Wir lassen die Spuren sprechen

Quelle: Focus Echte Verbrechen # 2 (Sommer 2020), Seiten 75—77

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Warum Wissen über Brechbohnen bei der Aufklärung helfen kann und was Spider-Man mit seiner Karriere zu tun hat, darüber hat der Kriminalbiologe Mark Benecke mit Anja Goerz gesprochen.

Mark Benecke trifft Serienmörder, hilft Angehörigen bei der Aufklärung von Tathergängen, arbeitet mit der Kriminalpolizei und ausländischen Ermittlungsbehörden zusammen. Als Spezialist für forensische Entomologie ist der promovierte Biologe Deutschlands erster und einziger öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger für biologische Spuren in Kriminalfällen.

Wenn man weiß, dass Sie schon als Kind gerne ausführlich experimentiert haben, fragt man sich, wie Ihre Eltern das betrachtet haben?

Die haben uns immer wurschteln lassen. Es gab so ein Buch, das hatte ich, das hieß „Garantiert ungefährliche Experimente“. Wenn man damit heute in die Apotheke ginge, würden die die Polizei rufen. Es hat mal komisch gerochen oder es ist mal ein Loch irgendwo reingebrannt, aber das war es auch schon.

Warum hat Spider-Man bzw. Peter Parker damit zu tun, dass Sie Biologie studiert haben?

Als Kind habe ich mal geträumt, dass Peter Parker an unserer Siedlung vorbei rauscht. Da dachte ich: Ich lese das die ganze Zeit, ich mag Naturwissenschaften wie Peter Parker, der im Comic Biochemie studiert. Ich wusste, das kann kein Zufall sein.

Sie haben sich während des Studiums schon sehr für Maden und Fliegen interessiert, aber der Zusammenhang zwischen Biologie und Genetik war da noch nicht so verbreitet in der Wissenschaft, oder?

Zumindest in der klassischen Botanik und Zoologie war das total unüblich. In der Rechtsmedizin habe ich ein Praktikum gemacht und genetische Fingerabdrücke gelernt. Diese neue Technik habe ich dann in die Zoologie gebracht.

Mein Chef hat zum Glück zugestimmt und mir erlaubt, die verschiedenen Fadenwürmer auseinanderzuhalten – die sahen unter dem Mikroskop alle gleich aus und verhielten sich auch alle gleich. Also für mich war so eine Aufgabe vergleichbar mit einem Kind, das mit 500 Euro in einen Süßigkeitenladen darf.

Seit der Bundesgerichtshof 1999 entschieden hat, dass DNS-Untersuchungen bei Prozessen verwertet werden dürfen, hat sich für Sie dadurch etwas verändert?

Nein, für mich war das total normal. Ich kenne noch die Leute aus der ersten Generation meines Faches, zum Beispiel Alec Jeffreys, der die genetischen Fingerabdrücke erfunden hat. Damals wurde auch die Vervielfältigungstechnik für Erbsubstanz erfunden. Dafür gab es sogar einen Nobelpreis. In meiner Welt kriegt aber keiner einen Preis, ich arbeite wie ein Werftarbeiter, der die Schrauben eindreht. Nachher ist es vielleicht das schnellste Schiff der Welt, aber du bist nur der, der die Schrauben eingedreht hat.

Sie haben lange in New York im Chief Medical Examiner Office gearbeitet, auch auf der sogenannten Bodyfarm in Tennessee, haben den kolumbianischen Kinder-Serienmörder Garavito kennengelernt, weil Sie nachvollziehen wollten, wie Mörder ticken. Hat es je einen Moment gegeben, in dem Sie gedacht haben: Das wird mir jetzt ein bisschen zu viel?

Die ersten 15 Jahre haben wir hier im Labor nur gearbeitet und nichts verdient. Es ist eigentlich immer zu viel, seit 25 Jahren, aber so ist das eben, und du weißt eben nie vorher, was später wichtig wird.

Das Geheimnis im Offensichtlichen entdecken ist Ihre Aufgabe, haben Sie in Ihrer Biografie geschrieben, was bedeutet das?

Wir sehen immer etwas, was andere nicht sehen. Es gibt keinen spurenfreien Fall. Die Ideen kommen aber nicht nur von uns im Labor, sondern auch von den Angehörigen und der Polizei. Wir reden viel mit den Angehörigen, um herauszukriegen, was ist die Frage, die hinterher vor Gericht wichtig ist.

Diese Menschen können auch damit leben, wenn die wissen, wer der Täter ist, auch wenn der bei denen um die Ecke wohnt. Sie haben keine Rachefantasien, das ist längst vorbei. Man muss in eine radikale Akzeptanz gehen, einsehen, dass nicht mehr zu ändern ist, was passiert ist, und sein Leben weiterführen. Dazu muss man aber genau wissen, was passiert ist. Das versuchen wir zu klären.

Es gibt einen Fall, bei dem es vor allem um das Zuhören ging. Da sind Eltern zu Ihnen gekommen, die Zweifel am Selbstmord ihres Sohnes hatten. Was haben die erzählt?

