Der Herr der Maden

Quelle: max, Juni 1998, Seiten 150 bis 156

Von Lisa Ortgies | Fotos: Martin Schöller (hier in groß | Galerie-Seite)

Er ist 27, Doktor der Rechtsmedizin (1) - und weltweit gefragt als Experte bei mysteriösen Todesfällen. Der Kölner Mark Benecke konzentriert sich auf lebende Beweise: auf Maden, die sich durch eine Leiche fressen. Aus der Nähe betrachtet verliert der Tod seinen Schrecken. Seine Farben und Gerüche haben nichts Menschliches. Es schimmert in saftigem Grün oder glänzt in Pastellblau, hier und da ragt ein weißer Knochen hervor. Und in jeder Minute wechselt ein aufdringlicher eruch mit dem nächsten, wie beim Spaziergang durch die Parfümabteilung eines Kaufhauses: Ein Fest für die Sinne - vorausgesetzt, man steckt im Chitinpanzer eines Insekts. Oder man fühlt sich berufen, die Welt aus der Perspektive einer Schmeißfliege zu betrachten. Wie Mark Benecke.

"Eine Faulleiche", sagt der deutsche Insektenkundler und Kriminalist der New Yorker Gerichtsmedizin, "ist nicht mehr und nicht weniger als ein faszinierendes Biotop." Daß sich andere Menschen beim Anblick eines verwesenden Artgenossen der Magen umdreht, deutet der Biologe als psychische Fehlleistung: "Die versuchen, aus diesem Chaos aus Fäulnis und Madengewimmel Ähnlichkeiten mit einem Menschen zu entdecken." Eine Leiche in diesem Stadium gehört für ihn mehr zur Natur als zu den Menschen, "und durch die Maden wird aus den Überresten wieder nutzvolle Energie - ein kleines Wunder."

Mit dieser Sichtweise steht der 27 Jahre alte Doktor der Rechtsmedizin ziemlich allein da. Selbst hartgesottene Autopsiegehilfen greifen angewidert zum Wasserschlauch, wenn ihnen aus einem geöffneten Leichensack Insektenmaden entgegenkriechen. Ein verständliche Reaktion. Aus professioneller Sicht jedoch ein Patzer. Denn machmal spülen die Kollegen einen wichtigen Indizienbeweis in den Ausguss. Mark Benecke hat sich auf den kuriosesten Zweig der Kriminalistik spezialisiert, der uwar eine jahrhundertealte Tradition hat, aber nur von sehr weinigen Menschen ausgeübt wird. Er ist einer von weltweit rund 30 Experten, die sich bei der Aufklärung von Todesfällen nicht auf Schmauchspuren oder Blutspritzer, sondern auch die lebenden Beweise konentrieren: Stuben- oder Schmeißfliegen und Aaskäfer bis hin zu Spinnen und Ameisen. Denn je nach Grad der Zersetzung wird ein Körper nacheinander von den unterschiedlichsten Kreaturen bevölkert.

Bereits 15 Mnuten nach dem letzten Atemzug legen Fliegen ihre Eier in Augenhöhlen, Nasenlöcher oder Mundhöhle und - je nach Todesart - in Stichwunden oder Schußkanäle. Aus Eier schlüpfen Maden, die sich blind und hungrig durch die Haut und Organe fressen. käfer ernähren sich von Haaren und Knochenmark und am Ende, wenn kein Fleisch mehr übrig ist, schwirrt vielleicht eine Biene vorbei, die ihr Wabennest unter das Brustbein baut. Aus der Sicht des Insektenforschers Benecke ein außergewöhnliches Schauspiel: "Als würde man aus dem All der Besiedlung eines Planeten zuschauen." Jede Spezies bevorzugt ein anders Lebenssadium und eine ander Umgebung - so kann ein sogenannter Entomologe oft genau verfolgen, wie lange die Leiche wo gelegen hat. Eine Frage, bei der andere Rechtsmediziner manchmal passen müssen - vor allem, wenn sich die Überreste längst in Brei verwandelt haben.

