Quelle: Stern Nr. 44, 22. Okt. 2020, Abt. Wissen, Seiten 12 und 84—89
Biologe Mark Benecke veröffentlicht eine großartige Hommage an Alfred Brehms "Thierleben". Hier erzählt er von sprechenden Katzen, Schaben als Haustieren und gelangweilten Kraken.
Interview: Kerstin Hellberg – Zeichnungen: Kat Menschik
Das Buch, das Sie mit der Illustratorin Kat Menschik herausgeben, ist eine Hommage an Alfred Brehms „Illustrirtes Thierleben“ aus dem 19. Jahrhundert.
Mark Benecke: Und an viele andere, wunderbare, aber vergessene Tierbücher.
Braucht es in Zeiten von Wikipedia noch gedruckte Nachschlagewerke?
Viel altes Wissen wird nie in Wikipedia landen, weil kauzige Forscher keine Lust haben, sich in die Internet-Enzyklopädie reinzufuchsen. Außerdem halten sie es für unnütz, ihr Wissen außerhalb von Fachkreisen zu publizieren. Ein schönes Beispiel war die Tagung der Fliegenkundlerinnen und Fliegenkundler, auf der ich vor zwei Jahren in Namibia zu Gast war. Da wurde eine Enzyklopädie über tropische Fliegen vorgestellt, an der Forscherinnen und Forscher 15 Jahre gearbeitet hatten. Die gab es nur gedruckt.
Was war das Besondere an Alfred Brehm?
Einiges. Er hatte einen Löwen als Haustier, der im Garten lebte. Er berichtete als einer der ersten gleichberechtigt über wirbellose Tiere. Würmer, Schnecken, Käfer, Muscheln, Quallen galten damals noch als niedere Tiere. Und dann ist es lustig, wie sehr Brehm einige Tiere gehasst hat. Kamele, Schafe und Krokodile hat er in seinen Texten regelrecht gehatet.
Mir fallen da auch ein paar ein: Nacktschnecken und Mücken etwa. Als Biologe liegen Ihnen natürlich alle Lebewesen am Herzen. Muss ich auch alle lieben?
Lieben nicht, aber respektieren. Alle Lebewesen stehen in einem Austausch der Kalorien, und jedes einen Knotenpunkt in dem, für uns alle, so wichtigen Netzwerk darstellt. Also: Spinne raustragen.
Mein Kater miaiut unterschiedlich, je nachdem, ob er raus will, Hunger hat oder einfach nur im Vorbeigehen grüßt. Habe ich eine Meise?
Sie haben eine Katze. Und die verstehen Sie offenbar recht gut. Haustiere passen sich enorm an, sie versuchen, so zu kommunizieren, wie sie es beim Menschen beobachten — egal wie komisch sie uns dafür finden. Das ist wie mit dem beschämten Blick der Hunde.
Sie meinen den Hundeblick?
Ja, der von unten nach oben aus geguckter Körperhaltung mit leicht schräg gestelltem Kopf. Hunde finden heraus, dass Menschen diesen Blick lieben. Und weil sie alles tun, um ihre Herrchen und Frauchen glücklich zu machen, kriegen die oft diesen Blick geschenkt. Mit Scham hat das nichts zu tun, Hunde empfinden keine. Aber der Mensch denkt sie da rein und verzeiht dem Hund, auch wenn er nichts verbrochen hat.
Ein Leben ohne Mops ist möglich, aber sinnlos, hat Loriot behauptet. Brehm dagegen meinte: „Der Mops ist dumm, langsam, phlegmatisch.“ Und wer hat nun Recht?
Biologinnen und Biologen verabscheuen überzüchtete Tiere. Für sie ist es ein Horror, dass Hunde wegen des Kindchenschemas hochgradig missgebildet sind. Mit ihren viel zu kurzen Nasen können Möpse nicht mehr richtig atmen. Ihre Schädel erinnern an schlechte Alienfilme. Das ist alles andere als süß.
Warum wird das nicht verboten?
Weil es den Menschen scheißegal ist, wie Tiere leiden. Sonst würde auch niemand mehr Eier essen oder Federbetten kaufen.
Essen Sie Tiere?
Nein, natürlich nicht.
Selbst die Veggies unter den Tieren nagen gerne an Knochen. Braucht der Mensch doch Fleisch?
