende, gekrümmte. Trotzdem ist die Fehlerquote der Auswertung bei genug Erfahrung und guten Physikkenntnissen sehr gering.”
Es reizt viele Forensiker, dass das Lesen blutiger Spuren so komplex ist, anfangs unüberschaubar wie ein Puzzle. Das Wichtigste für die Experten ist, möglichst früh am Tatort zu sein, bevor — etwa beim Wegtragen der Leiche — andere ins Blut treten, neue Spuren erzeugen, alte verwischen, Indizien zerstören. „Es ist ein Lauf gegen die Zeit, Blut zersetzt sich, vor allem in der Wärme. Es kommt schon oft darauf an, wie schnell ein Mord entdeckt wird und wie schnell ich da bin", sagt Benecke.
Am Kölner Gereonswall war er durch Zufall nachts im Präsidium — und mit den Errnittlern vom KK 11 sofort vor Ort. Natürlich samt Digitalkamera. Am PC berechnete er später, in welchem Teil des Appartements [Name entfernt] von den Messerstichen getroffen wurde, wohin er geflüchtet und wo er verblutet ist. Am Ende zeichnete er in den Wohnungsplan die Skizze des Mordverlaufs und markierte farbig die Bewegungen von Täter und Opfer. „Blut hat am Tatort auf jeden Fall einen unschätzbaren Vorteil. Es enthält zum einen Leukozyten, weiße Blutkörperchen mit der DNA eines möglichen Täters. Und, so simpel sich das anhört: Es ist rot, es zeigt mir, wo ich suchen muss."