Quelle: Kriminalistik, 2/2010, 64. Jahrgang, Seiten 89 bis 94
Der reverse C.S.I.-Effekt
Wenn Spuren nicht beachtet werden
Teil 1: Als Muttermörderin verurteilt: Der Fall Hartung
VON SASKIA REIBE UND MARK BENECKE
Weltweit herrscht der Glaube, dass Spuren erstens jeden Fall lösen könnten und dass sie zweitens, wenn sie gefunden werden, immer die Wahrheit klären ("C.S.I.-Effekt"). Dass beides nicht der Fall ist, zeigen drei Beispiele aus unserer Sachverständigen-Praxis.
Die Einleitung
Die Nachuntersuchung eines Tatortes in Franken und aller von der örtlichen Polizei und dem LKA asservierten Spuren sechs Jahre nach Tötung einer alten Dame zeigte, dass es keine objektiven Spuren gab und gibt, die beweisen, dass die verurteilte Frau ihre Mutter getötet hat. Sie kann trotzdem die Täterin sein. Dennoch haben wir aus spurenkundlicher Sicht große Bedenken. Könnte es sein, dass dieser Fall dadurch bestimmt war, dass es sich scheinbar um den klassischen geschlossenen Raum handelte, den es sonst nur in erfundenen Kriminalgeschichten gibt? Doch selbst diese Annahme wäre ein – hier vor Gericht allerdings nicht erkannter – Irrtum: Es gab zahlreiche Zugänge zum Tatort, und jeder im betreffenden Ort wusste, wo der Schlüssel zur Eingangstür lag.
Auftragserteilung
Im Januar 2006 erreichte uns ein Brief aus dem Frauengefängnis Aichach. Frau Hartung, mittlerweile 55 Jahre alt, war vier Jahre zuvor wegen Mordes an ihrer neunundsiebzigjährigen Mutter zu fünfzehn Jahren Haft verurteilt worden. Sie bestritt die Tat von der ersten Minute an, obwohl sie laut Urteil in der Tat-Nacht als einzige Person (abgesehen von ihrer nun toten Mutter) im geschlossenen Einfamilienhaus gewesen sein sollte. Frau Hartung wollte zum rechtsmedizinisch ermittelten Todeszeitpunkt nach Mitternacht in der über eine Holztreppe frei erreichbaren Etage über ihrer Mutter geschlafen haben (Abb.1).
Nach Prüfung der Akten beschlossen wir, den Fundort der Leiche – das Elternhaus, in dem ihre Mutter bis zur Ermordung gelebt hat – auf neue und alte Spuren zu untersuchen. Frau Hartung, ihr Verlobter und eine Bekannte wollten eine Wiederaufnahme erwirken.
Das Haus wurde von uns zweimal besichtigt und untersucht; beim ersten Mal, um den Tatort zu sichten und den Arbeitsaufwand einzuschätzen, beim zweiten Mal mit einem sechsköpfigen Team, um so viele Räume und Oberflächen wie möglich mit Schwerpunkt auf bisher unberücksichtigte Spuren zu durchsuchen.
Anfängliche Einschätzung/ Aktenlage
Uns lagen zunächst die Urteilsbegründung, eine Zusammenfassung aller serologischen Gutachten sowie, anwaltlich angefordert, Farbfotos des Tatortes vor. Aus der Urteilsbegründung ergab sich, dass die Mutter nachts mit 47 Messerstichen, während sie auf einem Sofa in der Wohnküche schlief, getötet wurde. Am Tag des Leichenfundes hatte die Polizei das Messer in einem hinter einer Spiegeltür versteckten Kämmerchen, in einem Messerblock steckend und mit Anhaftungen vom Blut des Opfers, entdeckt.
Unsere Mandantin hatte zwar nicht mehr bei ihrer Mutter gelebt, war aber in der Tatnacht bei ihr, da am nächsten Tag ein früher gemeinsamer Ausflug geplant war. Ihr ehemaliges Kinderzimmer stand auch nach wie vor jederzeit für sie als Schlafplatz bereit. Am Morgen des Ausflugtages betrat sie gegen 7:00 Uhr die Küche, wo ihre Mutter sehr oft auf einem Sofa schlief (Abb. 2), und wunderte sich – wie sie in der polizeilichen Vernehmung angab – darüber, dass diese noch nicht wach und abfahrtsbereit sei. Als sie versuchte, ihre Mutter zu wecken, sah sie, dass "etwas nicht stimme". Frau Hartung lief sofort zum Hausarzt, der fast gegenüber wohnte. Der Arzt folgte ihr ins Haus und vermutete anfänglich eine Hundeattacke bei einem eventuellen nächtlichen Spaziergang. Nach genaueren Untersuchungen des Oberkörpers – mittlerweile hatte er die zahlreichen Verletzungen besser erkennen können – verständigte er die Polizei und wartete gemeinsam mit Frau Hartung auf deren Eintreffen.
