Quelle: My Magazine, 12/2000
Text: Jutta Ditfurth, Fotos: Markus Jans
MARK BENECKE steigt in Gummistiefeln über die faulende Leiche in einer Kölner Wohnung. Er hat den Tod schon unten auf der Straße gerochen. Der schlaksige Kriminalbiologe hockt sich vor den toten Körper und pickt mit einer Pinzette Maden vom Bauch. Einem Polizisten wird schlecht. „Das ist kein Mensch mehr, sondern ein Teil der Natur", sagt Benecke ungerührt und pflückt noch mehr Maden.
Er nennt die weißen Würmchen „meine kleinen Assistenten, die fleißig, kostenlos und ohne Tarifvertrag für mich arbeiten". Er wird sie zu Hause unter der Lupe untersuchen. Weiß er, von welchen Insekten sie abstammen, kann er nachweisen, wann ein Mensch gestorben ist. Oder ob der Fundort wirklich der Tatort ist — wenn die Insekten dort zum Beispiel nicht hinpassen. Beneckes Leidenschaft ist die forensische Entomologie, die kriminalistische Insektenkunde. Weltweit gibt es nicht mehr als zwei Dutzend Experten wie Dr. Mark Benecke, in Deutschland nur eine Hand voll. Wir sitzen uns in den alten Sesseln seines Wohnzim-mers in der Kölner Südstadt gegenüber. Der quirlige 30-Jährige hat stachlig kurzes dunkles Haar, trägt eine antike Metallbrille vor den braunen Augen, ein weißes T-Shirt und Jeans. Neben mir macht ein ausgestopfter Fuchs Männchen. Hinterm Haus kreischt eine Motorsäge (5). „Das macht mir nix", sagt Benecke fröhlich. „Eigentlich hasse ich Lärm, vor allem Autos." Er fährt Fahrrad. Sein Handy hat er immer bei sich, die Kripo könnte ihn ja zur nächsten Faulleiche rufen. Er besitzt einen Laptop, aber keinen Fernsehapparat. Die Wände sind voller Bücher. Da sind Fachbücher, Wissenschaftlerbiografien, Kriminalfälle, Krimis, Fachzeitschriften. Mit Belletristik kann er nicht viel anfangen. Er liest keine Tageszeitungen. Manchmal klaubt er sich die Bild-Zeitung aus der Mülltonne. „Die finde ich witzig.”
Mark Benecke redet enthusiastisch über sein Fachgebiet. Jetzt ist er bei den Schmeißfliegen, die „blitzschnell Tote riechen". Teppichkäfer bevorzugen ältere, breiige Leichen. Aaskäfer kauen gern an mumifizierten Kadavern herum. Freundin Corinna bringt heißen Apfelstrudel mit Vanillesoße. Nicht ihre übliche Arbeitsteilung, betonen beide. Er nennt sie „meine Gattin", seit sie sich über eine hochoffizielle Einladung an „Dr. Benecke und Gattin" amüsiert haben. Die 26-Jährige sucht in seiner Wohnung Ruhe für ihre Diplomarbeit über China und die EU. Ihr zuliebe würde er sich konventionell beerdigen lassen, wenn er mal stirbt. Aber „am allerliebsten würde ich unbedeckt auf den nackten Waldboden gelegt". Wie „wunderbar", wenn ihn dann seine „kleinen Assistenten" zu evolutionärem Baumaterial zerlegen.
Viele Menschen wollen nach ihrem Tod verbrannt werden. Wir grübeln kurz darüber nach, ob ihre Biomasse der Natur fehlen würde. Benecke schüttelt den Kopf. „Nö, eigentlich ist das egal." (8) Der Kölner ist ein begehrter Fachmann und hat dort, „wo sonst keiner hinwollte", kriminalbiologische Institute aufgebaut: in Manila (Philippinen), Bogotá (Kolumbien) und Ho-Chi-Minh-Stadt (Vietnam). 1997 holte die Polizei (1) von New York City den Insektenkundler als wissenschaftlichen Berater. „Die fanden in den USA niemanden mit meinem Ausbildungs- und Qualifikationsprofil", erzählt er (4). Man brauchte ihn drin-gend im Büro des Obersten Gerichtsmediziners (1). Aber vor seinen „kleinen Assistenten" ekelten sich die abgebrühten neuen Kollegen. „Die Amis sind aggressiv gegen Insekten, fast hysterisch!", seufzt Benecke.
