Quelle: Cicero, Nr. 10, Oktober 2023, Seite 121
Von Nadine Emmerich
SALON – Die letzten 24 Stunden
Wenn ich mir einen Ort für meine letzten 24 Stunden vorstellen muss, dann sitze ich an einem Baum und höre dem Rascheln der Bäume und dem Summen und Plaudern der Insekten und Vögel zu. Vielleicht verbringe ich den Tag sogar mit geschlossenen Augen, dann kann ich noch besser hören. Aber das kann ich natürlich nicht steuern. Ich bin nicht träumerisch, sondern jemand, der sich mit der messbaren Wirklichkeit auseinandersetzt. Ich bin an meinem letzten Tag also irgendwo: England, Peru, Kolumbien, die Philippinen ... Mir reicht es, wenn meine Frau neben mir sitzt und Händchen hält. Alles andere überlasse ich dem Lauf der Natur. Wenn du stirbst, brauchst du nicht mehr zurückzudenken. Meine Erfahrung aus Hospizbesuchen ist, dass die meisten Leute nicht mehr viel reden. Innerlich wenden sich Sterbende dem Tod zu, sie lassen alles hinter sich. Das Vergangene spielt keine Rolle mehr. Noch eine dicke Party zu machen, finde ich abwegig. In meinen letzten 24 Stunden herrscht die Gewissheit, dass es jetzt wirklich vorbei ist. Viele denken ja, man würde noch seine Lieblingsspeise essen oder sein Lieblingsgetränk trinken wollen. Das ist alles Quatsch. Ich mache jeden Tag das, was ich gerne machen will, und schiebe es auf keinen Fall auf den letzten. Denn dann wird es garantiert nicht passieren. In einem Kinomärchen wird das Ende im Hintergrund immer von der entsprechenden Musik untermalt. Aber das ist nicht meine Persönlichkeit, ich will am Ende keine große Show oder einen großen Abgang. Ich könnte jetzt eine Ge-schichte wie in einem Spielfilm erfinden. Aber meine wahre Auffassung ist: Du gibst dich einfach hin und sagst: Okay, das war's, ich habe mein Leben gelebt. Die letzten Phasen laufen immer gleich ab, außer man wird von einem Lkw überfahren: Du bist ruhig und friedlich und hast auch keinen Bock mehr zu leben. Am Ende schafft es jeder loszulassen. Das hängt auch damit zusammen, dass die Körperfunktionen aufhören zu arbeiten. Dass die Leute so wie im Kino noch mal die Faust recken, das gibt es nicht. Das ist romantischer Sirup, der da über den Tod gegossen wird. Am Ende ist das im Normalfall ein Wegdämmern. Natürlich gibt es Leben nach dem Tod. Wenn man sich nicht verbrennen lässt, verfault der Körper und wird in seine Bestandteile zerlegt: Eiweiße, Fette, Eisen, alles. Dieses Körpermaterial wird wiederverwertet, und es entsteht neues Leben. Das sieht man ja, wenn eine Banane verfault und die Fliegen kommen. So ist das bei Menschen auch. Ich verstehe nicht, warum Leute vorher entscheiden, wie sie bestattet werden sollen. Das kannst du den Angehörigen überlassen, die Beerdigung ist für sie. Die sinnvollste biologische Art ist die natürliche Kompostierung, das ist ja jetzt auch in Deutschland erlaubt. Wenn du eine Anweisung schreibst, dass du in Köln auf einem Boot in einen erfundenen Wasserfall geschoben werden willst, und dann hast du am Ende krassen Krebs und siehst so aus, dass alle noch trauriger werden — was dann? Diese Leiche willst du doch nicht in das romantische Boot mit den Blümchen legen. Also lass die machen, die dich kennen: Lass los, let go!