Der Schatz der Wahrheit

Quelle: Bauwerk — ein Magazin der LIST-Gruppe zum Thema 'Schätze', Heft 3/ 2022

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Mit dem Kriminalbiologen Dr. Mark Benecke auf Spurensuche

Von Mark Benecke

Bei Sherlock Holmes finden sich alle kriminalistischen Regeln, die ich bei meiner Arbeit anwende. Das wichtigste Prinzip von Holmes ist: Erst wenn man alles ausgeschlossen hat, was nicht sein kann, muss das, was übrig bleibt, stimmen. Egal wie unwahrscheinlich es ist. Als Forensiker:innen sind wir immer vor Ort, müssen alles selbst sehen und untersuchen, wir verlassen uns nicht auf die Intuition, weil wir wissen: Jeder Mensch ist zu allem fähig und du kannst keinem etwas glauben – niemandem. Man sollte nie fragen, was wahrscheinlich oder lebensnah ist, sondern sich an die Spur und den objektiven Befund halten, sonst findet man die Wahrheit nicht heraus.

Mein Job ist nicht alltäglich. Ich arbeite in Umgebungen, die sich für die meisten Menschen ganz furchtbar anfühlen würden, weil sie furchtbar aussehen oder riechen und weil möglicherweise etwas Furchtbares passiert ist. Ich untersuche Leichen, sichere Spuren, spreche mit Angehörigen von Gewaltopfern und treffe Serienmörder. Ich bin öffentlich vereidigter und bestellter forensischer Gutachter.

Jede:r kann mich buchen, auch die Polizei, die Staatsanwaltschaft oder ein Gericht. Mich beauftragen Menschen, die glauben, dass ihr Kumpel zu Unrecht im Knast sitzt. Auch sie können mich anrufen, wenn sie beim Campen morgens neben einer Leiche aufwachen und ihre Unschuld beweisen müssen.

In Ermittlerkreisen gelten meine Kolleg:innen und ich oft als Nerds, Freaks oder Sonderlinge. Sachlich betrachtet gehen wir einem mies bezahlten Scheißjob nach, kennen keinen Feierabend und arbeiten mit allerhand siffigen Dingen. Und während eine normale Polizistin oder ein Polizist für das Gute kämpft und die Welt vor dem Bösen beschützen will und soll, hat uns das alles nicht zu interessieren. Dennoch oder gerade deswegen übe ich meinen Beruf sehr, sehr gerne aus. Die Arbeit ist ruhig und klar. Mich interessieren nicht nur die spektakulären Fälle, sondern auch die kleinen, unscheinbaren Rätsel. Für mich ist jeder Fall neu, anders und auf die eine oder andere Weise überraschend. Wenn ich nicht jeden neuen Fall mit der gleichen kindlichen Neugier betrachten würde, wäre ich im falschen Beruf.

Am Tatort kann alles interessant sein.

Viele Verurteilte bitten mich, zu beweisen, dass sie unschuldig sind. Es gibt viele Irrtümer in der Strafjustiz. Das liegt daran, dass man sich oft nicht vorstellen kann, dass es anders war. Das zeigt ein Beispiel, das schon in einer Geschichte von Sherlock Holmes vorkommt: Die Tür von dem Raum ist geschlossen und es gibt entweder überhaupt keine oder nur eine einzige Erklärung. Dabei gibt es ein Loch in der Wand, durch das etwas passiert ist. Wenn man es aber nicht für möglich hält, dass dort ein Loch in der Wand ist, weil es dort nicht hingehört oder man es sich nicht vorstellen kann, hat man schon verloren. Man muss die richtigen Spuren finden und lesen.

Meist untersuche ich also ungewöhnlich wirkende Todesfälle. Dazu schaue ich mir die Leiche an und untersuche deren Spuren: Blut, Sperma, Urin, Kot, Mageninhalt und Insekten. Das geht oft auch ohne Leiche. Dabei richte ich meinen Blick nur auf die messbaren Spuren – eine einzige Hautzelle oder eine winzige Blutspur reichen schon aus. Ich führe auch genetische Fingerabdrücke und Blutspuranalysen durch. Für die Arbeit muss man eine Vorliebe für Besonderheiten haben, wobei mögen allein nicht reicht. Man muss eine echte Vorliebe dafür haben.

Jede scheinbar langweilige Einzelheit kann der entscheidende Schatz sein. Anhand der Lebensgewohnheiten, des natürlichen Lebensraums und des Alters von Insekten recherchiere ich zum Beispiel, wie lange eine Leiche von Insekten besiedelt wurde oder wo sie lag.

Fliegen oder Maden an der Leiche oder auch im Umfeld geben zum Beispiel Aufschluss darüber, ob eine Leiche etwa längere Zeit in einem Haus lag und eben nicht an dem Ort, wo sie dann letztlich gefunden wurde. Zudem lässt sich so auch feststellen, wann der Teppich, in den eine Leiche eingewickelt war, zusammengerollt wurde.

Wichtig ist, was wirklich passiert ist.

Früher bin ich fast täglich an die Tatorte gegangen. Heute mache ich das seltener, da ich vor allem Gutachten und Analysen erstelle. Manchmal schaue ich mir auch jahrzehntealte Spuren an. Im Prinzip kann man auch 200 Jahre nach einer Tat noch Spuren finden. Wenn beispielsweise zusammen mit einer Leiche in einem Plastiksack auch eine Markusmücke verpackt und vergraben wurde, kann man nach zehn oder 20 Jahren immer noch die tierischen Reste und die Jahreszeit des Vergrabens untersuchen.