Die Madengläser sollten nicht auf seinem Schreibtisch stehen und am besten auch sonst nirgends. Schließlich musste er sie auf einem Betonvorsprung an der Außen-seite des Gebäudes verstecken - über den Köpfen der Passanten von Manhattan. „Beschissene Zuchtbedingungen bei schwankenden Temperaturen." Die Sache ärgert ihn immer noch. „Wär so'n Glas auf die Straße geknallt, wär das Beweismittel futsch gewesen." Furore machte seine Untersuchung über den Kot und das Erbrochene von Fliegen. Zwei verweste Leichen wurden in einem Zimmer gefunden. An der Wand fanden sich verspritzte blutrote Spuren. Sie sahen aus wie die Folgen eines Kampfes. Benecke konnte nachweisen, dass es sich um Ausscheidungen von Fliegen handelte, die vorher am Blut der Leichen geleckt hatten. Einen Kampf hatte es nicht gegeben.
Ein Braunschweiger Gericht schickte ihm drei tote Maden in einer Maschine der Luftwaffe nach New York. Es wollte wissen, wann Veronika Geyer-Iwand ermordet worden war. Benecke fand den Todeszeitpunkt, für den ihr Ehemann, Pastor Geyer, kein Alibi hatte. 1999 gab Mark Benecke den festen Arbeitsplatz in New York auf. Nicht weil man seine Maden nicht mochte. „Mir gefielen die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht be-sonders. Nicht sozial genug. Das Verhalten oft so aufgesetzt. Außerdem ziemlich prüde und puritanisch." Er fand sich an der Uni Köln wieder, mit einem auf drei Monate befristeten Arbeitsvertrag und einer Bezahlung „unter dem halben Gehalt einer Supermarktkassiererin". Er beantragte bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) die Finanzierung seines Forschungsprojekts über Insekten auf Leichen. Er wartete ungeduldig. Die DFG hielt ihn hin. „Take a second job", hatte er in den USA beobachtet und so nahm er immer mehr Gutachteraufträge von der Polizei und von Gerichten an. Nach sieben Monaten Wartezeit wurde er zornig. Die Süddeutsche Zeitung veröffentlichte seine Kritik an der Bürokratie der Forschungsgemeinschaft und ihrer mangelnden Offenheit für junge Wissenschaftler und multidisziplinäre Projekte. Diesmal reagierte die DFG schon nach sieben Tagen. Etwas überheblich antwortete die Pressesprecherin dem „ausgewiesenen jungen Wissenschaftler" auf seine „mit heißem Herzen geschriebenen kritischen Zeilen" und teilte ihm mit, dass sein Antrag soeben abgelehnt worden sei. Man stimme ihm allerdings zu, dass der „traurige Treck" (Benecke) von Nachwuchswissenschaftlern ins Ausland gestoppt werden müsse.
„Ja, aber wie?", fragt er. Er kritisiert die „autoritären, ver steinerten Verhältnisse" an den deutschen Universitäten und hofft auf bessere Zeiten, wenn die „Rotary-Fraktion abtritt". Dennoch gehört er nicht zu denen, die die Forschungsbedingungen in den USA verklären. „Zu viel Effizienzdruck der privaten Geldgeber, zu viel Prestigedenken der Universitäten, nicht genug Forschungsfreiheit und Raum für Grundlagenforschung", bemängelt er.