Die Polizei befragte Frau Hartung zunächst als Zeugin und nahm sie mit aufs Revier. Dort wurden ihre Fingernägel asserviert, weil vermutlich sie die letzte Person war, die Kontakt mit ihrer Mutter hatte. Die Zeugenvernehmung dauerte den ganzen Tag an, bis am Nachmittag ein Messer in einem ans Badezimmer grenzenden Raum hinter einer verspiegelten Tür gefunden wurde. Die Polizei schloss noch am selben Tag aus, dass eine dritte Person am Tatort gewesen sein könne, weil sich angeblich keine Einbruchsspuren fanden. Frau Hartung hatte hierzu allerdings ausgesagt, dass sie am Morgen eine offen stehende Tür bemerkt haben will. (Das Haus hat ringsum mehrere, teils verdeckte und nicht von außen einsehbare Türen zu insgesamt drei Straßen und in einen leicht erreichbaren Garten).
Wir trafen hingegen eine Metall-Tür mit deutlichen Werkzeugspuren an (Abb. 3), die erstens verdeckt war, zweitens von Zeugen nicht einsehbar gewesen wäre und drittens durch den Keller über eine nicht knarrende Luke direkt in die Wohnung der getöteten Person führte. Dieser Keller war im ersten Angriff übersehen worden (die Luke war mit einem kleinen Läufer bedeckt); erst der Haftrichter (!) wies nach Aussage unserer Auftraggeber auf die Untersuchung des Kellers hin. Das war sinnvoll, weil mehrere Keller-Fenster direkt zur Straße führten und direkten Zugang zur Wohnung gaben.
Das Gericht diskutierte diese nachweislich vorhandenen und teils mit Werkzeugspuren markierten Zugänge nicht und ging von einem geschlossenen Gebäude aus. Die Aussage der Angeklagten, die Garten-Türe sei nachts offen gestanden, wurde als unwahr bewertet: Frau Hartung habe die Tür erst offen stehen lassen, als sie zum Arzt gelaufen sei. Daraufhin wurde sie noch am Tattag, nach Fund des Messers, in Untersuchungshaft genommen und dem Haftrichter vorgeführt. Dieser ordnete Haft bis zur Verhandlung an.
Das Messer wurde während der Sektion der Ermordeten auf eine Übereinstimmung mit den Stichtiefen und -größen am Opfer überprüft. Es wurde nicht als Tatwaffe ausgeschlossen, aber naturgemäß auch nicht sicher zugeordnet. Im am Messergriff anhaftenden Blut fand sich DNA der getöteten Person. Dies machte es zunehmend wahrscheinlich, dass es sich um das oder zumindest ein Tatwerkzeug handelte. Allerdings fand sich keine Übereinstimmung der DNA-Spuren am Messergriff mit dem DNA-Profil der angeblichen Täterin. Stattdessen fand sich am Griffende des Messers die DNA des Opfers gemeinsam mit Fragmenten des DNA-Profils eines Mannes.
Eine Zuordnung zu anderen – beispielsweise männlichen – Verdächtigen wurde jedoch nicht versucht, obwohl zwei männliche Dorfbewohner, darunter ein Nachbar und ein laut Mitteilung der Angehörigen vorbestrafter Sexualtäter, ungefähr zum rechtsmedizinisch ermittelten Tötungszeitpunkt direkt am Haus vorbei gegangen waren.
Unter den Fingernägeln der verhafteten Frau fand sich nur ihre eigene, aber keine DNA ihrer nun toten Mutter. Es fanden sich auch keine Faserspuren von Frau Hartungs Kleidung an der Leiche. Umgekehrt fanden sich auch keine Blutspuren vom Opfer an Frau Hartungs Bekleidung.