Sie haben gesagt, unser Sohn kann sich nicht selbst umgebracht haben, da ist so vieles merkwürdig. Er jobbt im Ausland und ruft jeden Tag zur gleichen Zeit an, nun soll er sich besoffen von der Brücke gestürzt haben. Laut Polizei sei der Mann barfuß durch klirrende Kälte gerannt, habe seine Matratze ins Flussbett geworfen und sei hinterher gesprungen. Außerdem hätte er sein Portemonnaie im offenen Auto liegen gelassen.

Und dann haben die Eltern auch noch berichtet, dass Blut im Zimmer ihres Sohnes gefunden worden sei?

Ja, und ein Blutschnelltest in diesem Zimmer hat ergeben, dass Blut geflossen ist. Da konnte man also davon ausgehen, dass der Mann verletzt war, vielleicht sogar hier umgebracht wurde. Die Eltern haben dann eine Leichenausgrabung beantragt, und Kollegen haben Knochenscharten gefunden.

Das sind Verletzungen, die vor dem Tod zum Beispiel durch Messerstiche verursacht werden. Daraufhin hat man den angeblichen Selbstmord oder Unfall dann doch noch mal neu aufgerollt.

Können Sie das Emotionale immer von der Profession trennen?

Ja, wir haben das gefühlsmäßig im Team alle im Griff. Ich weiß nicht, warum das so ist. Ich kenne Polizistinnen und Polizisten, die erwischt es manchmal. Zum Beispiel bei einem Unglück, bei dem niemand mit Absicht etwas Böses gemacht hat, aber das reißt ihnen die Beine weg. Die gehen dann in andere Abteilungen oder lassen sich in eine andere Stadt versetzen.

Aber Sie sind Veganer geworden, nach einer Tatortbegehung, stimmt das?

Ich habe mit wirbellosen Tieren gearbeitet, und gesetzlich ist das so – außer bei Tintenfischen –, dass man mit denen machen kann, was man will. Gefällt mir nicht. Das sind nämlich auch Persönlichkeiten.

Vielleicht kann ich das mit einem Beispiel erklären: Es gibt einen Film einer Tierschutzorganisation, in dem man sich mit einer 3-DBrille die Schlachtung von Tieren auf einem sehr sauberen und gut geführten Schlachthof ansehen kann. Ich fotografiere gerne mal Leute, wenn sie die Brille absetzen, die haben eine Mini-Posttraumastörung danach.

Mein Verhältnis zu Lebewesen war schon immer friedlich und ich war Vegetarier. Dann kam dieser Tatort dazu, bei dem durch wahllose Gewalt ein Körper geschädigt wurde und sehr viel Blut im Raum war. Da hat es mir dann gereicht.

Haben Sie eine Erklärung dafür, warum Menschen so gerne über Mord und Totschlag mehr erfahren wollen?

Erstens: Jeder rätselt gerne. Der zweite Grund ist, ein Serienmörder macht das eigene Erlebnis kleiner. Eine Geschichte über einen Massenmörder gibt einem die Möglichkeit zu sagen: Der Mörder war ein Monster, und mein Onkel, der mich regelmäßig missbraucht hat, war nicht ganz so schlimm.

Sie sind IMMER im Dienst – zum Beispiel im Supermarkt damit beschäftigt zu gucken, ob Avocado gerade angesagt ist, weil das bei einer Magenuntersuchung mal entscheidend sein könnte, hilft das wirklich bei Ihrer Arbeit?

Ja klar. Wir untersuchen manchmal den Mageninhalt von Leichen. Da ist es gut, wenn man über Lebensmitteleigenschaften Bescheid weiß. Zum Beispiel hatten wir mal einen Fall mit Bohnen, die haben so Fäden an ihren Hülsen. Hat man dann im Magen einen Faden, dann weiß man ja nicht sofort, ist das ein Haar oder ein Bindfaden. Da ist es gut, dass man um die Eigenschaft von Bohnen weiß, um auch so einen Bohnenfaden in Betracht zu ziehen und näher anzusehen.

„Nichts ist so wichtig wie Kleinigkeiten“ ist ein Sherlock-Holmes-Zitat, das Ihr Lebensmotto sein könnte, stimmt das?

Bei uns ist ja kein rosa blinkender Pfeil, der uns den Weg weist. Die Superschwäche unseres Teams ist, dass wir den sozialen Zusammenhang uninteressant finden. Unsere Superstärke ist, dass wir uns nicht belabern lassen, von Leuten, die uns erklären wollen, wie die Welt läuft und was normal ist. Wir hören zu und lassen dann die Spuren sprechen.

Den Podcast zum Interview mit Mark Benecke finden Sie ab 11. August im Netz unter: http://www.echte-verbrechen.de.

Zur Person

Mark Benecke, 49, promovierter Forensiker, wird seit einem seiner ersten Fälle auch „Der Madendoktor“ genannt. Der überzeugte Veganer ist Kriminalbiologe, Spezialist für forensische Entomologie und Politiker. Mit seinem Wissen über Kleinstlebewesen auf Leichen und Verwesungsprozesse begeistert er auch die Besucher seiner Veranstaltungen auf der ganzen Welt. Mehr über sein Leben erzählt er im Buch „Mein Leben nach dem Tod: Wie alles begann“, erschienen bei Lübbe.


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