Seine Reise zum Weltkongress der Insektenkundler nach Brasilien im August 2000 hat die DFG dann finanziert (2). Dort traf er unter 5000 Insektenkundlern rund 20 Gleichgesinnte. Der Kongress hat ihm richtig gut getan: „Die forensischen Entomologen sind die einzigen Leute, die das, was ich tue, normal finden. Mit denen kann ich wirklich über meine Arbeit reden." Der freiberufliche Wissenschaftler lebt sehr sparsam. Auf seinen Reisen wohnt er in Jugendherbergen oder in den billigsten Hotels. Er braucht im Monat 3000 Mark. Viel Geld geht für Telefonate in alle Welt drauf. Das Landeskriminalamt und das Bundeskriminalamt laden ihn oft als Gutachter und Referenten. Zahlen die nicht? „Ich mach das umsonst oder für wenig Geld. Das ist unter Polizisten so üblich." Aber er ist kein Polizist. Er zuckt mit den Schultern. „Gewissermaßen arbeite ich da als Freund des Hauses." Ein Binokular, eine Lupe für beide Augen, kostet zwischen 8000 und 20 000 Mark. Und deshalb muss er Umsatz machen. Denn: Ohne Umsatz kein Bankkredit. Ohne Kredit kein Binokular. Jetzt zahlt ein Hersteller, dafür tritt Benecke in einem Werbefilmchen auf dessen Website auf. (6) „Hauptsache, ich kann meine Arbeit machen, dann bin ich glücklich."
Er lässt sich gern von Schülern zu Vorträgen einladen. Er liebt das Feedback. Die Kids sind neugierig und verstehen ihn schnell. Einer sagt: Wenn ein Mörder denkt, seine Tat wird man nicht aufklären, hat er nicht die Rechnung mit dem Herrn Benecke und den Maden gemacht." Und: „So eine Made kann einen für viele Jahre in den Bau bringen!"
Das FBI lud ihn dieses Jahr zum ersten Mal nach Quantico, damit er FBI-Wissenschaftler und Spezialagenten schult. „Wenn die abends mit mir einen trinken gehen wollten, bin ich lieber in diesen grusligen Wald gegangen." Dort hatte das FBI als Anschauungsmaterial tote Schweine ausgelegt oder aufgehängt. Da beobachtete der Kölner dann nachts, welche Insekten die Kadaver anflogen.
„Wo war ich danach?” Er zieht seinen Terminkalender aus der Hosentasche: Ein klein gefalteter DIN-A4-Bogen, wie man ihn am Jahresende in Tageszeitungen findet. Das Jahr ist vollgekritzelt. Kongresse, Reisen, Gerichtstermine. Ein Pessach-Fest mit jüdischen Freunden im Bergischen Land. Auftritt als Sänger mit seiner „richtig schlechten" Punk-Deutschrock-Band „Die blonden Burschen" (keiner ist blond). Interview mit einem Serienmörder in Manhattan. Die New Yorker Theater-Company Post Theater hat ein Stück über ihn inszeniert: „The Real Forensic” — der wahre Kriminalist. Es wird, nach Köln und Berlin, Ende des Jahres in Singapur und Hongkong aufgeführt. Benecke tritt in einer Nebenrolle auf. Zwischen dem FBI-Job und vor einem Auftritt als Gerichtsgutachter flog der Maden-Mann im Mai 2000 zum Welt-Dracula-Kongress der Transsylvanischen Gesellschaft in Rumänien. Ich soll kapieren, dass nur eine durchgeknallte Minderheit der Mitglieder, etwa aus New York, „sich pikst und Blut trinkt". Mark Benecke ist kein einfaches Mitglied, sondern „Botschafter für die Rheinlande". Manchmal besuchen ihn deshalb Draculafans aus anderen Teilen der Welt. „Die wollen dann was über Vampire in Köln wissen." Und? „Ich zeig denen den Kölner Dom.”
Er behauptet: „Ich bin kein Vereinsmeier" und ist doch Mitglied von rund zwei Dutzend deutschen und internationalen wissenschaftlichen Vereinigungen. Auch seine Herausgeberjobs sind nicht alle todernst. Durch die „Jahrbücher unwahrscheinlicher Forschung” (3) weht eine milde Form des Wahnsinns. Man macht sich dort Gedanken über das Flugverhalten von Kartoffelchips oder legt gekrümmte Würmchen als Hieroglyphen aus. Zurzeit grübelt er über seine Zukunft nach. „Vielleicht bekomme ich einen Lehrauftrag im Genetischen Institut der Uni Köln." Dann könnte er endlich auch all die deutschen und ausländischen Studenten und Doktoranden, die von ihm lernen wollen, in geregeltem Rahmen betreuen. Sein größter Traum ist es, die Kriminalbiologie zu etablieren. Warten ist hart. „Ich würde jeden Job an einer Polizeihochschule annehmen", sagt er.