Tiere kommen nur so an bestimmte Mineralien und Vitamine ran. Wir Menschen haben dafür genügend Quellen. Nicht mal mehr Vitamin B12 ist ein Problem. Das ist überall zugesetzt, nicht nur in Hafermilch.
Sie berichten, dass sich Stare nicht nur liebevoll um den Nachwuchs kümmern und in Not geratenen Artgenossen zur Hilfe eilen, sondern auch Meister der Imitation sind. Am Berliner Alexanderplatz haben Sie Seltsames beobachtet.
Die Vögel machten das Geräusch der U-Bahntüren nach.
Was haben sie davon?
Sie üben ihre Kunst des Lautnachmachens, so wie Löwenbabies, Hundewelpen und Kinder beim Spielen ihre Fertigkeiten trainieren.
Ich beobachte immer mehr Krähen in den Städten.
Viele Vogelarten werden wegen der überstarken Landwirtschaft aus ihrem Lebensraum verdrängt. Die Städter freuen sich und meinen, ihr Umfeld würde artenreicher werden.
Dachte ich auch, als neulich ein Grünspecht in meinem Garten saß.
Auch in den Städten bleibt ihnen bald keine Nische mehr zum Überleben. Alle Brachen werden bebaut, jede Baulücke geschlossen, jede Ritze versiegelt. Nachtigallen, Amseln und Stare werden bald alle weg sein. Den Spatz hat es schon erwischt, den sieht man kaum noch.
Sie ziehen gerne Analogien zwischen dem tierischen Verhalten und dem menschlichen, etwa zwischen einem Candle-Light-Dinner und dem Blutkuss der Fledermaus.
Einige Fledermausarten würgen Blut hoch und übergeben es bei einer Art Kuss. Auch sonst ist es im Tierreich weit verbreitet, dass das Männchen dem Weibchen ein Brutgeschenk macht. Damit zeigt es, dass es das Weibchen versorgen kann und eine Familie ebenso. Da sehe ich schon Ähnlichkeiten. Es ist immer noch verbreitet, dass ein menschlicher Mann eine Frau zum Essen einlädt, im Restaurant zahlt, einen Champagner springen lässt bei Kerzenschein. Er zeigt sich damit als Versorger.
Im Tierreich gibt es alles, was es beim Menschen auch gibt, selbst queere Paarungen. In Sachen Fortpflanzung macht das keinen Sinn. Hat es trotzdem einen?
Ja, einen sehr großen sogar. Weil queere Tiere keinen Nachwuchs haben, übernehmen sie wichtige Aufgaben für die Gemeinschaft: Sie spähen Feinde aus, versorgen die Gruppe, kümmern sich um Waisen. Sie sind so etwas wie Onkel, Tanten oder Paten.
Haben Sie Haustiere?
Ja, Fauchschaben. Die leben im Terrarium und kommen prima ohne mich aus. Ich bin ja viel auf Reisen, und ich möchte auch kein Tier von mir abhängig machen.
Ihr Lieblingstier?
Kraken finde ich super. Mit denen habe ich während des Studiums in Irland gearbeitet. Schon klasse, was die so können, wenn die sich auf Menschen einlassen.
Zum Beispiel?
Wenn sie Tinte spucken, ist ihnen langweilig. Wir haben überlegt, womit wir sie unterhalten können, und ließen sie ein Gläschen mit Leckereien aufschrauben. Irgendwann sind wir auch draufgekommen, warum nachts immer mal Krabben verschwanden, mit denen wir sie fütterten. Da ist ein Krake aus dem Becken geklettert, auf seinen Armen zum Krabbenbehälter gelaufen, rein geklettert und hat sich welche genommen. Nicht aus Hunger, sondern vielleicht, um uns zu foppen.
Was macht eigentlich den Menschen zum Tier?
Ich würde es umdrehen: Es gibt nichts, was den Menschen zum Menschen macht, außer, dass er sich viel zu wichtig nimmt. Unsere Begabung zur Vernunft ist durchaus messbar. Aber wir verwenden sie nicht sinnvoll. Überlegenheit leitet sich daraus nicht ab. Im Gegenteil: Wir tun alles dafür, Arten, Umwelt und Klima zu zerstören und sogar uns selbst die Lebensgrundlage zu entziehen.
Seit Jahren beklagen wir das Insektensterben. Warum passiert nichts zu ihrem Schutz. Sind sie einfach nicht niedlich genug?