Das Gericht erklärte das damit, dass aufgrund einer langanhaltenden Toilettenspülung, die ein Nachbar um 4:00 Uhr früh beim Rauchen vor der Tür bemerkt haben wollte, davon auszugehen sei, dass Frau Hartung ihre blutige Kleidung in der Toilette entsorgt, also gewechselt, habe. In der aus dem Haus der Toten deutlich abwärts führenden Kanalisation (Abb. 4) fanden sich bei der polizeilichen Nachsuche allerdings keine Kleidungsstücke.
Ablauf der Tat laut Urteil
Frau Hartung war laut Urteil gegen Mitternacht, nach einem Streit mit der Mutter über ein zerbrochenes Bild, zu Bett gegangen und hatte dabei ihren Verlobten angerufen, um sich wie schon öfters über die überstrenge Mutter, der sie nichts recht machen könne, zu beschweren. Sie habe jedoch nur dessen Mailbox erreicht und dort eine Nachricht von bis heute unbekanntem Inhalt hinterlassen.
Vor 3:00 Uhr nachts sei sie aufgestanden, aus ihrem Schlafzimmer im 1. OG die Treppe herunter ins EG und durch die Tür, die vom Bad aus in die Küche führt (Abb. 5), zum Sofa gegangen, auf dem die Mutter gelegen habe. Das Messer habe sie aus dem Raum mit der verspiegelten Tür, die ebenfalls vom Bad abging, aus einem Messerblock gegriffen, um dann 47 mal auf die Mutter einzustechen. Anschließend habe sie das Messer kurz abgewaschen, es wieder in den Holzblock hinter der verspiegelten Tür gesteckt und sei zu Bett gegangen.
Das Gericht nahm an, dass die Tat geplant gewesen sei. Die Möglichkeit zur Ausführung der Tat, Ortskenntnis und die Kenntnis über die Persönlichkeit des Opfers gepaart mit dem Wunsch, sich nach 54 Jahren aus der Kontrolle der strengen Mutter zu befreien, seien dabei die Rahmenbedingungen gewesen. Frau Hartung habe sich ständig gegenüber Freunden darüber beschwert, wie häufig sie sich um die 150 km entfernt wohnende Mutter kümmern müsse. Zudem habe ein Zwist über den Verlobten von Frau Hartung vorgelegen, der in den Augen der Mutter „als Italiener" nicht gut genug für ihre Tochter gewesen sei. Die Überwucht der 47 Messerstiche lasse auf eine enge emotionale. Beziehung zwischen Täter und Opfer schließen, was auf die vorliegende Mutter-Tochter-Verbindung zutreffe. Aus dieser Kette an Indizien und Meinungen wurde der Mord als bewiesen festgestellt.
Juristische Schritte nach der Verurteilung
Es wurde fristgerecht Revision sowie acht Monate später eine Verfassungsbeschwerde eingereicht. Es wurden die Verletzung von Verfahrensrecht sowie die Verletzung materiellen Rechts, also die Strafnorm selbst und die Frage, ob deren Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind, gerügt. Das Revisionsgericht lehnte die Verletzung von Verfahrensrecht jedoch ab. Ebenso wurde keine Verletzung materiellen Rechts festgestellt: Das LG Würzburg habe aufgrund der im Urteil aufgezeigten Indizienkette den für sich feststehenden Sachverhalt richtig dargestellt.
Als juristische Laien fragten wir uns, ob die Indizien wirklich ausreichten, um den vom Gericht festgestellten Sachverhalt zu rechtfertigen. Wie stark eine Indizienkette sein muss, um letzte Zweifel an der Täterschaft zu beseitigen, ist bei Indizienprozessen natürlich eine problematische Frage. Diese wurde in unserem Fall vom Bundesverfassungsgericht nicht überprüft (Oktober 2004; angeforderte Prüfung der Verletzung von Artikel 103 GG (Anspruch auf rechtliches Gehör) gegen die Beschlüsse des OLG Bamberg zu den Verfügungen des LG Würzburg); es ging im Wesentlichen um die Verletzung von Verfahrensrecht: Die Verfassungsbeschwerde wurde demgemäß abgelehnt.
Die von uns angestrebten kriminaltechnischen Untersuchungen sollten nunmehr zeigen, ob das von der Angeklagten geschilderte Geschehen oder eine andere Variante (unsere Mandantin wollte geschlafen haben) durch neue Sachbeweise untermauert werden konnte, um so die Feststellungen des Urteils zu erschüttern.1
Befunde vor Ort
Das Haus war während der Ermittlungen von der Polizei durchsucht worden. Beblutete Asservate wie Decken und Kissen vom Sofa waren dabei von der örtlichen KTU bzw. dem LKA mitgenommen und untersucht worden. Nach Abschluss der Ermittlungen wurde alles wieder zurück in das Haus gebracht, das seit der Tat nicht mehr bewohnt wurde.
In unserer Nachuntersuchung sollte geprüft werden, ob
eventuelle Blutspuren übersehen wurden und deren Verteilungsmuster auf einen anderen Tatablauf schließen lassen würden;
ein anderes Messer gefunden werden kann, welches ebenfalls an der Tat beteiligt gewesen sein könnte;
1000,- Euro, die am Tag vor der Tat vom Sparkonto abgehoben wurden und seitdem nicht mehr aufgetaucht sind, in etwa hundert nie durchsuchten Geldbörsen oder dutzenden von Schubladen und Koffern gefunden werden können;
eine Nachstellung in der Originalsituation mit den Originaldecken — unter denen das Opfer gelegen hatte — und dem Originalsofa erklärt, warum an der Wand, der Raumdecke und allen umstehenden Gegenständen trotz der starken Gewalteinwirkung absolut keine Blutspritzer entdeckt worden waren.
Blutspuren: Im gesamten Umfeld um und hinter dem Sofa an der Wand fand sich kein einziger Blutspritzer, weder durch stichprobenartige Tests mit Blutschnelltest-Sticks noch durch die Untersuchung mit hellem Licht. Es ist unwahrscheinlich, dass diese Flächen gereinigt wurden, da sie mit einer Überfülle kleiner Gegenständen behangen waren, die alle einzeln hätten abgenommen und gereinigt werden müssen. Keine der zugangsberechtigten Personen gab an, nach der Tat geputzt zu haben. Allerdings stand beispielsweise ein Tischchen mit dem Gebiss der Toten scheinbar unverändert noch vor dem Sofa, was aber räumlich die Tat nahezu unmöglich gemacht hätte. Irgendjemand (Polizei? Angehörige?) hatte also zumindest größere Gegenstände im Raum verschoben und beispielsweise auch ein Kissen mit einem Kniff versehen und auf das Sofa gestellt (Abb. 6).
Eine Durchsuchung des gesamten Hauses unter Verwendung von Blutschnelltests2 an allen rötlich-braunen Anhaftungen zeigte an vielen Oberflächen eine Reaktion, zum Beispiel an einem Paar Lederhandschuhe aus einer Schublade der Kommode, die direkt neben der Durchgangstüre zum Tatzimmer, sehr nahe am Kopf der Leiche, stand, die durch einen Raum von der Haustüre ausgehend aus zur Küche führt. Zudem fanden wir an der Klinke der Tür, die direkt neben der Haustüre zum Kommodenzimmer abgeht, also erneut sehr nah am Kopfende der Leiche, mögliche Blutspuren (Abb. 7). Diese waren von vorigen Untersuchern nicht bemerkt und daher auch nicht asserviert und DNA-typisiert worden.
Weitere blutverdächtige Anhaftungen wurden unter anderem an Hausschuhen in Frau Hartungs Schlafzimmer (Abb. 8) und an einem Lichtschalter am Aufgang zum 1. OG (Abb. 9) gefunden. Auch hier ist bislang unbekannt, ob und um wessen Blut es sich handelt, da niemand Geld für die Untersuchung zur Verfügung stellt.3
Messer: Bei der Hausdurchsuchung war zwar auffällig, dass an sehr vielen Stellen viele verschiedene Arten von Messern gefunden werden konnten, darunter auch an Magnethaltern sehr nah am Fundort der Leiche (Abb. 10). Jedoch war keins der von uns gefundenen Messer versteckt oder sonstwie (offensichtliches Blut, Sofaritze o. ä.) der Tat zuzuordnen. Eine andere mögliche Stichwaffe wurde also nicht sicher festgestellt. Allerdings stand auf einem Esstisch direkt neben der Leiche eine schwere Metall-Vase mit blutverdächtigen Anhaftungen (Abb. 11).
Geld: Wir fanden kein Bargeld (nicht einmal lose Pfennige oder Cent-Stücke), obwohl das Opfer erstens am Tag vor der Tat (zusammen mit der Tochter) tausend Euro abgehoben hatte und laut Frau Hartungs Aussage zweitens an mehreren Orten im Haus Bargeld versteckt haben sollte. Das gesamte Haus wurde von unserem Team mehrere Tage lang sehr gründlich durchsucht, ohne dass Geld, Schecks, EC-Karten oder ähnliches zum Vorschein kamen.
Experimente: Zur Nachstellung des Tathergangs wurde eine Kissenfüllung aus Schaumstoff mit Schweineblut getränkt, mit zusammenhängenden Schweinerippen bedeckt und eine Plastiktüte darüber gezogen. Die Bedeckungssituation wurde wie im Ermittlungsbericht beschrieben mit den Originaldecken auf dem echten Sofa hergestellt. Mit einem in Länge und Form dem Tatmesser ähnlichen Messer aus dem Tat-Haushalt wurde von einer 26-jährigen Frau mit ähnlicher Statur wie Frau Hartung versucht, 47 mal auf das „Modell" einzustechen. Obwohl die junge Frau sportlich war, musste sie nach etwa der Hälfte der geplanten Stiche wegen Erschöpfung abbrechen.
Es könnte sein, dass das verwendete Messer während der langen Nicht-Benutzung an Schärfe verloren hatte oder aus anderen Gründen besonders unscharf war. Es war aber auch mit weiteren, von uns neu gekauften Messern aus Messerblöcken mühsam, durch die Wolldecken und Steppdeckenschicht (synthetische Füllung) zu stechen, da eine Federwirkung von denselben ausging, die ein tiefes Ein-dringen des Messers bis zu den Rippen extrem erschwerte. Der oder die Täter/in muss also stark und zumindest in einem Arm sehr gut trainiert gewesen sein.
Die fehlenden Blutspritzer erklärten sich experimentell dadurch, dass das Messer bei jedem Herausziehen durch die Steppdeckenschicht regelrecht abgewischt wurde, so dass beim erneuten Heben des Arms Schleuderspuren ausblieben. So verblieben nahezu alle Blutanhaftungen in der Deckenfüllung (Abb. 12).
Mit einem neuen sehr scharfen Messer mit ähnlicher Länge wurde der Test dann von einer kräftigen männlichen Person wiederholt. Diese schaffte es zwar 47 mal zuzustechen, war aber ebenfalls anschließend sichtlich angestrengt. Es konnte mit diesem Versuchsaufbau gezeigt werden, dass unter Extrembedingungen auch die Rippen durchstochen werden können — wenn genug Kraft vorhanden und das Messer scharf genug ist.
Unsere weibliche Versuchsperson berichtete am nächsten Tag von starkem Muskelkater im gesamten Arm, der bei der verurteilten Frau Hartung nicht beobachtet worden war.
Abwaschreihe: In einer Abwasch-Serie wurden neu gekaufte Messer in Blut getränkt und nach unterschiedlich langer Trockenzeit abgewischt. Da das Tatmesser samt Blutanhaftungen im Messerblock gefunden wurde, das Gericht aber ausdrücklich ein Abwaschen angenommen hatte, sollte dieses Experiment zeigen, unter welchen Umständen nach Abwaschen einer Klinge noch erkennbare Blutanhaftungen sichtbar bleiben.
Wir bebluteten daher Messer aus einem neu gekauften Messerblock mit wenig frischem Schweineblut (Anschmierungen) und ließen diese dann stufenweise (eine Minute bis 25 Minuten) trocknen, bevor wir sie in Wasser tauchten und in den hölzernen Messerblock zurück zu stecken. Dabei zeigte sich, dass ein Messer vor Zurückstellen in den Messerblock mindestens zehn Minuten trocknen muss, um wie das Tatmesser nach dem Herausziehen noch mit dem bloßen Auge erkennbare Beschmierungen aufzuweisen. Andernfalls verblieb das Blut im Schlitz dieses Messerblockes.
Desweiteren stellte sich für uns die Frage, wie das Messer trotz massivster Gewaltausübung am Griff kein auswertbares DNA-Profil aufweisen konnte, das eindeutig einem Täter zuzuordnen war. Einzige mögliche Erklärungen unter der Annahme, dass es sich um das Tatmesser handelt: a) es wurde nicht das ganze Messer gründlich abgewaschen, sondern nur der Griff oder b) es wurden Handschuhe verwendet.
Was passierte danach?