Anstatt die Rechtsmedizin auszubauen und um neue Forschungsbereiche zu erweitern, will die nordrhein-westfälische rot-grüne Landesregierung bald vier rechtsmedizinische Universitätsinstitute schließen: in Bonn, Essen, Aachen und Düsseldorf. Dann wird der Druck auf Staatsanwaltschaften, Polizei und Gerichtsmedizin, Todesursachen nicht allzu oft anzuzweifeln und zu untersuchen, noch größer. Junge Forscher wie Mark Benecke und Professor Bernd Brinkmann, der Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin, sind sich hier einig: Künftig drohen noch mehr versteckte Tode. Die Leidtragenden sind vor allem Kinder und alte Menschen. Was würde etwa aus dem Fall eines kleinen Mädchens, das tot aufgefunden wurde? Benecke bewies, dass es fürchterlich vernachlässigt wurde, bevor es starb. Er fand Maden von Fliegen, die sich auf den Kot des noch lebenden Kindes gesetzt hatten, weil dessen Windeln nicht gewechselt worden waren.
Hätte man den Vergewaltiger einer jungen Frau gefasst? Dem Verdächtigen konnte zuerst nicht nachgewiesen werden, dass er vor Ort gewesen war. Dann wurden die Polizisten am Fundort der Leiche von einer äußerst seltenen Milbenart gebissen. Dieselben juckenden Bisswunden fanden sich am Bauch des Täters. (7)
„Riech mal!" Benecke hält mir seine Gummistiefel vor die Nase. „Jetzt hab ich die verdammten Dinger zweimal gewaschen und sie stinken immer noch nach Faulleiche!" Die Made im Glas vor mir krabbelt nach oben. „Die will raus!", ruft Benecke. Sie kann überhaupt nicht raus, das Glas ist verschlossen. Er ruft begeistert: „Schau! Jetzt dreht sie ihren Kopf breakdancemäßig!"
Foto-Texte:
Der freiberufliche Wissenschaftler ist zwar ein gefragter Gutachter, aber finanziell lohnt sich das nicht. Er lebt von 3000 Mark, steigt auf Reisen in Billighotels ab. Die Bitte um Finanzierung seines Forschungsprojekts wurde abgelehnt. „Hauptsache, ich kann meine Arbeit machen”.
Er besitzt einen Laptop, aber keinen Fernseher. Die Wände sind voller Bücher. Da sind Fachbücher, Wissenschaftlerbiografien, Krimis, Fachzeitschriften. Er liest keine Tageszeitungen, klaubt sich aber manchmal die Bild aus dem Müll.
Er ist Mitglied von rund zwei Dutzend deutschen und internationalen wissenschaftlichen Vereinigungen. Aparte Fußnote: Benecke gehört, obwohl „kein Vereinsmeier", auch der Transsylvanischen Dracula-Gesellschaft an.
Sein Handy hat er immer bei sich, die Kripo könnte ihn ja zur nächsten Faulleiche rufen. Was Normalmenschen Brechreiz verursacht, ist seine Leidenschaft. Maden führen diesen modernen Sherlock auf die Spur der Mörder.
(1) OCME (Chief Medical Examiner’s Office / Manhattan Office)
(2) mitfinanziert
(3) Annals of Improbable Research (Harvard)
(4) so zumindest die Aussage der Visa-Behörde gegenüber...
(5) Die Riesen-Säge der Holzhandlung Schumacher / HolzCity
(6) oder so ähnlich
(7) Das ist ein anderer Fall von Kolleg:innen
(8) Heute nicht mehr, zu viele Einäscherungen: Bitte nicht verbrennen lassen [M.B., 2022]