(Sexuelle) Gewalt und Tötungskriminalität im forensischen Kontext | Bremen, 22.-23.05.2014
Von Mark Benecke
Obwohl die IFF-Arbeitstagung bald Traditions-Charakter hat, ist sie doch weder inhaltlich noch formell eingefahren. Die Tagungsleiter Prof. Luis Greuel (Rektorin der FHöV Bremen), Axel Petermann (OFA, LKA Bremen) und Dr. Axel Boetticher (ehemals Richter am BGH) sorgten für eine entspannte und diskussionsfreudige Atmosphäre und boten dem zum Platzen gefüllten Auditorium einen spannenden Themenbogen. Dr. Boetticher lieferte zum Fall Mollath die Einlassung des durchaus wahnhaften Mannes, der sich künftig für jede Befragung eine Kamera-Aufzeichnung, die Anwesenheit einer Vertrauensperson sowie unabhängige, wissenschaftlich objektiv arbeitende Gutachter wünscht. Dagegen kann eigentlich niemand etwas haben.
Der forensische Psychiater Prof. Jürgen Müller berichtete ergänzend und in Bezug auf Reformvorschläge des Justizministeriums unter anderem, dass man überlegen könne, ob StraftäterInnen, die aus strukturellen Gründen in der Forensik keine Therapie erhalten, schlichtweg entlassen werden müssten. Dies umso mehr, als mittlerweile wegen massiver Bettenstreichungen in der Allgemeinpsychiatrie sowie fehlender Wohngruppen die Hälfte der Insassen in der forensischen Psychiatrie Schizophrene seien. Eine Befristung der Aufenthaltsdauer habe allerdings zwei Schattenseiten. Erstens müsste man erst festlegen, ob man diese Befristung an der Gefährlichkeit, der Therapierbarkeit oder anderen Kriterien festmachen wolle. Zweitens, sei zu bedenken, dass für manche Menschen stabilisierende Effekte im Maßregelvollzug auftreten könnten, bei denen eine Befristung dann eher Schaden und eine für das seelische Wohl der Patienten zu frühe Entlassung bedeuteten. Dies gelte auch für eine mögliche Zwangsmedikation, die nicht nur als Zwang (so das Thema der Tagung), sondern auch als PatientInnen- Recht aufgefasst werden könne. Zudem verwies Müller auf die in der Öffentlichkeit zu wenig bekannte Resozialisierungsquote von Entlassenen aus der forensischen Psychiatrie.
Sexualmediziner Dr. Hartmut Bosinski gab einen sehr guten Überblick über die sogar vom Fachpublikum teils mit Unsicherheit aufgenommene Welt der Paraphilien, die schon vor der Pubertät auftreten, und deren teilweise Verknüpfung mit direkt aus der sexuellen Abweichung resultierenden Straftaten (Diebstahl bei Fetischisten, Hausfriedensbruch bei Voyeuren). Er zeigte zudem die Unterschiede zwischen sexualisierter Aggression und krankhaftem Sadismus auf und wies auf die — bisher unverstandene — teilweise Trieberhöhung bei beispielsweise manchen Pädophilen hin. Hier besteht offenbar noch Forschungsbedarf, da die Perversion zwar als “Plombe” (Mergenthaler) zu verstehen sei, aber deren Ursache und Genese nach wie vor im Dunklen liege.
Schizophrene Erkrankungen waren auch das Thema der Betrachtungen der bekannten forensisch-psychiatrischen Sachverständigen Dr. Nahlah Saimeh. Sie wies darauf hin, dass zehn Prozent der Tötungen in Deutschland von Schizophrenen begangen werden, wobei auch hier die Frage zu stellen sei, welchen Einfluss zusätzlich eigenommene, illegale Drogen spielen, die eine bis zu zwölf- fache Steigerung der Tötungshandlungen bewirken können (Kröber). Dennoch solle man scharf unterscheiden, ob es sich bei Schizophrenen im Einzelfall um anstrengende und lästige Mitmenschen handele oder um solche, die zu Gewalttaten neigen. Dies sei ohne gute Diagnose schwierig einzuschätzen, zumal gerade dissoziale Schizophrene von den KollegInnen der allgemeinen Psychiatrie nur ungerne behandelt werden würden. Ein sehr interessantes Detail für ErmittlerInnen dürfte es sein, dass die häufigsten Übergriffe durch (vorwiegend dissoziale?) Schizophrene dann geschehen würden, wenn ihnen Wünsche abgeschlagen werden.
Ungewöhnlich und eindrücklich war die Analyse der Kölner Psychotherapeutin Deniz Baspinar, die anhand von Motiven aus “Rotkäppchen”, darunter dem der Einverleibung, die Probleme des türkischen “Liebeszwanges” auf einer Art Zwischenebene von Symbolen und Bildern — auch anhand konkreter Fälle mit Erstickungsgefühlen und Angstzuständen beim Alleinsein — schilderte.
Prof. Greuel und Axel Peterman nahmen sich dann gemeinsam dem Feld der Zwangsprostitution an. Die neueste Schätzung der Vereinten Nationen gibt einen Gewinn (nicht Umsatz) im Bereich des Menschenhandels von 150 Mrd. USD an — eine unvorstellbare Marge, bei der allein 90 Mrd. USD aus dem Bereich der sexuellen Ausbeutung stammen. Der Gewinn pro gehandeltem Menschen wird auf 80.000 USD pro Jahr geschätzt, so dass dies eine außerordentlich lukrative Sparte des illegalen Handels darstellt. Greuels Fachgebiet der Glaubwürdigkeitsbewertung von Opferaussagen trifft nach ihrer Schilderung hier auf das Problem, dass ein detailliertes Durchexplorieren aller Fälle schwierig sei. Dies vor allem angesichts der hohen Freier-Zahl, typischer Erinnerungsveränderungen der traumatisierten Opfer, aber auch wegen ethischer Bedenken. Die Tatbestandsmerkmale des Menschenhandels seien aber unabhängig davon gedächtnispsychologisch leistbar und genügen zur Verfolgung des Straftatbestandes. Axel Petermann wies ergänzend unter anderem auf regelrechte Städtepartnerschaften zwischen deutschen und beispielsweise osteuropäischen MenschenhändlerInnen hin, welche zu einem je nach deutscher Stadt stark gehäuften Zwangszuzug aus solchen “Partner”städten gibt.