In Maryland fanden Spaziergänger die stark verwesten Überreste einer jungen Frau. Der Entomologe fischte Maden aus der Leiche, die es in der ländlichen Umgebung des Fundorts nicht gab - die Arten gehörten zu den Speies einer Großstadt. Des Rätsels Lösung: Die Prostituierte war von einem Truckfahrer mitgenommen worden. Der Mann hatte sie erwürgt, war aus der Stadt geflüchtet und fuhr - mit der Leiche in der Füherkabine - tagelang ziellos durch die egend. Schließlich ließ er die Tote in einem Waldstück abseits des Highways liegen.

Während sich Benecke nach dem Studium der Biologie noch auf seine Promotion zum Rechtsmediziner (1) in Köln vorbereitete, mußte er einen ähnlichen Fall untersuchen: Ein Junkie, identität unbekannt, den die Polizei in einem Park gefunden hatte. "Der Mann war offenbar schon am Vorabend gestorben, die Eier in Augen und Nase aber waren erst wenige Stunden alt." Die Mitbewohner des Süchtigen hatten die Leiche aus Angsst vor der Polizei loswerden wollen, se aber erst noch eine Zeitlang in der Wohnung liegenlassen, bevor sie den Körper im Park entsorgten. Für Benecke war der Fall eine Art kriminalistischer Durchbruch, den er jedoch mit niemandem teilen konnte: "Es gibt kein stärkeres Tabu als den Tod, das mußte ich erst lernen." Seine Leichen waren zu Hause oder bei Freunden niemlas ein Thema. Daß er in der ersten zeit nur ungern schlief, hat nie jemand erfahren. "Die Alpträume haben sich nach ein paar Wochen wieder gelegt", sagt er.

Wenn seine Eltern nach dem Beruf ihres Kindes gefragt werden, antworten sie "Rechtsemdiziner", ohne in die Details zu gehen. "Die meisten stellen sich darunter einen Juristen vor und fragen nicht weiter." Für seine Familie sind nur zwei Dinge wichtig: ist er glücklich in seinem Job, und kann er davon leben? Seine Berufswahl haben sie nie in Frage gestellt. Schon als Kind hatte er sich einen Detektivkoffer gewünscht, "und von jedem Besucher einen Fingerabdruck gemacht." (1)

Statt wie andere Forscher Affen zu beobachten, fühlte sich Mark Benecke von Anfang an zu den wirbellosen Tieren hingezogen (er ist Pate eines Tausenfüßlers im Kölner Zoo). "Weil sie noch Geheimnisse haben und weil sie von allen mißverstanden werden." Wer außer Benecke weiß schon, daß Tintenfische Zuneigung zeigen oder beleidigt sein können? Benecke hat sie drei Monate lang studiert, seither zuckt er zusammen, wenn jemand im Restaurant Calamaris bestellt. Eigentlich ganz logisch: Für jemanden, der Insekten liebt und den Tod nicht scheut, gibt es keinen passenderen Beruf. "In einzelnen Fällen können Maden sogar den entscheidenden Hinweis auf einen Mord geben", erklär Mark Benecke begeistert. Denn wenn ein vergiftetes Opfer längst skelettiert ist, finden sich immer noch Spuren des tödlichen Stoffes in den Puppenresten der Maden.

Wir sind nur Gäste in der Welt der Insekten", sagt Benecke, "und ich bin einer ihrer Übersetzer." Dabei dreht er den klobigen Skarabäus aus Silber, der seinen Ringfinger schmückt. Mit seinem antiken Brillengestell - "aus dem Sezessionskrieg" - und dem mintgrünen Polyesterhemd wirkt er selbst wie eine ignorierte Spezies. Aber nicht nur als Wissenschafts-Freak und Insektenkundler ist Benecke eine Ausnahme unter seinen Kollegen. Seine Promotion in Deutschland hat "Dr. Maggot" (englisch für Made) dem Fortschritt gewidmet: Er ist Spezialist für genetische Fingerabdrücke. Anfang letzten Jahres hat Benecke auf den Philippinen das landesweit erste DNA-Labor aufgebaut. Dort erreichte ihn ein Fax aus New York. Das Rechtsemdiziniche Institut der Stadt suchte weltweit nach einem Spezialisten mit Doppelbegabung und stieß dabei auf den biologen aus Köln. Ein Traumjob für Benecke, trotz mieser Bezahlung (2800 Dollar brutto im Monat). Denn für einen Jungforscher und Workaholic sind die Arbeitsbedingungen in Manhattan ideal: Rund um die Uhr freier Zugang zum labor und den Autopsieräumen.

