Congress of the Indian Society of Legal Medicine in Mumbay

Forensic biologist Mark Benecke at the Congress of the Indian Society of Legal Medicine in Mumbay, India 

Quelle / Source: Rechtsmedizin, Heft 7 (2008), Seiten 28 — 29 (Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin)

29. Jahrestagung der Indischen Gesellschaft für Rechtsmedizin (Indian Academy of Forensic Medicine)

Mumbai, 24.-26. Februar 2008

VON MARK BENECKE

Indien ist ein Land herausfordernder Widersprüche. Bei der 29. Jahrestagung der Indischen Gesellschaft für Rechtsmedizin, die diesmal in der weitgrößten Handels-Börse der Welt, dem Bombay Stock Exchange, stattfand, wurde dieser Kontrast deutlich: Einerseits existierte kein durchführbarer Programmplan, zugleich waren aber nicht nur viele prominente indische, sondern auch internationale Redner anwesend, darunter Virginia Lynch (Forensic Nursing), Philippe Lunetta (autoerotische Unfälle), Eric Hickey (Serienmord und Paraphile), John Wiliamson (elektrischer Strom), Paul Mellen (Fentanyl / "China White"), Banwari Lal Meel (Sexualdelikte in Südafrika), Caroline Wilkinson (Gesichtsrekonstruktion), Ndubuisi Eke (Genitalverstümmelungen) und Masahiko Kobayashi (Leichenstarre). 

Das bunte und zunächst vollkommen desorganisierte Gemenge machten sich Anil Aggrawal, Herausgeber des "Internet Journal of Forensic Medicine and Toxicology" (Delhi*) und der Berichterstatter zu Nutze und improvisierten ein Programm, in dem das forensisch-kriminalistische Gefälle zwischen den entwickelten und weniger entwickelten Ländern — im Detail oft unerwartet und für beide Seiten erstaunlich — hervortrat. 

Während internationale Kollegen wie Kenneth Doyle (Ottawa) beispielsweise berichteten, an einer Zigarettenkippe, die in Kanada aus einer Toilette am Tatort gefischt worden war, noch nach zehn Tagen erfolgreich ein DNA-Profil der rauchenden Person entwickelt zu haben, und Philippe Lunetta (Helsinki) zurecht fragte, ob es autoerotische Asphyxien in Indien wirklich nicht gäbe oder sie - wie noch vor fünfzehn Jahren in Skandinavien - einfach nicht erkannt würden, berichteten die indischen KollegInnen von ganz anderen Problemen.

So wird in Indien Natriumpenthotal von der Polizei eingesetzt, um Täter zum "Sprechen" zu bringen (sog. Narko-Analyse, "narcoanalyis"). Nach über sechshundert echten Einsätzen unter Verwendung der Substanz berichtete der indische Kollege, dass die Erfolgsquote außerordentlich gut sei, wenn man den Dämmerzustand der befragten Person nur hinreichend präzise kontrolliere. Da aber vielfach dokumentiert ist, dass die indische Polizei gleichzeitig versucht, Gutachter zu beeinflussen, bleibt die Frage der objektivierbaren Erfolgskontrolle bei Hinweisen und Geständnissen dieser als vor Ort besonders human geltenden Methode offen. 

Unter anderem deswegen entschied das höchste indische Gericht auch neuerdings und katastrophaler Weise, Zeugen wieder eher zu glauben als den leider öfters bestochenen (oder bedrohten) Sachverständigen. Ein besonders dramatischer Fall wurde vom Vorsitzenden Richter beigesteuert, der auch das Gerichtsverfahren nach dem ersten Bomben-Anschlag auf den Bombay Stock Exchange im März 1993 geführt hatte (ein erneuter Anschlag auf das Gebäude wurde kurz vor dem forensischen Kongress, am 10. Febr. 2008, verhindert). 

