Kartoffelchips im Windkanal

Quelle: Die Zeit, Ausgabe 4/1995, Seite 40, den Artikel gibt es hier als .pdf

Von Mark Benecke

Wenn es um Konkurrenz geht, verläßt auch wissenschaftliche Spaßvögel der Humor

Gäbe es den Elfenbeinturm, in dem Naturwissenschaftler ihre geheimnisvollen Experimente durchführen, so würde albernes Gelächter daraus dringen. Grund dafür ist, mindestens alle zwei Monate, ein am angesehenen Massachusetts Institute for Technology (MIT) in Cambridge erscheinendes Journal. Die Herausgeber veröffentlichen ausschließlich wissenschaftliche Originalarbeiten, die unglaublich, unmöglich oder unwiederholbar sind. Forscher aus aller Welt, darunter zahlreiche Nobelpreisträger wie die Chemiker Dudley Herschbach und der vor kurzem verstorbene Linus Pauling, geben sich regelmäßig die Ehre, über sinnentleerte, aber (wirklich) durchgeführte Versuche zu berichten.

In der jüngsten Ausgabe der Annals of Improbable Research schildert ein kalifornisches Wissenschaftlerteam das Flugverhalten von Kartoffelchips. Die Forscher brachten verschiedene Chipssorten in einen riesigen kreisförmigen Windkanal ein und testeten deren Aerodynamik. Ergebnis: Das Knabbergut legte je nach Geschmacksrichtung und Alter Flugstrecken bis zweieinhalb Meter zurück; am weitesten flogen Pringles Chips der Geschmacksrichtung Sauerrahm & Zwiebeln.

Bei einer anderen Untersuchung wurden die Körpermerkmale des Sauriers »Barney« mit den Merkmalen anderer Tiere verglichen. Dabei zeigte sich, daß dieser Sauriertyp näher dem Menschen verwandt ist als verschiedenen urzeitlichen Echsenarten. Erstaunlich genug; denn Barney ist ein etwa halbmeterhohes Plüschmonster mit schiefem Grinsen, das einer amerikanischen Fernsehserie entsprungen ist.

Weitere Reports wie der über den Zusammenhang zwischen Kaufzeitpunkt und relativer Geschmacksgüte bei Schokoladencroissants oder über mikroskopisch kleine Würmer, die Hieroglyphennachrichten legen, gehören dabei keineswegs ins Reich der Phantasie. Mancher Doktorand, der Tage und Nächte in laborlicher Abgeschlossenheit verbracht hat, mag Dinge sehen, die dem Normalsterblichen nicht einfallen würden. Dies spiegelt zugleich das Dilemma vieler Forscher wieder, die ein derart spezielles Fachgebiet bearbeiten, daß sie selbst von ihren Kollegen nicht verstanden werden; eine Tendenz, die sich gerade in den molekularen Biowissenschaften mehr und mehr ausprägt. Hier hilft nur noch Galgenhumor, und dieser wird in den Annals of Improbable Research (AIR) sowie dem Journal of Irreproducible Results (JIR) ausgiebig zelebriert.

So veranstaltet das MIT zusammen mit den Annals of Improbable Research jährlich die Verleihung des »Ig Nobel«-Preises. »Ig« steht für Ignatius, der Vorname eines Forschers, der viel auf seine wissenschaftlichen Erkenntnisse gab und zufällig den gleichen Nachnamen wie der Dynamitbaron Nobel hatte. Ignatius Nobels größte Entdeckung war, laut MIT-Institutslegende, daß "zwei Sprudelwasserblasen niemals auf gleichem Wege aufsteigen".

Der Ig Nobelpreis für Medizin ging 1994 zu gleichen Teilen an einen Notarzt und dessen Patienten, der mit den Kabeln einer aufgeladenen Autobatterie einen Schlangenbiß an seiner Lippe unschädlich machen wollte. Folge: Schock, schwerste Verbrennungen und wochenlanger Krankenhausaufenthalt.

Auf der Preisverleihung traten Forscherinnen und Forscher spontan als chemische Elemente auf, z.B. "Charo als ihr Lieblingsalkalimetall, Element 19. Charo mag Kalium besonders wegen dessen Rolle bei der Nerven- und Muskelaktivität. Mit einer Ionisationsenergie von 100 Kilokalorien pro Mol ist Kalium genau das Richtige für herbstliche Tage", so der Conférencier. (Szenen wie diese sind für den tagungserprobten Naturwissenschaftler keine Seltenheit. Schon mancher Wochenendkongreß mit dutzenden sechsminütiger Vorträge endete im sogenannten Kongreßkoller, einer Salat- oder Puddingschlacht am abendlichen Buffet.)

Die beiden »Wissenschaftshumorjournale« (Eigenwerbung) AIR und JIR sind sich übrigens spinnefeind. Der Spaß endete im vergangenen Jahr, als sich der angesehene Blackwell Verlag, Stammhaus der Irreproducible Results, mit deren Herausgeber Marc Abrahams überwarf. Abrahams brachte es daraufhin fertig, nahezu alle Mitarbeiter des Magazins abzuwerben und zur Gründung eines neuen Journals, der Annals, zu bewegen. Seitdem herrscht eisige Funkstille zwischen den Parteien, nicht zuletzt, seit die beiden wichtigsten naturwissenschaftlichen Wochenzeitschriften Science und Nature über den Fall berichteten.

Der Kampf um die Gunst der Leser treibt nun skurrile Blüten: Die Annals etwa vertreiben als Service ein elektronisches Minijournal, das via Internet kostenlos angefordert werden kann und regelmäßig den neuesten Nonsens verbreitet (listserv@mitvma.mit.edu; der Anforderungstext lautet: subscribe mini-air Name des Bestellers).

Wie schmal der Grat tatsächlich ist, der im wissenschaftlichen Alltag zwischen Wahn und Witz verläuft, soll zuletzt der Yale-Biologe und Nobelpreisträger Sidney Altman illustrieren. Auf die in der jüngsten Nummer der AIR in einem Interview gestellte Frage, wieviele Glas Bier man "optimalerweise" trinken solle, antwortete er: "So etwas fragt nur ein typischer Nichtwissenschaftler. Wie soll man ohne Skala eine Untersuchung quantifizieren? Welche Sorte Biergläser meinen Sie? Gehen Sie zurück - in Ihr Labor."

Mit großem Dank an die Redaktion für die Erlaubnis zur Veröffentlichung.


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