Quelle: Madame Wien: Besuch & Gesichter, 16. Febr. 2020 https://www.madamewien.at/mark-benecke-die-leiche-als-faszinierende-lebenswelt/
Von Nini Tschavoll
Name: Mark Benecke, geboren 1970 in Rosenheim (D), von Beruf Kriminalbiologe, bekannt als forensischer Entomologe und exzentrischer Wissensvermittler auf vielen Kanälen.
Mark Benecke hat schon schon Vieles gesehen, was bei Menschen mit dünnem Nervenkostüm Übelkeit verursachen könnte. Seine fachliche Expertise im Bereich der forensischen Kriminalbiologie ist weltweit sowohl vor als auch hinter den Kulissen gefragt. In Deutschland ist er der einzige öffentlich bestellte und vereidigte Sachverständige für biologische Spuren. Der Workaholic und Autor von knapp 20 Büchern arbeitet nach eigenen Angaben ‚mit der Neugier eines Kindes‘ an 365 Tagen im Jahr und trennt nicht zwischen Freizeit und Arbeit. Seit über 25 Jahren ist der Kölner Kriminalbiologe international auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Forensik tätig, insbesondere hat er sich der Entomologie verschrieben.
Je nach dem Grad der Zersetzung wird ein toter Körper von unterschiedlichen Insekten bevölkert. Bereits kurze Zeit nach dem letzten Atemzug eines Lebewesens legen Fliegen ihre Eier in allen Körperöffnungen ab. Aus den Eier schlüpfen Maden, die sich zusammen mit Bakterien durch Haut und Organe fressen und den Körper auflösen. Hier beginnt die Arbeit des Fachmanns. Durch Bestimmung verschiedener Stadien dieses Verwesungs- oder Verwertungsprozesses sowie durch die Anzahl der Tiere kann der Entomologe beurteilen, wie lange eine Leiche am Waldrand gelegen hat oder wann sie in einen Teppich eingewickelt wurde.
Berichte über Mark Benecke titeln daher oft mit ‚Dr. Made‘ oder ‚Der Herr der Maden‘. Der international anerkannte Wissenschaftler hatte Zugang zu den weltberühmten Mumien von Palermo und konnte in Moskau an Hitlers Schädel Parodontose und folglich post mortem auch den schon zu Lebzeiten kolportierten Mundgeruch diagnostizieren.
Mark Benecke ist nicht nur ausgewiesener Spezialist auf seinem Gebiet, er ist auch außerordentlich vielseitig interessiert und umtriebig. Der überzeugte Veganer ist Mitglied in zahlreichen Vereinigungen, darunter die Transylvanian Society of Dracula. Er ist Donaldist, als bekennender Tattoo-Fan Präsident von Pro Tattoo und Landesvorsitzender der PARTEI in Nordrhein-Westfalen. Die Liste ist lang, birgt teils skurrile Interessengemeinschaften und kann auf seiner Website gescrollt werden. Noch länger ist die Liste der Publikationen und Presseberichte über Benecke und seine Arbeit.
Kein Wunder, dass der Doktor der Medizinwissenschaften einen vollen Terminkalender hat. Sein Talent für gutes Storytelling, an sich abstoßende Sachverhalte (ungeklärte Morde, Leichen, Verwesungsprozesse, Gekrabbel...) publikumsfähig zu machen, haben ihn neben seinen Forschungs-, Sachverständigen- und Lehrtätigkeiten zu einem beliebten Gast und Interviewpartner in TV-Shows und Medien gemacht.
Am Beginn seiner Live-Auftritte warnt der Kriminalbiologe gerne vor Bildern, die für nicht geschulte Augen (und Mägen) ungeeignet sind. Riesig an die Wand projizierte Maden, die an Leichen nagen, sind nicht für Jede und Jeden leicht zu verarbeiten. „Eine Faulleiche“, erzählt der deutsche Insektenkundler und Kriminalist aus dem Nähkästchen „ist eine spannende Lebenswelt.“ Das sich anderen Menschen beim Anblick der Magen umdreht, sieht er als psychische Fehlleistung: „Sie versuchen, in diesem Vorgang der Auflösung und Fäulnis und einem Madenteppich Ähnlichkeiten mit einem Menschen zu entdecken.“ Eine Leiche in diesem Stadium ist für ihn bereits mehr Natur als Mensch. „Noch dazu wird durch die Maden aus den Überresten wieder nutzvolle Energie, was ein kleines Wunder ist“, schwärmt er über den Kreislauf des Lebens.