Er berichtete von einem seiner Fälle, in dem er nach der Vergewaltigung einer 12jährigen mit folgender Geburt vom Sachverständigen allen Ernstes darüber informiert wurde, dass das DNA-Profil des Neugeborenen mit niemandem — weder dem genetischen Vater noch der Mutter — irgendeine Überstimmung zeige. Vielleicht auch unter dem Eindruck dieses Falles versprach der anwesenden Justizminister, in den kommenen "fünf bis zehn Jahren" für jeden Distrikt mindestens ein kriminaltechnisches Labor einzurichten. Auf Nachfrage wurde dies von den ZuhörerInnen aber mit Unglauben quittiert. Umso erstaunlicher, dass die Messung von P-300-Potentialen (32 Elektroden, EEG) in Indien Beweiskraft haben kann. 

Dabei werden der befragten Person Bilder gezeigt (Baum oder Brücke am Tatort) oder Worte genannt ("Einkaufstasche", wenn darin beispielsweise ein Leichenteil angetroffen wurde). Genau wie beim hierzulande bekannten Lügendetektor, der Hautwiderstände misst, wird das Auftreten von P-300-Signalen (verglichen mit der Baseline-Reaktion bei "neutralen" Bildern oder Worten) als Beweis dafür gewertet, dass die Person die entsprechende Erinnerung im Gehirn abgespeichert hat ("brain mapping"). Hier spiegelt sich die in sich entwickelnden Ländern oft anzutreffende Tendenz wider, preiswerten und scheinbar rasch zu Ergebnisse führenden Methoden den Vorzug vor teuren oder aufwändigen, dafür aber solideren Untersuchungen zu geben. 

Forensisch besonders interessant waren viele kulturelle Diskussionsbeiträge. So wies der Psychologe Eric Hickey darauf hin, dass ihm neuerdings in den USA Fälle mit Abtrennung von Brüsten und Genitalien unterkämen, die auf den ersten Blick wie Sexualdelikte aussähen. Da aber die Vitalität der Wunden von Seiten der Rechtsmediziner Anlass zu weiteren Nachforschungen gab, stellte sich heraus, dass es sich um Muti-Morde von Einwandereren und also keineswegs um paraphil motivierte Taten gehandelt hatte.

Auch John Williamson aus Großbritannien, der eigentlich nur nebenbei erwähnte, ihm seien in einem langen Leben, das er nur mit Brandermittlungen verbracht hat, noch nie Selbstverbrennungen mit Übergiessen des Kopfes untergekommen, wurde korrigiert: Das vollständige Übergiessen ist in Indien nicht Ausnahme, sondern die gängige Methode, weil dort zum Waschen Becher oder kleine Eimer verwendet werden, die über den Kopf geleert werden. So kommt es, dass auch brennbare Flüssigkeiten bei den (recht häufigen) Suiziden derart appliziert werden. 

Grundsätzlich haben die indischen KollegInnen sehr großes und echtes Interesse an der forensischen Arbeit in anderen Ländern. Es lohnt sich daher nicht nur wegen der vielen interkulturell verschiedenen Denkweisen und Tatbegehungen, sondern auch wegen der international heterogen zusammengesetzten TeilnehmerInnenrunde bei einer Tagung der indischen ForensikerInnen dabei zu sein. Als Gegenleistung lässt sich — mit stetem Lächeln — ein wenig deutsche Ordnung und Struktur importieren, was die KollegInnen zumindest bei der 29. Jahrestagung als wohltuend empfanden und mit für örtliche Verhältnisse effizienten Sessions belohnten.


M. Benecke

Köln

(*) Mark hosted a guest issue of the journal (Forensic Entomology Special Issue): http://benecke.com/pdf/forensic_entomology_special_issue_benecke_wells_goff_klotzbach_wolff_klotzbach_carvalho_turchetto_oliva_campobasso.pdf


Bonus: Epic battle of a cow in Mumbay vs. Mark: