Quelle: Die Zeit (darin: "Wissen"), Ausgabe 29/2001 vom 12. Juli 2001, Seite 30
Von Mark Benecke
Die wachsende Gemeinde der Mastfreunde preist die tragisch verkannte Schönheit von Überlandkabelträgern.
"Der Definition nach", sagte kürzlich der in Computer-Betriebssysteme verliebte Theaterautor Klaus Fehling bei einer Zigarre in meinem Herrenzimmer, "bist Du auch ein Nerd". Das wunderte mich, denn Nerds sind laut Max Goldt eigentlich Menschen, die früher gerne auf dem elterlichen Küchentisch gelötet haben, heute an Rechnersoftware tüfteln, ihre Körper nicht richtig beherrschen und Sex für lästig halten. "Stimmt nicht ganz", meinte mein Gast. "Nerds sind vor allem Spezialisten für etwas, das sie ganz alleine, ohne die Hilfe anderer, beherrschen können."
So wie die Liebhaber von Überlandstromleitungsmasten. Obwohl sie grausamste Häme ertragen müssen und darüber sogar teils krank werden, wächst die Gemeinde der Fachleute in diesem nur scheinbar abgelegenen Feld. "Das hier ist die schlechte Internet-Seite aller Zeiten", schreibt ein verstörter Netz-Surfer den Pylon Lovers ins virtuelle Gästebuch, ein anderer meint hingegen sozialpädagogisch: "Im Grunde eine gute Sache. Ihr müsst aber sehr traurige Menschen sein". Ob Freund oder Feind, die Masten-Fans in Australien, England, der Türkei und anderswo stört das alles wenig. Sie gründen manchmal sogar Ortsgruppen, die sich vereinzelt zu gemeinsamen Ausflügen zusammenfinden. Das bleibt natürlich die Ausnahme, denn viele der einsamen Experten verlassen ihre Wohnung nur, wenn es wirklich sein muss -- das heißt, wenn sich eine spannende neue Stahlmast-Location herumspricht. Im Internet, versteht sich.
Wind und Wetter können die modernen Don Quixottes dann nicht mehr schrecken. Egal, ob die Sonne westlich von Izmir hinter einem "besonders gut isolierten Exemplar nahe eines Verteilerplatzes" untergeht oder der Sturm einen Mast des Typs "National Grid Company Plc ZX169" umbraust -- die Kamera ist schussberereit. Täglich wächst auf dieses Art die internationale Pylon-Freilicht-Fotosammlung im Netz. Selbst die phallische Beinote der in den Himmel ragenden Gerüste ist den Elektro-Nerds nicht entgangen, und daher muss ein vorbeisurfender Normalo hin und wieder seine Volljährigkeit und geistige Freiheit bestätigen, bevor er zu einer Sammlung schwarzweißer Closeups der stählernen Strukturen vorgelassen wird. Recht so. Dem echten Pylon Lover ist ein Stahlmast eben weit mehr als ein Hobby. "Es geht um einen Gegenstand, dessen Schönheit tragisch verkannt wird. Anders als die irregeleiteten Umweltschützer meinen, verschönern die erbaulichen Konstruktion nicht nur die Umwelt, sondern sind auch ein beruhigendes Zeichen dafür, dass die Menschheit den Kräften der Natur trotzt."
Es gibt auch Randgebiete der Masten-Liebhaberei. Als besonders wichtig haben sich dabei das Zählen von Stromkabelhaltern (electricity pylon number collecting) sowie Expertise in Isoliertechniken erwiesen. Der Fachgruppe der Isolatorenkenner gilt zur Zeit gerade ein besonders schickes Modell als Gipfel der Stromstoppkunst: Der pfirsichfarbene Peaches 'N Cream NIA 2001. Er wird exklusiv zur Isolatoren-Messe in Atlanta im Juli käuflich sein -- ein Geheimtipp für alle ZEIT-LeserInnen.
Apropos Farbe. Star aller Überlandmasten ist ein rosa angestrichener aus der Reihe ZP 226, der nordwestlich von Roachdale im britischen Ashworth-Moor steht. Nach monatelangen Diskussion mit spannenden Vorschlägen (Rostschutzanstrich? Gewollte Einbettung in die Farben der Landschaft? Digitale Fälschung der Fotos?) gab die Herstellerfirma National Grid Co. auf Nachfrage bekannt, dass es sich um eine Sonderanfertigung für die Dreharbeiten zum Kinofilm Among Giants mit den Stars Pete Postlethwaite and Rachel Griffiths in den Hauptrollen handelt. "So langsam färbt der Mast allerdings ab", bedauert der Inhaber der Pink Pylon Photo Gallery, "bald wird er wieder seine alte graue Farbe haben." Gut, dass es wenigstens den Kino-Film auf Video gibt -- Pflichtbesitz für die nesthockenden Nerds.
Ach ja, noch etwas. Sollten Sie Geschmack an Überlandkabelträgern finden, so beachten Sie die erste Regel der community: "Klettern Sie niemals auf Elektromasten. Sie könnten sich einen Stromschlag holen oder herunterfallen, oder beides. Oder auf dem Stacheldraht aufgespießt werden, der verhindern soll, dass Menschen auf die Masten klettern." Denn genau so gefällt es dem Nerd: Aus der Ferne beobachten -- und die eigene Kauzigkeit genießen.
Mit großem Dank an die Redaktion für die Erlaubnis zur Veröffentlichung.