Alle gefundenen Spuren und Asservate wurden von uns fotografiert, verpackt und versiegelt. Sie liegen bis heute bei uns im Labor. Ein umfassender Bericht wurde an Frau Hartung gesendet mit der Bitte um Anmerkungen zur weiteren Vorgehensweise. Es wurde ihr beispielsweise vorgeschlagen, die Blutantragungen typisieren zu lassen, um möglicherweise neue Personen in das Verfahren einzuführen.
Besonders interessant erscheint uns bis heute der Handschuh mit rötlichbraunen Antragungen, der zudem auch defekte Leder-Anteile (wie von Schnitten?) aufweist sowie das mögliche Blut auf der Tür-Klinke, beides aus der direkten Nähe des Kopfes der toten Person. Wir haben dennoch nie wieder etwas von der Sache gehört. Behördlich ist niemand zuständig, und die verurteilte Frau sowie ihre Angehörigen haben kein Geld mehr.
Gedanken im Nachgang
Frau Hartung wurde aufgrund von Indizienbeweisen – ohne objektive Spuren – zu 15 Jahren Haft verurteilt. Es gab keinen direkten Beweis für ihre Täterschaft oder eine Tatbeteiligung. Ihre bloße Anwesenheit in der Tatnacht, das angeblich „geschlossene" Haus, die theoretische Möglichkeit, die Tat begangen haben zu können, sowie das als bewiesen angesehene Motiv, sich von der dominanten Mutter befreien zu wollen, reichten für eine Verurteilung aus.
Da Indizienprozesse problematisch sein können4, fragten wir uns, ob es neben den neu entdeckten Spuren noch andere Hinweise darauf geben könnte, die den Fall verständlicher machen. Dabei stießen, wir, ohne dies in der Tiefe ausführen zu wollen, auf folgendes:
Muttermord ist bei Frauen ausgesprochen selten und wird nahezu ausschließlich bei Söhnen beobachtet; er geht meist mit Schizophrenie einher5. Ein zugezogener Sachverständiger (Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie) hatte keine Gelegenheit die Angeklagte zu untersuchen, weil Frau Hartung dies ablehnte. In der Hauptverhandlung sagt der Facharzt aus den Akten heraus, er habe keine konkreten Anknüpfungspunkte gefunden, die das Vorliegen einer Persönlichkeitsstörung belegen würden.
Eine Studie aus England6 beschäftigte sich mit Frauen, die ihre Eltern getötet haben. Es wurden 17 Elternmorde (14 Muttermorde, 3 Vätermorde) untersucht, die zwischen 1972 und 1986 begangen wurden. Die Täterinnen waren entweder im Gefängnis, einer Klinik oder einer regionalen Sicherheitseinheit. Sechs der Täterinnen waren schizophren, fünf hatten psychotische Depressionen, drei hatten Persönlichkeitsstörungen und eine war Alkoholikerin. Zwei der Täterinnen der Vatermorde hatten keine Persönlichkeitsstörungen, sondern rebellierten gegen einen gewalttätigen Vater.
Unabhängig von der psychiatrischen Diagnose lebten alle Muttermörderinnen als Single und waren sozial isolierte Frauen mittleren Alters, die allein mit ihrer dominanten Mutter in einer reziprok abhängigen, aber dennoch feindlichen Beziehung gelebt haben.
Frau Hartung war dagegen seit über 30 Jahren von zu Hause ausgezogen, lebte nach einer Scheidung seit 10 Jahren in einer festen Beziehung (Verlobung) und war beruflich und sozial als Lehrerin normal eingebettet. Sie kümmerte sich zwar ausgiebig um ihre Mutter, die auch auf viel Zuwendung bestanden hatte, es lag jedoch weder eine erkennbare gegenseitige Abhängigkeit vor, noch eine echte Feindschaft zwischen Mutter und Tochter. Sie hat während der gesamten Verhandlung geschwiegen, weswegen alle von ihr gemachten Aussagen durch die Ermittlungsbeamten eingeführt wurden. Dies wurde ihr vom Richter und der Staatsanwaltschaft nachteilig ausgelegt.
Der leitende Oberstaatsanwalt sagte aus Anlass seiner Verabschiedung aus seinem bisherigen Zuständigkeitsbereich später im regionalen Fernsehen auf die Frage, welcher Fall ihm besonders im Gedächtnis geblieben sei: „Der Muttermord in Amstein: In dem Fall werden Emotionen angesprochen. Markant war das unglückliche Verteidigungsverhalten dieser Lehrerin, jedenfalls aus der Sicht der Staatsanwaltschaft, so dass also aus meiner Sicht hier Gesichtspunkte nicht berücksichtigt werden konnten, weil sie von der Angeklagten nicht selbst vorgebracht wurden, die sie etwas mehr entlastet hätten".