Alle Beweisstücke in Verbindung mit ungeklärten Gewalttaten, von der Leiche bis zur Unterhose, landen in dem blaugekachelten Betonkasten an der First Avenue. Wer auf einer Bahre in dieses Gebäude gelangt, gehört für einige Stunden oder Tage der Stadt new York - bis Todesursache oder identität geklärt sind. Was auch immer mit den Toten passiert, die Hinterbliebenen sind davon ausgeschlossen. Nur Geistliche haben Zutritt zu den Autopsieräumen. Mit Zange, Säge und Röntgengerät machen sich die Mediziner auf die Suche nach Spuren von gewalt. Nicht selten steht bei den Untersuchungen ein rabbi neben dem OP-Tisch, um sicherzugehen, daß jede Gewebefaser am Ende wieder in der Leiche verschwindet - wenn auch nicht am ursprünglichen Platz.

Die gefundenen Beweisstücke werden über die verschiedenen Stockwerke ds Instituts verteilt: Toxikologen untersuchen die Organproben, Ballistiker kümmern sich um Waffen und Kugeln. Und jeder Abstrich, jedes Kleidungsstück mit Blut, Sperma oder Speichel - alles, was menschliche Erbsubstanz enthalten könnte - geht an die Biologen im sechsten Stock. Hier flackert der DNA-Strichcode des Mörders über die Computermonitore, bevor es einen Verdächtigen gibt. In dieser Woche bearbeitet Benecke die Abstriche von Vergewaltigungsopfern, zwei bis drei Fälle pro Tag. Er muß sich beeilen, denn die Polizei ist einem Serienverbrecher auf der Spur. "Ich weiß, daß ich diesen Typen schon mal auf der Pipette hatte." (*) Während Benecke nach älteren Testergebissen sucht, legt seinen Kollegin Mary einen Fall zu den Akten: eine Vergewaltigung mit Todesfolge. Das Opfer war ein Jahr alt, als Täter kommt nur der Vater in Frage, aber auf dem Laken finden sich keine Spuren - abgesehen vom Erbrochenen des Kindes.

Wenn Mary und die anderen DNA-Detektive ihre Computer ausschalten, hockt sich Benecke ans Mikroskop. Jetzt ist Zeit und Ruhe, um sich den Maden zu widmen, die er tagsüber im Autopsieraum sammelt. "Wenn ich morgens durch den Liefereingang gehe, erkenne ich am Geruch, ob in der Nacht ein eFaulleiche reingekommen ist." Die Saison für verwesende Leichname beginnt im Hochsommer, wenn die Temperaturen steigen und die Luft feucht ist. Bis dahin will Benecke alles über die amerikansiche Insektenwelt wissen. Außer ihm gibt es in den USA nur noch einen Kollegen beim FBI, der ausschließlich für die Rechtsmedizin arbeitet. In Deutschland hat Mark Benecke keinen Konkurrenten. Wenn er als Sachverständiger gebraucht wird, muß die Staatsanwaltschaft dafür sorgen, daß die Maden vom Fundort schnell und unbeschadet auf seinen New Yorker Labortisch kommen, auch wenn es Steuergeld kostet.

Während der Prozeß gegen "Todespastor" Klaus Geyer in Deutschland Schlagzeilen machte, landete auf dem New Yorker Flughafen eine deutsche Bundeswehrmaschine. Einziger Passagier war ein Kurier des auswärtigen Amtes mit leichtem Gepäck: ein Plastikröhrchen, in dem drei Maden von der Größe eines Reiskorns schwammen. War die Frau des geistlichen am Freitag oder am Samstag erschlagen worden? Darüber sollte nun das Alter der Maden entscheiden. Aber zunächst mußte die Spezies bestimmt werden. "Bei lebenden Maden ist das einfacher. Ich setze sie auf ein Stück Leber und warte, bis die Fliegen schlüpfen." Fünf Nächte verbrachte Benecke über dem Mikroskop, sezierte jeden Mikrometer und trennte das Mundwerkzeug vom Rest der Made. Eine motorische Höchstleistung, "so als wollte man mit einer Baggerschaufel ein Ei köpfen." Eine falsche Bewegung und das winzige Indiz zerbricht oder weht vom Tisch. Immer wieder telefonierte benecke mit er Kripo vor Ort, diriegierte die beamten noch einmal über den Leichenfundort: Hatte es an der Stelle geregnet? Gibt es einen Bauern in der Nähe, der genaue Weterdaten notiert hat?