Halten sich Tote heute eigentlich länger als vor hundert Jahren, weil wir mit Chemie voll gepumpt sind?
Nein, was Tote länger haltbar macht, ist Vertrocknung. Das könnte vielleicht in Zukunft durch die Klimaveränderung häufiger passieren. Außerdem stimmt es nicht unbedingt, dass der Mensch von heute mehr Chemie in sich stecken hat. Denken wir an Leute, die früher in Erzbergwerken gearbeitet haben: die hatten in der Lunge oder in der Haut wohl mehr Schwermetalle als wir heute.
Früher konnten sich viele Menschen keine tollen Beerdigungen leisten, oft hat man sie nicht so tief begraben. Manche wurden daher wieder von Tieren ausgebuddelt, klar gings dann schneller mit der Verwesung. Von da kommt auch das Grimm-Märchen mit dem Mädchen, dessen Händchen aus der Erde kommt, weil es damit seine Mutter geschlagen hat.
Auch das Märchen Hänsel und Gretel hat einen realen Hintergrund. Es kam früher vor, dass arme Leute ihre kranken Kinder einfach im Wald aussetzten, weil sie ihnen zur Last fielen. Märchen führen öfter auf wahre Geschichten zurück. Das ist sogar in der kriminalistischen Fachliteratur überliefert.
Welche Leichen oder Begräbnisstätten möchtest du untersuchen?
Das ist mir egal, ich mach immer das was kommt, wirklich. Du kannst gar nicht wissen, was spannend wird. Es ist viel besser, sich darauf zu freuen, dass was Verrücktes kommt. Dann kann man auch unbefangener dran gehen. Die Mumien von Palermo, die ich untersucht habe, oder auch Hitlers Schädel — ich bin da ganz unbefangen ran gegangen.
Ich schau mir die Dinge immer wie ein Kind an, so stolpere ich dann in die Fälle rein. Von den meisten Fällen erfährt die Öffentlichkeit ja nix. Die sind für mich aber mindestens genauso spannend wie die Sachen, die sich gut für die Medien erzählen lassen. Gut und böse lassen sich manchmal nicht so leicht zuordnen, nur will das keiner hören. Ich werte nicht, wenn ich einen Fall untersuche, bin bei allem unvoreingenommen. Das gilt übrigens für mein gesamtes Leben.
Gibt es eine Möglichkeit, nachhaltig zu sterben — mit möglichst kleinem ökologischem Fußabdruck?
Das ist eine richtige Frage. Wir sind bald 10 Milliarden Menschen, da sterben jeden Tag sehr viele. Wenn sich die alle verbrennen lassen, wird sehr viel in die Luft geblasen, was für lange Zeit nicht mehr für den Kreislauf des Lebens verfügbar ist. Außerdem kostet es viel Energie, so einen menschlichen Körper zu verbrennen. Die Menschen werden ja auch immer beleibter. Viele Krematorien können gar nicht mehr mitkommen. Feuerbestattungen gibt es trotzdem immer mehr, denn der Trauerort ist nicht mehr nötig. Auch nicht als Ort, um Reichtum und Einfluß zur Schau zu stellen.
Es war früher viel wichtiger als heute, mit dem Grabstein zu zeigen, wieviel Kohle eine Familie hat. Außerdem sind die Leute mobiler und haben nicht mehr die Zeit, jeden Samstag zum Grab zu gehen. Und dann ist auch das Bauland gefragt. Früher oder später wird über die Friedhöfe drübergebaut, das ist in der Vergangenheit schon oft passiert. Mein Labor liegt über einem römischen Friedhof und in Paris werden ganz Stadtteile über Friedhöfe gebaut. Das ist lange her, man verliert über die Jahre den Bezug zu den Verstorbenen. Die meisten von uns wissen ja schon nichts mehr von ihren Urgroßeltern.