Niedliche Tiere werden doch auch nicht geschützt. Kaninchen und Affen werden für Tierversuche missbraucht, Schweine, Kühe und Lämmer gegessen. Es ist einfach diese Scheißegalhaltung. Die trifft übrigens auf das gesamte Artensterben zu. Es verschwinde ja nicht nur Insekten, sondern auch Amphibien und andere Wirbeltiere. Das Artensterben ist die größte Katastrophe der Menschheitsgeschichte. Eine vergleichbare fand zuletzt statt, bevor es Menschen gab: das Aussterben der Dinosaurier.
Als Sachverständiger für biologische Spuren helfen Sie bei der Aufklärung von Verbrechen. Eines Ihrer Spezialgebiete ist die forensische Entomologie, die anhand von Fliegeneiern oder -maden Todeszeitpunkt und -Ort eingrenzen kann. Macht sich das Insektensterben auch auf den Leichen bemerkbar, die Sie begutachten?
Total! Ich beobachte seit der ersten Hitzewelle 2003, dass es auf Leichen, die im Freien gefunden werden, viel mehr Wespen als Fliegen gibt.
Was macht die Wespe zum Krisengewinnler?
Sie kommt besser mit der Hitze zurecht, und wir erleben ja ein Hitzerekordjahr nach dem anderen.
Als Argumente gegen mehr Umweltschutz müssen meist die Arbeitsplätze herhalten, die angeblich verloren gingen.
Das ist ein Lügenmärchen. Eine menschen-, tier- und klimafreundliche Landwirtschaft ist sehr arbeitsintensiv. Da gäbe es genug Arbeitsplätze.
Unter den Forschern sind Sie ein Paradiesvogel, tragen statt eines weißen Kittels rund 150 Tattoos am Körper. Sind darunter auch Tier-Motive?
Jede Menge! Zum Beispiel ein Flusskrebs, das Stadtwappen von Cottbus. Der Frosch, der die Gullideckel in der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá ziert. Und der Autobahnfink, der früher für Sauberkeit auf westdeutschen Raststätten warb.
Ihr Buch beginnt mit einer Reverenz an den Comic-Zeichner Carl Barks, den Erfinder von Entenhausen. Sind Sie Donaldist — oder nur ein Spaßvogel?
Der Donaldismus arbeitet nach streng naturwissenschaftlichen Kriterien. Im Ernst! Die Beweise dafür, wie die Bewohnerinnen und Bewohner Entenhausens leben, sind sauber geführt.
Gurkenmurkser, Ostsibirischer Korjakenknacker – diese vermenschlichte Tierwelt steckt voller merkwürdiger Geschöpfe. Welches ist ihr liebstes?
Mein Barks’scher Superstar ist und bleibt der Indische Plaudervogel Cracula papperlapappa. Er wird vom Genuss zu vieler Pflaumen größenwahnsinnig.
Einige Thiere im Buch
Mops (Canis familiaris molossus fricator)
Alfred Brehm, Zoologe und Autor des im 19. Jahrhundert populären „Illustrirten Thierlebens“, hielt mit seiner Meinung nicht hinterm Berg. Manche Tiere konnte er einfach nicht leiden. Über den Hund mit der faltigen Stirn schrieb Brehm: „Der Mops ist dumm, langsam, phlegmatisch.“ Dabei haben die Tiere ein ganz anderes Problem.
Mit ihren großen Augen und dem winzigen Näschen erinnern sie an Babys und erfüllen, wie keine zweite Hunderasse, mit diesen Niedlichkeitskriterien das sogenannte Kindchenschema. Damit sind sie nicht nur Sinnbild der Vermenschlichung, sondern auch Opfer einer qualvollen Zucht. Denn hinter der Stupsnase steckt eine handfeste Missbildung des Schädels. Wenn also Möpse japsen und Französische Bulldoggen schnaufen, dann ist das keine freudige Erregung, sondern schlicht: Atemnot.
Leuchtkäfer (Lampyridae)
Kommt nicht oft vor, dass wir die Jugend der Art hypen. Bei den Leuchtkäfern haben wir eine eigene Bezeichnung fürs juvenile Stadium. Glühwürmchen sind die Larven des Leuchtkäfers, und wir nutzen das Wort der Einfachheit halber für die ganze Spezies. Vielleicht liegt das daran, dass wir Lightshows vor allem mit Heran wachsenden und ihren Vorlieben für glitzernde Clubs in Verbindung bringen.
Auf jeden Fall hat das Licht, mit dem die Insekten auf Brautschau dunkle Nächte erhellen, dieselbe Wellen länge wie die Polarlichter. Romantische Lichtorgeln lassen sich, so Biologe Benecke, am besten beobachten „von Mai bis September an Wiesen und Wäldern nahe Flussufern oder anderen schneckenreichen Geländen“. Allein ist man also nicht.
Alexandersittich (Psittacula eupatria)
Die aus Afrika, Indien und Asien stammenden grünen Edelpapageien lieben das Rheinland. Sie brüten in Höhlen, durchstreifen Parks, bevölkern die Düsseldorfer Nobelmeile „Kö“ und liefern den Sound der City für Köln. Dort wurden sie erstmals in den 1960er Jahren gesichtet. Der Kölner Biologe Mark Benecke zählt die Alexandersittiche zu seinen Lieblingstieren und sagt über sie: „Sie sind geschwätzig, verfressen, verschwenderisch und lebenslustig.“ Rheinische Frohnaturen eben, und, so Benecke: „passende Bewohner des wilden, verschwenderischen und völlig bekloppten Kölns“.
Homosexualität (homosexualis)
Dem Tierreich ist nichts Menschliches fremd, auch nicht die Neigung, das eigene Geschlecht verführerischer zu finden als das, mit dem man sich fortpflanzen kann. Gleichgeschlechtliche Paarungen wurden bei einigen Arten beobachtet. Zu den bekanntesten queeren Paaren gehören die Zügelpinguine Silo und Roy aus dem Zoo im New Yorker Central Park, die ein überzähliges Ei aus brüteten. Bei Tochter Tango wurde ein Interesse fürs Weibliche beobachtet. Welchen Sinn das hat, wollten wir von Mark Benecke wissen. Tiere, die sich nicht um eigenen Nachwuchs kümmern müssten, sprängen als Pflegeeltern ein, so wie Silo und Roy, oder übernähmen andere Aufgaben, die der Gemeinschaft zugute kommen. Sie seien so etwas wie die Tanten, Onkel und Paten des Tierreichs.
Tintenfisch (Coleoidae)
Wer hätte das ge dacht: Die mit Saug näpfen ausge statteten Arme sind nicht nur zum Fangen von Krebsen und Schnecken da, sondern eignen sich auch für den Landgang. Während seines Studiums erforschte Mark Benecke die Lernfähigkeit von Kopffüßlern. Ein Gläschen mit Leckereien aufzuschrauben ist eine ihrer leich testen Übungen. Ein Krake machte sich einen Spaß daraus, die Wissenschaftler an der Nase herum zuführen, und stahl des Nachts im Labor immer wieder mal Krebse. Dafür kletterte er aus seinem Bassin, lief zum Behälter mit den Futtertieren und mopste welche, obwohl er nicht mal Hunger hatte. Alles nur ein Spiel für das schlaue Weichtier, das aus Langeweile auch gern mal Tinte auf die Schreibtische der Forscherinnen und Forscher spritzte.
Hundeblick (vultus canis)
Irgendwie haben sie heraus gefunden, was uns zutiefst bewegt: ein verschämter Blick aus geduckter Körperhaltung mit leicht schräg gelegtem Kopf und hochgerollten Augen. Wenn sie den auf legen, verzeihen wir Hunden alles, selbst Missetaten, die sie nie begangen haben. Natürlich empfinden Hunde keine Scham. Aber sie lieben den Menschen und wollen es ihm recht machen. Und der liebt nun mal diesen Blick. Dass Herrchen und Frauchen da etwas hin eininterpretieren, kann den treuen Gefährten egal sein, solange der Augenaufschlag funktioniert. Schau mir in die Augen, Mensch!
Kat Menschik
Die Illustratorin hört gern Radio. Als Fan von Mark Beneckes Sendung bei Radioeins setzte sich die Berlinerin in den Kopf, gemeinsam mit dem Tierfreund vom Rhein das „schönste, schillerndste und überraschendste Tierbuch aller Zeiten“ herauszubringen. Dank des Reliefeinbands fühlt es sich auch noch richtig gut an.
Mark Benecke
Der Biologe liebt Tiere, trägt einige als Tattoos und würde nie welche essen. Als kriminalistischer Sachverständiger für biologische Spuren und Spezialist für Forensische Entomologie grenzt er Todeszeitpunkt und -ort ein – anhand von Fliegeneiern und -maden.