Regen und Sonne, Wärm eund Kälte, fressen, wachsen, fortpflanzen Beneckes wichtigste Instrumente sind die Koordinaten der natur. Die Psychologie, das Motiv des Täters läßt ihn kalt: "Das sind so schwammige Bereiche." Was ihn interessiert, ist die Zeitspanne zwischen der ersten Eiablage und der Entdeckung der Leiche. Punkt. Wer am Ende mit Hilfe dieser Informationen überführt wird, ist Benecke egal. Hauptsache, er kann seinen Teil zum Puzzle beitragen. Und bekommt dafür Anerkennung. Als er schließlich beim Prozeß in Braunschweig im Zeugenstand saß, zielten die Fragen des Geyer-Anwalts nur auf sein Alter und seine Qualifikation, denn Beneckes Gutachten war nicht anzufechten zum Nachteil des Angeklagten. Benecke antwortete mit einem Vortrag über Diplom, Dissertation und Veröffentlichungen und wurde vom Beifall des Publikums unterbrochen. Ein Minuspunkt für die Verteidigung.

Solche Momente sind für ihn ausreichend Lohn für eine Woche unbezahlter Nchtschichten. Daß der Pastor einen Monat später zu acht Jahren Haft verurteilt wurde, ist an Benecke vorbeigegangen. Aber selbst, wenn er in Deutschland leben würde - die Nachricht hätte ihn womöglich nicht erreicht: Er hat keinen Fernseher, er liest kaum Zeitung. Wozu auch? Vom Geschehen in der Welt da draußen erzählen im die Insekten, die blutbespritzten Schuhe und Pappstreifen mit Spermaproben, die tagtäglich auf seinen Arbeitstisch kommen. Sein Fazit: "Nichts, was Menschen einander antun, kann mich noch überraschen." Punkt. Keine Moral von der Geschichte, keine philosophischen Gedanken. Nur dieser Satz.

In einem Weiterbildungskurs zur Analyse von Blutspritzern am Tatort, den Benecke besuchte, diente ein totes Schwein als Mordopfer. Benecke sollte den Täter spielen, aber er "war nicht in der Lage, dem Kadaver auf den Kopf zu schlagen." Beim Anblick einer aufgedunsenen Leiche beißt er ohne Probleme in ein saftiges Sandwich (*), aber wenn ein Kollege eine Made ins Waschbecken schmeißen will, kann er nicht zuschauen: "Ich ertränke sie in Alkohol - das ist schmerzlos." Mark Benecke hat keine Angst vor dem Tod, solange er gewaltlos ist. Den "Traum vom ewigen Leben" hält er für eine weitverbreitete Illusion, gegen die er seine wissenschaftliche Vernunft setzt. "Warum lassen sich Leute für ein Vermögen einfrieren? Weil ihnen nicht klar ist, daß es nichts Sinnvolleres am Leben gibt als das Sterben. Ohne den Tod gäbe es keine Evolution." Deshalb hat Benecke dem Thema ein ganzes Buch gewidmet und raubt den Lesern auf 280 Seiten jede Hoffnung auf ein Leben danach. Und sein eigenes Ende?

Benecke hat einen Alptraum. Er liegt tief in der Erde in einem Sarg - dort, wo ihn die Insekten nicht finden können (1). Am liebsten wäre ihm eine Bestattung auf nacktem Waldboden. Er wäre dann menschliches Futter für Fliegenmaden und Aaskäfer, "damit ich mich so schnell wie möglich wieder in Leben verwandele." Und um Platz zu machen für die nächste Generation. Keine Wiedergeburt und kein Jenseits. Punkt.


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