Es wäre wesentlich besser, wenn die Leute einfach verwesen könnten. Das würde auch sehr schnell gehen. Es gibt ethnische Gruppen, die ihre Toten nicht begraben. Die Parsen, eine religiöse Gruppierung in Indien, legen ihre Leichen auf Türme und die Aasgeier machen ihre Arbeit. Der Widerstand ist natürlich total groß bei solchen Themen, aber das zeigt nur, dass wir den Kontakt zum Kreislauf des Lebens verloren haben. Wir entziehen ständig dem Kreislauf die Stoffe. Letztes Jahr hatten wir bereits am 29. Juli den Erdüberlastungstag. Das heißt, dass die Menschheit an diesem Tag so viele Ressourcen verbraucht hat, wie alle Ökosysteme im gesamten Jahr erneuern können.
KriminalistInnen müssen in ihrer Arbeit Grenzen setzen. Gilt das auch für deine Arbeit?
Nun ja, wenn man mit den Angehörigen arbeitet, weil man Dinge herausfinden muss, kann ich jetzt auch nicht sagen, dass mir das persönliche schwere Schicksal egal ist. Ich höre den Hinterbliebenen zu, mach’ dann aber einen Punkt und muss mich für meine Arbeit ganz wissenschaftlich an den Tatsachen orientieren.
Gibt es das Böse?
Ja, aber das kann man nicht bekämpfen. Du kannst nur versuchen, eine Welt zu schaffen, in der die Menschen soziale Handlungen durchführen oder vielleicht auch mal ein Vorbild sein.
Gibt es eine lokalspezifische Fauna, die man auf einer Wiener Leiche finden könnte?
Ich würde das jetzt nicht unbedingt auf Flora und Fauna reduzieren. Aber nehmen wir an, wir finden eine Leiche in der Donau. Da gibts verschiedene Wasserschichten, in denen sich Kieselalgen befinden, die dann auf der Leiche gefunden werden. Hier in Wien gibt es beispielsweise die sehr gute forensischen Pollenkundlerin Martina Weber, die sich eben diese Spuren anschaut.
Was hast du immer dabei?
Lupe, Taschenlampe, Laserpointer, Pinzette, Rechner, iphone (mit Kamera), SwissTool, alle möglichen Adapter.
Wie würdest du mögliche Fördergelder einsetzen?
Ich hab noch nie Förderungen erhalten. Ich würde eine Beratungsstelle aufmachen für Leute, die nicht mit Urteilen oder Abschlüssen von Fällen einverstanden sind. Leute, die zweifeln, aber eigentlich keine Möglichkeit haben, da noch weiter zu machen - “schiefgegangene Fälle”. An sich gibt es diese Leistung ja schon von uns: Kriminalbiologische Forschung und Beratung. Der Unterschied wäre, wir könnten das dann finanzieren. Und müssten nicht hundert andere Dinge tun, um den Laden am Laufen zu halten. Vor allem Leute, die kein Geld haben, könnte man dann unterstützen.
Machst du was gegen Leichengeruch?
Bei der Arbeit mache ich nichts, ich muss die Gerüche auch wahrnehmen, das gehört zur Arbeit, es ist total wichtig. Abends stelle ich mir dann meist einen porösen Stein aus einem Eso-Laden auf, mit Lavendelzeugs oben drauf. Außerdem bin ich großer Fan von 4711, Echt Kölnisch Wasser (zieht einen kleinen Flakon aus der Tasche).
Wie stehst du zu Beerdigungen?
Hier in Wien ist die schöne Leich´, also eine würdige Bestattung, immer ein Thema.
