Geilenkirchener "Bar-Mord"

2007-10-06
Quelle: Aachener Zeitung, 6. Oktober 2007, S. 5, Region Rhein-Maas


"Ich arbeite nur im Dienst der Wahrheit"
Der Kölner Kriminalbiologe Dr. Mark Benecke zur Wiederaufnahme des Verfahrens gegen Klaus Günter S. aus Geilenkirchen

KÖLN/AACHEN. Der Tatort: "Nadias", ein Nachtlokal mit Bordellbetrieb in Geilenkirchen-Niederheid. Die Opfer: zwei Männer, ein Niederländer und ein Kanadier. Der Täter: Der Barbesitzer Klaus Günter S. Das Motiv: Eifersucht. Das Urteil: Einmal Mord, einmal Totschlag - lebenslänglich mit einer besonderen Schwere der Schuld. All das ist nun über zehn Jahre her. Im Aachener Landgericht wurde der Prozess 1997 unter schärfsten Sicherheitsvorkehrungen verhandelt. Leibesvisitationen, Schleusen, Sondereinsatzkommandos waren an der Tagesordnung. Nun ist alles hinfällig. Klaus Günter S. könnte in wenigen Wochen ein freier Mann sein.
Nach gescheiterten Wiederaufnahmeversuchen hat S.' Anwalt Norbert Hack aus Eschweiler Verfassungsbeschwerde eingelegt. Mit dem Ergebnis, dass das Bundesverfassungsgericht wegen Verfahrensfehlern sämtliche Urteile aufgehoben hat und der Prozess am Landgericht Köln neu verhandelt werden muss. Die ersten beiden Anhörungen sind für den 10. und 15. Oktober angesetzt. Als einer der Sachverständigen, die Beweise liefern wollen, dass es kein Mord, sondern Totschlag war, ist auch der aus dem Fernsehen bekannte Kriminalbiologe Dr. Mark Benecke geladen - auch bekannt als "Madendoktor". "Wir haben herausgefunden, dass der erste Schuss nicht in den Rücken ging, also keine Heimtücke, das heißt wiederum kein Mordmerkmal besteht", erklärt der 37-Jährige im Gespräch mit unserer Redakteurin Sabine Kroy.

Herr Dr. Benecke, macht es ihnen eigentlich nichts aus, einem 1996 als Mörder verurteilten Mann zu helfen?
Mir ist es egal, wer jemand ist. Ich helfe auch niemandem persönlich. Ich arbeite nur im Dienst der Wahrheit - also weder für die Dicken noch für die Dünnen, weder für die Gladbacher, noch für die Aachener. Welches Schicksal hinter einem Fall steht, geht mich nichts an. Ich arbeite mit Priestern, Vergewaltigern, Vampiren, Nebelgeistern und Rechtsanwälten. Die sind, wie sie sind, die Leute ... Mein Maßstab sind nicht die Schicksale, sondern die Wahrheit - sonst nichts.

Sie sind bekannt aus Fernseh-Serien wie "Medical Detectives", "Autopsie","SK Kölsch" und"Richterin Barbara Salesch". Wie kommen Sie zu einem unspektakutären Fall wie dem des Klaus Günter S. aus Geilenkirchen?
Die Schwester von Klaus S. kam auf mich zu. Der Fall ist auch nicht unspektakulär: Für mich sind alle Fälle gleich interessant. Privataufträge übernehme ich als öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger sowieso immer gerne, das macht mir Spaß. Man kann sich das vielleicht so vorstellen: Wenn es im Roman irgendwo nicht mehr weitergeht, gehen die Menschen zu Sherlock Holmes. Ich vergleiche mich natürlich nicht mit Holmes, aber ähnlich ist es schon: Wenn eine Blockade im System ist, kommen die Auftraggeber zu mir - aus jeder Bildungsschicht und mit jeder Art von Todsünde. Die Geschichten und Gerichtsurteile, die diese Leute mitbringen, können auf Fehlannahmen beruhen - oder auch nicht. Die Schwester von Klaus Günter S. hat jedenfalls was drauf: Sie lieferte stets sachliche Argumente.

Was ließ Sie an der Richtigkeit des Urteils zweifeln?
Die Schussreihenfolge. Das hat S. offenbar auch am meisten geärgert. Wie sie in der Urteilsbegründung steht, ist sie tatsächlich falsch. S. ist so gestrickt, dass er nicht im Knast vergammeln will. Er sagt: Es war auf keinen Fall Mord. Er findet das Urteil total ungerecht.