Dies steht nach Meinung unserer Auftraggeber im Gegensatz zur Unschuldsvermutung, nach der der Angeklagte nicht seine Unschuld, sondern die Strafverfolgungsbehörde die Schuld beweisen muss. Der Schuldbeweis ist aus unserer sehr fachspezifischen (objektive Spuren), unjuristischen Sicht in der Tat nicht er-bracht worden, sondern im Gegenteil: aussagekräftige Sachbeweise, nämlich die Analyse der DNA Spuren, deuten bisher vielmehr auf eine Nicht-Beteiligung an der Tat hin: Abwesenheit von Frau Hartungs DNA an der Leiche und der Tatwaffe, in Fragmenten männliche DNA am Griff der Tatwaffe, Abwesenheit der DNA des Opfers an Fingernägeln und Kleidung von Frau Hartung sowie keinerlei Faserübertragung zwischen Opfer und Angeklagten.
Eine Nachtypisierung der am Messergriff abgeriebenen Spuren könnte heute eventuell ein vollständigeres Profil liefern und sowohl auf Übereinstimmungen mit Profilen der DNA-Datenbank des BKA als auch auf Übereinstimmungen mit Personen aus dem näheren Bekanntenkreis abgeglichen werden. Es könnten auch die rötlich-braunen Spuren an den von uns gefundenen Handschuhen getestet werden; bei positivem Ergebnis könnte sodann eine DNA-Typisierung des Blutes sowie des Inneren des Handschuhs durchgeführt werden. Die Handschuhe und weitere Blutantragungen auf einer Türklinke wurden zudem an Stellen gefunden, die nicht auf dem laut Urteil von Frau Hartung genommenen Weg von ihrem Schlafzimmer zum Opfer und wieder zurück lagen. Hier wäre ein Typisierung des Blutes an der Türklinke also auch wünschenswert.
Auch unser Abwaschexperiment wirft Fragen zu dem im Urteil angeführten Tatablauf auf. Wenn tatsächlich bis zu zehn Minuten vergehen müssen, bis trotz Abwaschen des Messers noch Blutreste an der Klinge haften, was ist in den zehn Minuten geschehen? Hat vielleicht der Täter nach etwas gesucht? Eventuell nach 1000 Euro, die seit der Tatnacht spurlos verschwunden sind?
Ein weiteres Indiz für das Gericht war der Fund des Tatmessers in der Speisekammer, die an das Badezimmer angrenzt und durch eine verspiegelte Tür geschlossen werden kann. Diese Tür war geschlossen, als die Polizei die Wohnung durchsuchte. Daher ging das Gericht davon aus, dass ein Fremder die Tat nicht begangen haben kann, da er die Tatwaffe dort nächtens nicht gefunden haben könnte. Bekannte und Besucher der Familie wussten jedoch nach eigenen Angaben von der Kammer, deren Tür nahezu immer offen gestanden habe, so dass nicht Frau Hartung allein die erforderlichen Tatortkenntnisse besaß. Zudem drängt sich die Frage auf, wie die Polizei ein Wirken Dritter am Tatort ausgeschlossen hat, da sie nicht nach Fingerspuren unberechtigter Personen gesucht hat.
Lediglich angeblich fehlende Einbruchspuren führten zu diesem Schluss. Jedoch hatte ein Bekannter, der am Tattag noch im Haus war, auch einen Schlüssel für den Garten. Was, wenn die Hintertür vom Garten ins Haus doch nicht von Frau Hartung am Morgen auf dem Weg zum Arzt geöffnet wurde, sondern von einer anderen Person, die den Schlüssel besessen hatte, beispielsweise um die zeitweise nachweislich mit Nachbarn gemeinsam benutzte Mülltonne im Garten zu erreichen?
Zudem war allen Bewohnern des Dorfes bekannt, dass unter der Jalousie der Haupt-Eingangstür der Türschlüssel griffbereit lag — man musste sich noch nicht einmal bücken, um an ihn zu gelangen. Sinn dieser Bereitstellung war, dass die jetzt tote Person sich über Besuch sehr freute, aber gehbehindert war und daher die Tür nicht zügig selbst erreichen konnte.