Viele Tiere leben nur in bestimmten Monaten oder Lebensräumen. So kann man die Jahreszeit bestimmen oder im günstigsten Fall den Todeszeitpunkt bis auf die Stunde genau eingrenzen. Gerechtigkeit kann ich mit meiner Arbeit nicht herstellen. Ich glaube auch nicht, dass es so etwas wie Gerechtigkeit gibt. Stattdessen kämpfe ich für die Wahrheit. Die gibt es: Ob eine Spur vorliegt oder nicht, das kann ich messen. Für mich ist wichtig, was wirklich passiert ist. Und wenn das andere Menschen ebenfalls interessiert, freut mich das.

Du hast nur, was du dokumentierst.

Ungewöhnliche Leichenerscheinungen können experimentell oft gut überprüft und verglichen werden. Diese Vorgehensweise benötigt mitunter Zeit, die nicht immer bei der Fallbearbeitung vorhanden ist. Allerdings können so Denkfehler vermieden und weitere wichtige und zu berücksichtigende Einflüsse oder auch neue Denkrichtungen aufgezeigt und durch Experimente geprüft werden. Dies erhöht die Aussagekraft, auch später vor Gericht.

Es gibt immer wieder Fälle, bei denen jemand unschuldig verurteilt wurde, obwohl klar ist, wer die Täterin oder der Täter ist. Die Aufklärung dieser Fälle scheitert daran, dass Spuren nicht ordentlich gesichert oder untersucht wurden. Das ärgert mich, zumal es ein Problem ist, das lösbar wäre. Das Wichtigste am Tatort ist, dass alles sofort dokumentiert wird. Ich hätte lieber eine Welt ohne Verbrechen, und wenn ich verstehe, wann, wie und warum eine Tat geschehen ist, können wir alle vielleicht die nächste und übernächste Tat verhindern. Mit mehr Untersuchungen würde man mehr über den Tathergang verstehen. Dann könnte man Prävention betreiben und wirklich etwas tun gegen Gewalt und Kriminalität.

Ich bin Wissenschaftler und verwende zwangsläufig Methoden wie Sherlock Holmes, aber ich möchte kein Unterhaltungskünstler sein. Ab und zu bekomme ich Angebote von großen Managementagenturen, die mir anbieten, aus meinen Veranstaltungen Shows für Tausende Zuschauer:innen zu machen – in großen Hallen und mit viel Hokuspokus. Aber so bin ich nicht und bleibe daher lieber bei Menschen, die nicht den Nervenkitzel suchen, sondern Spaß an Spuren und der Wahrheit haben.

An jedem Tatort verstecken sich die Spuren der Wahrheit.

Ich werde oft gefragt, ob ich mich vor etwas ekele. Ja, ich ekele mich sehr vor Haaren im Abfluss. Und mit Fleisch kann man mich jagen: Ein Kotelett ist eine Leichenscheibe mit Leichenknochen, Gulasch besteht aus Leichenmuskelwürfeln und eine Wurst ist reichlich Leichenfett in Leichendarm. Je länger ich mit Tieren arbeite, desto größer ist mein Respekt vor ihnen geworden. Häufig werde ich auch gefragt, wie ich das alles aushalte und wie es sich anfühlt, einer Arbeit nachzugehen, bei der es vorwiegend um den Tod in all seinen Ausprägungen geht. Für mich ist das alles ganz normal. An einer toten Person finde ich nichts Abstoßendes, egal, welche Farbe die Haut nach ein paar Tagen Liegezeit haben mag und wie viele Schmeißfliegen sich auf ihr schon niedergelassen haben. Denn das sind Hinweise aus einer Welt, die wir leicht übersehen, geheime Spuren im Offensichtlichen. Einen Tatort empfinde ich vielleicht deshalb nicht als ekelig, weil dort für mich tiefer Friede herrscht.

Es gibt keine Tat oder Interaktion ohne Spurenübertragung. Aber einfach nur nach irgendwelchen Spuren zu suchen, reicht nicht aus. Wichtig ist es, nach kriminalistischen Prinzipien vorzugehen, die bereits Sherlock Holmes angewandt hat. Erstens: Man soll nicht von Annahmen ausgehen. Das leitet eine kritische Einzelfallbetrachtung ein, denn dann nehme ich nicht an, dass diese Situation vergleichbar ist mit einer anderen Situation. Dadurch ist man gezwungen, sich vor Ort alle Details anzusehen. Zweitens gilt: Egal wie nebensächlich etwas ist, es ist trotzdem wichtig. So ist das zum Beispiel bei einer Faserspur. Drittens, das Wichtigste, wie bei Sherlock Holmes, ist das Ausschlussprinzip: Man muss durch Beweise, nicht durch Denken, all das ausschließen, was nicht sein kann. Dann muss das, was übrig bleibt, stimmen, egal wie unwahrscheinlich es ist. Und auf Basis dieser Prinzipien versuche ich mich auf meine Art dem Schatz der Wahrheit zu nähern.


Der reverse C.S.I.-Effekt – Teil 1

Kriminalistik, 2010


Der reverse C.S.I.-Effekt – Teil 2 & 3

Kriminalistik, 2010


Mind your decompositional assumptions

Forensic Sciences 2022