Alte vorherigen Urteile sind mittlerweile aufgehoben, so dass der Fall von Klaus S. komplett neu verhandelt werden muss. Wie haben Sie das erreicht?
Wir haben nur bewiesen, dass der erste Schuss nicht in den Rücken abgegeben wurde, so dass das Mordmerkmal der Heimtücke wegfällt. Das Opfer Peter H. muss nach dem ersten Schuss noch gestanden haben. Das wäre nicht möglich, wenn der erste Schuss den Rücken mitsamt Wirbelsäule getroffen hätte. Um den Aachener Rechtsmediziner Dr. Achim Schäfer zu zitieren: "Das ist, als wenn man vom Elefanten getreten wird." Außerdem ist das Blut nicht auf die Theke gespritzt, sondern getropft. Das heißt, dass das Blut nicht von der niedrig gelegenen Rückenschusswunde kommen kann. Es muss ausgehustet worden sein, und zwar infolge des Lungenschusses: Das Projektil trat dabei durch den Arm in den Brustkorb ein. Dadurch lief Blut in die Lunge und löste einen Hustenreflex aus.

Wie haben Sie das getestet?
Zusammen mit meiner Assistentin Saskia Reibe habe ich Experimente bei mir im Flur gemacht, wo wir die Theke nachgebaut hatten. Mit verschiedenen Elementen haben wir dann auf Blutbeutel und -lachen eingeschlagen und uns die entstehenden Blutspritzer angeschaut. Am Tatort fand man übrigens noch Glassplitter auf dem ausgehusteten Blut. Das bedeutet, dass der Schuss, der den Spiegel unter der Decke zerstört hat, nach dem Arm/Brustschuss abgegeben worden sein muss - sonst lägen die Spiegelscherben nicht auf dem Blut. Das heißt zugleich, dass der Rückenschuss auf keinen Fall der erste gewesen sein kann.

Sie waren sogar, um den Tatort exakt rekonstruieren zu können, in Geilenkirchen in dem Nachtlokal?
Ja, wir haben dort schon sehr früh den Thekenraum vermessen, beim zweiten Mal sogar mit Laser. Der zerschossene Spiegel unter der Decke ist immer noch da, nur das Projektil wurde leider von irgendwem unschön herausgeprokelt. Das ist wie im Wilden Westen da, und ich war sehr erleichtert, dass die neuen Besitzer des Ladens uns Zugang gewährt haben. Wir haben uns also umgeschaut: Was kann man überhaupt wahrnehmen, wie viel versperrt die Sichtblende? Wie schummerig ist das Licht, für wie viele Personen ist Platz im inneren Thekenbereich?

Aber es hieß doch auch immer, dass S. den Tatort verändert haben soll. Sind die Beweise dann überhaupt stichhaltig?
Die mögliche Einwirkung von Polizei, Rettungsdienst und Herrn S. auf den Fundort hat unsere Arbeit zumindest nicht behindert.

Die Beweise scheinen tatsächlich gereicht zu haben. Das Verfassungsgericht hat die Urteile aufgehoben.
Das Verfassungsgericht hat in den bisherigen Verfahren Fehler erkannt. Dem Aachener Gericht war offenbar die Heimtücke besonders wichtig. Wir zeigen, dass der erste Schuss eben nicht in den Rücken gegangen ist und das Opfer also wohl nicht arglos war.

Sie sind zu den Terminen beim Landgericht Köln als Sachverständiger geladen. Wäre die ganze Arbeit für die Katz', falls das Gericht die Beweise nicht anerkennt?
Nein, das ist mir völlig egal. Na gut, das ist das falsche Wort. Aber ich bin letztlich nur der Mann für die Spuren und die Tatortrekonstruktion. Für mich gibt es kein Ziel außer der reinen, schon fast autistischen Wahrheitsfeststellung. Wie das Gericht urteilt, ist für mich irrelevant, weil Wahrheit und Gerechtigkeit zwar verschwägert, aber sicher nicht blutsverwandt sind.


In Geilenkirchen, so sagt man, sähen viele Menschen S. lieber hinter Gittern.
Wenn S. nur noch wegen doppelten Totschlags verurteilt werden würde, wäre er wegen der langen bisherigen Haft im Prinzip ein freier Mann. S. weiß bestimmt, dass er sich nichts erlauben kann. Es gibt unabhängig davon natürlich in jedem Fall Vorhänge, die man noch aufziehen kann. Bei S. gibt es vielleicht auch welche. Ich halte Mutmaßungen aber grundsätzlich für ganz trübe Leitsterne. Mir sind klare und objektive Beweise lieber.