Ich bin kein Fan von Nullachtfünfzehn-Beerdigungen, meist sind die langweilig, rückwärts gewendet. 2020 sind Begräbnisse als Statussymbol vollständig überholt und daher in der Nullachtfünfzehn-Ausführung oft Bullshit. Das wird halt zur Trauerbearbeitung gemacht. Während der Beerdigung wird auch immer ein bisschen verhandelt, welche Geschichten denn nun in Zukunft über den Toten erzählt werden. Beim Leichenschmaus oder beim Kaffee wird dann festgelegt, was einer war im Leben. Dabei gibt es schon lange Internet-Trauermöglichkeiten oder ganz persönliche Begräbnisse ohne herkömmliche Einlagen, das ist doch viel besser.
Gibt es weniger Insekten als früher?
Vielleicht durch die zunehmende Trockenheit und sicher durch den steigenden Landverbrauch ist ein enormes Artensterben eingetreten. Wir haben merklich weniger Insekten die letzten Jahre, wie ich finde auch bei Leicheninsekten. Mit Zahlen belegt ist sicher, dass sowohl die Anzahl als auch die Artenvielfalt der Insekten weltweit dramatisch abnimmt.
Du lebst vegan, warum?
Jeder weiß, was in Schlachthäusern passiert, niemand kann heute noch behaupten, er hat keine Ahnung. Es ist ätzend, dieses Verdrängen. Einerseits sagen die Leute ‚Ja, ich weiß, wie es den Hühnern und Schweinen geht, das ist schrecklich. Und diese Tiertransporte sind ganz furchtbar’. Und dann essen die trotzdem ihre Wurst und trinken Milch.
Das treibt mich in den Wahnsinn. Ich möchte ein Welt, in der die Leute die Wahrheit sagen. Ich finde es grundsätzlichauch hirnverbrannt, die eigene Existenz so leicht aufs Spiel zu setzen. Die Verwendung tierischer Produkte ist der Haupt-Beitrag am Klimawandel.
Ein Wort zu Fernsehkrimis?
Keine Ahnung. Ich hab noch nie einen Tatort gesehen. Ich hasse Fernsehen, das interessiert mich überhaupt nicht.
Nach was riecht es in Wien?
Nach veganem Kaiserschmarren. Nach veganen Burgerbuden, nach Veganismus 4.0. Die Deutschen sparen ja beim Essen, bei der Qualität. Für Veganerinnen und Veganer wird Wien so langsam super, hier gibt es total gehaltvolles Essen.
Möchtest du uns ein Buch empfehlen?
Ich lese gerne alte Tierbücher der letzen 500 Jahre. Brehm, Fabre oder Gessner, der ist von 1555. Nicht diese, aber viele andere alte Bücher sind jetzt superbillig, weil keiner mehr Fraktur lesen kann. In den ganz alten Büchern gibt’s noch Einhörner und Meeresbischöfe. Ab etwa 1600 werden auch die Holzschnitte in den Büchern gut. Aber ich finde vor allem die Texte super.
Übrigens schreibe ich gerade selbst ein Buch über Tiere, die mir gefallen: kurze Texte und epische Illustrationen von Kat Menschik, das kommt im Herbst raus. Meine Bücher empfehle ich natürlich auch immer gerne.
Welchen Film legst du uns ans Herz?
Der Joker mit Joaquin Phoenix gehört auf jeden Fall in die Hall-of-forever-fame. FROZEN, hier lief es unter Die Eiskönigin, fand ich auch cool.
Was läuft derzeit auf deiner Playlist?
Elektrozeugs. Im Labor höre ich nur Psytrance. Mit Bianca Stücker habe ich kürzlich zwei Cohen-Lieder gecovert. Davor war's Some Velvet Morning von Lee Hazlewood und Nancy Sinatra.
Wo isst du gerne in Wien?
Meine Frau Ines und ich mögen die Swing Kitchen. Und heute hab ich schon einen veganen Apfelstrudel vom Anker bekommen, der schmeckt super.
Hast du einen Lieblingsplatz in Wien?
Der Comicshop in der Rotenturmstrasse.
Möchtest du Wien was ausrichten?
Macht was ihr wollt und lasst euch nicht reinquatschen. Und ich hatte mir gewünscht, dass sie im Naturhistorischen Museum das präparierte Schoßhündchen von Kaiserin Maria Theresia wieder ausgestellt wird – der Wunsch ging in Erfüllung!