Schluss
Die zu Verurteilung führende Indizienkette scheint uns als reinen Spurenkundlern merkwürdig. Der deutliche Mangel an Sachbeweisen hat das Gericht aber nicht in seiner Überzeugung über die Täterschaft von Frau Hartung erschüttert.
Auf uns als Naturwissenschaftler wirkt die Indizienkette eher wie eine Hinweiskette. Das einzige Indiz, das für eine Tatbeteiligung spricht, ist die Anwesenheit von Frau Hartung am Tatort. Die weiteren vom Gericht genannten Indizien, wie die dominante Mutter, die Streitigkeiten wegen Belanglosigkeiten und die Ablehnung des italienischen Verlobten durch die Mutter sind aus spurenkundlicher Perspektive bloß die Auslegung subjektiver Beobachtungen und eher als Hinweise zu werten.
Jeder, der mehrere Jahre in einem ähnlich kleinen Örtchen gelebt hat, wie dem, in dem die Tat passiert ist, kennt auch die Dynamik, die der Meinungsbildung zugrunde liegt, etwa die starke gegenseitigen Beeinflussungen durch Tratsch sowie die Sticheleien, die eine allein lebende 80-jährige Frau eventuell gegenüber Nachbarn und Verwandten über die einzige nahe Angehörige, v. a. wenn sie weit entfernt lebt, äußern kann.
Es ist dennoch keineswegs ausgeschlossen, dass Frau Hartung die Tat begangen hat. Auch sind unsere Auslegungen der Hinweise nicht die einzig möglichen.
Jedoch zeigt sich in diesem speziellen Fall, dass die Bewertung der Indizien hier unnötig und überstark im Auge des Betrachters liegt. Aus unserer juristischen Laiensicht zeigt der Fall, dass objektive Sachbeweise entgegen populärer Annahmen („C.S.I.-Effekt") noch immer ungenügend gewürdigt werden7 und dabei Verurteilungen mit langen Haftstrafen entstehen können, die für Laien, aber auch naturwissenschaftliche Kriminalisten nicht leicht nachvollziehbar sind.
Dank
Das Team bestand (alphabetisch) aus den Autoren sowie Julia Gehrisch, Maria Geppert, Birgit Klesser und Martin Pal.
Mail-Kontakt: forensic@benecke.com
Anmerkung der Redaktion: Die Falldarstellungen werden in der nächsten KRIMINALISTIK mit Teil 2 und Teil 3 fortgesetzt.
Anmerkungen
1 Nur unter der Voraussetzung neuer entlastender Beweise kann eine Wiederaufnahme des Verfahrens erzielt werden.
2 Hämastix (3,3',5,5'-Tetramethylbenzidin/Diisopropylbenzoldihydroperoxid)
3 Der Verlobte von Frau Hartung hat seine gesamten Ersparnisse zugunsten seiner Verlobten für Anwälte ausgegeben.
4 Erich Sello: Die Irrtümer der Strafjustiz und ihre Ursachen. Erster Band: Todesstrafe und lebenslängliches Zuchthaus in richterlichen Fehlsprüchen neuerer Zeit. Decker/Schenck, Berlin, 1911; Fritz Roth: Ein Justizirrtum? Der Giftmordprozeß Riedel-Guala. Aus den Dokumenten für seine Revision. Zürich, Leipzig, Orell Füssli, 1929; Rolf Boss/Friedhelm Werremeier: Ich fordere Recht. München, Gütersloh, Wien, Bertelsmann 1975; Helmut Ortner: Zwei Italiener in Amerika: Der Justizmord Sacco und Vanzetti. Rastatt, Moewig, 1988; Michael Farin: Heroine des Grauens: Elisa-beth Bathory. München, Kirchheim, 1989.
5 Bluglass R (1979) The psychiatric assessment of homicide. Br 1 Hosp Med 22:366-77; Chiswick D (1981) Matricide. Br Med i 283:1279-80.
6 d'Orban PT, O'Connor A (1989) Women who kill their parents. Br J Psychiatry 154:27-33. 7 Die Gründe dafür könnten teils mangelhaft - teils nur drei Stunden lang - spurenkundlich geschulte Beamten vor Ort, die juristische Notwendigkeit, auch Abstracta als Tatsachen aufzufassen oder vor Gericht keine neuen Anträge zu genehmigen sowie schlicht finanzielle und zeitliche Not sein. All dies ist nicht Gegenstand unseres Fallberichtes.